OGH 10ObS49/24i

OGH10ObS49/24i9.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Vollmaier sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Nicolai Wohlmuth (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch den Erwachsenenvertreter B*, dieser vertreten durch Dr. Harald Friedl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 22. März 2024, GZ 7 Rs 20/24 y‑30, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00049.24I.0709.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen wiesen das auf Gewährung eines die Pflegestufe 3 übersteigenden Pflegegeldes ab 1. 1. 2023 gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht verneinte unter anderem die in der Berufung von der Klägerin behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz in Folge einer Verletzung der Verpflichtung zur amtswegigen Stoffsammlung sowie in diesem Zusammenhang gerügte rechtliche Feststellungsmängel des Ersturteils. Auch der weiteren Argumentation der Klägerin, die Beklagte habe im Verfahren eine notwendige Betreuungsleistung für die Verrichtung der Notdurft im Ausmaß von 30 Stunden monatlich zugestanden, schloss sich das Berufungsgericht nicht an und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[2] In ihrer außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

Rechtliche Beurteilung

[3] 1. Der geltend gemachte Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft; er liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[4] Vom Berufungsgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz können in dritter Instanz – auch in Sozialrechtssachen (RS0043061) – nicht mehr geltend gemacht werden (RS0042963; RS0043919; RS0106371). Zwar kann das Rechtsmittelverfahren selbst mängelbehaftet sein, wenn sich das Gericht zweiter Instanz mit der Mängelrüge nicht befasst (RS0042963 [T9]; RS0040597 [T4]) oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verwirft (RS0042963 [T28]; RS0043086 [T5]). Dies ist jedoch hier nicht der Fall.

[5] Das Berufungsgericht hat sich mit den in der Berufung geltend gemachten Verfahrensmängeln inhaltlich auseinandergesetzt und ist der Kritik der Klägerin nicht gefolgt. Nur als Hilfsbegründung hat das Berufungsgericht auf die nicht hinreichende Darlegung der Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel verwiesen. Die Bekämpfung dieser Hilfsbegründung allein kann aber keine erhebliche Rechtsfrage aufwerfen (RS0118709 [T1, T4]). Auf die Argumentation dazu ist daher nicht näher einzugehen.

[6] 2. Es trifft zwar im Ausgangspunkt zu, dass die Verletzung der Pflicht des Gerichts, im sozialgerichtlichen Verfahren selbst alle Tatsachen von Amts wegen zu erwägen und zu erheben, die für die begehrte Entscheidung erforderlich sind, und die zum Beweis dieser Tatsachen notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen (§ 87 Abs 1 ASGG), nicht nur einen Verfahrensmangel begründet; wenn nach dem Inhalt der Prozessakten dem Berufungsgericht erheblich erscheinende, also entscheidungswesentliche Tatsachen nicht festgestellt wurden, so kann dies zu einer im Rahmen der Rechtsrüge geltend zu machenden und in deren Erledigung wahrzunehmenden Unvollständigkeit der Sachgrundlage führen (RS0042477). Die Verpflichtung zur amtswegigen Beweisaufnahme sowie zur darauf aufbauenden Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage besteht allerdings nur in Bezug auf Umstände, für deren Vorliegen sich aus den Ergebnissen des Verfahrens Anhaltspunkte ergeben. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Akts Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung einzubeziehen (RS0086455; RS0042477 [T6]). Das Gericht ist hingegen nicht verpflichtet, sein Verfahren auf alle denkbaren gesundheitlichen Einschränkungen zu erstrecken, für deren Vorliegen keine ausreichenden Hinweise bestehen (RS0042477 [T4, T7]).

[7] Ob die Voraussetzungen für weitere Erhebungen zu bestimmten entscheidungswesentlichen Tatumständen vorliegen, hängt stets von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab, und begründet damit im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage (vgl 10 ObS 79/11g).

[8] Wenn das Berufungsgericht zur Auffassung gelangte, dass im Verfahren keine Anhaltspunkte dafür zu Tage getreten seien, dass die Klägerin bei der Handhabung und Reinigung ihrer Hörgeräte sowie bei der Verabreichung von Insulin einer ins Gewicht fallenden Hilfestellung bedarf, zumal aus dem eingeholten medizinischen Gutachten hervorgehe, dass die Beweglichkeit der oberen Extremität der Klägerin unauffällig sei, so liegt darin keine aufzugreifende Fehlbeurteilung.

[9] 3. Die von der Klägerin relevierte Frage, ob die Beklagte bereits im Rahmen ihres Bestreitungsvorbringens in erster Instanz einen notwendigen Betreuungsaufwand bei der Verrichtung der Notdurft von 30 Stunden pro Monat zugestanden hat, stellt sich schon deshalb nicht, weil das Erstgericht zu dieser Frage Beweise aufgenommen und darauf aufbauend Urteilsfeststellungen getroffen hat, aufgrund derer es einen erheblich geringeren als den von der Beklagten angenommenen Pflegebedarf gefolgert hat.

[10] Es trifft zwar zu, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zugestandene Tatsachen grundsätzlich als wahr anzunehmen und der Entscheidung zugrunde zu legen sind (RS0039949; RS0040110 [T1]). Nach der Rechtsprechung bindet aber insbesondere ein Tatsachengeständnis, dessen Unrichtigkeit aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse eindeutig erwiesen ist, das Gericht nicht (RS0040085), soll doch der Richter nicht gezwungen werden, sehenden Auges auf amtsbekannt unwahrer Grundlage zu urteilen (6 Ob 313/97s; 1 Ob 80/17x ua). Wenn das Gericht trotz zugestandener Tatsache Beweise aufnimmt und Feststellungen trifft, die mit dem Geständnis unvereinbar sind, so liegt darin nach einem Teil der Rechtsprechung kein Verfahrensmangel (17 Ob 19/11k mwN) und nach einem anderen Teil zwar ein Verfahrensmangel, der aber nicht erheblich ist (RS0039949 [T7]). Der Widerspruch zwischen dem Geständnis und der gegenteiligen Überzeugung des Gerichts wird daher durch den Vorrang der vom Gericht getroffenen Feststellung aufgelöst (10 ObS 116/14b ErwGr 5.7.).

[11] 4. Schließlich hat das Berufungsgericht auch nicht das Berufungsvorbringen zum erhöhten Betreuungsbedarf in Zusammenhang mit der Reinigung bei Inkontinenz missverstanden, sondern der Klägerin sinngemäß entgegengehalten, aus dem festgestellten Übergewicht und der fehlenden Beweglichkeit der Klägerin lasse sich nicht gleichsam schematisch ein über den Richtwert nach § 1 Abs 3 EinstV hinausgehender zeitlicher Betreuungsbedarf für die Reinigung folgern, der so erheblich vom Pauschalwert abweicht, dass er Berücksichtigung finden muss (vgl dazu RS0053147 [insb T6]; weiters RS0058292). Aus einem festgestellten Leiden ließen sich schon deshalb keine Schlussfolgerungen ableiten, weil der Umfang der Einschränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit je nach Schweregrad des Leidens ganz unterschiedlich sein könne. Entscheidend sei daher nur die konkrete Feststellung zum Umfang der Beeinträchtigung auf Basis der gutachterlichen Beurteilung des medizinischen Sachverständigen. Der Umstand, dass das Berufungsgericht angesichts der im Verfahren zusammengetragenen Beweisergebnisse und des darauf aufbauenden Urteilssachverhalts keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür sah, dass sich die Reinigung der Inkontinenz bei der Klägerin im Vergleich zum Regelfall so außerordentlich beschwerlich gestaltet, dass eine nähere Ermittlung und Feststellung des Umfangs des dafür benötigten Betreuungsaufwandes geboten erschiene (RS0053147 [T1]), begegnet keinen Bedenken.

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