OGH 3Ob58/24m

OGH3Ob58/24m3.7.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D*, vertreten durch Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei V* AG, *, vertreten durch Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, wegen 7.470 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Berufungsgericht vom 4. Jänner 2024, GZ 2 R 113/23b‑37, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Kirchdorf an der Krems vom 30. August 2023, GZ 1 C 218/20s‑32, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00058.24M.0703.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung lautet:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 1.245 EUR samt 4 % Zinsen seit 19. April 2021 zu zahlen.

Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 6.225 EUR samt 4 % Zinsen seit 19. April 2021 zu zahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.901,80 EUR (darin 478,73 EUR an 19%iger USt) bestimmten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens, die mit 747,47 EUR (darin 152,43 EUR an 19%iger USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 395,57 EUR (darin 104,58 EUR an 19%iger USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger erwarb am 19. April 2013 einen von der Beklagten hergestellten, mit dem Dieselmotortyp EA189 ausgestatteten VW Passat um 24.900 EUR. Das Fahrzeug war am 15. Juni 2012 erstmals zum Verkehr zugelassen und hatte beim Ankauf durch den Kläger eine Laufleistung von rund 25.000 km. Es hatte bereits bei seiner Auslieferung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG ; das von der Beklagten entwickelte Software-Update wurde bei diesem Fahrzeug nicht aufgespielt. Das Fahrzeug weist ein sogenanntes „Thermofenster“ auf, sodass bei Temperaturen von unter 10 Grad Celsius nur noch eine reduzierte Abgasrückführung erfolgt und diese ab 7 Grad Celsius der Umgebungsluft deutlich reduziert ist. Bei Kenntnis von der Abschalteinrichtung und/oder dem Thermofenster hätte der Kläger das Fahrzeug nicht zum vereinbarten, sondern nur zu einem niedrigeren Preis gekauft. Am 18. September 2021 verkaufte der Kläger das Fahrzeug mit einer Laufleistung von rund 220.000 km privat an einen Dritten für 6.000 EUR; zu diesem Zeitpunkt lag der Händler-Wiederbeschaffungswert dieses Fahrzeugs bei 9.700 EUR. Zwischen Fahrzeugen mit eingespieltem und ohne Software-Update besteht kein Preisunterschied; auf dem Gebrauchtwagenmarkt hat sich für Fahrzeuge mit einem solchen Dieselmotor zu keinem Zeitpunkt eine spezielle Preisreduktion ergeben. Der Preisunterschied zwischen privatem Verkauf und Händler-Wiederbeschaffungswert ergibt sich durch das Einpreisen der Gewährleistungsrisiken des Händlers.

[2] Der Kläger begehrte von der Beklagten (zuletzt) Zahlung von 7.470 EUR samt 4 % Zinsen seit 19. April 2021. Er habe durch den Erwerb des fehlerhaften, überteuerten Fahrzeugs einen Schaden in der Höhe von 30 % des Kaufpreises erlitten. Der zwischenzeitliche Verkauf ändere daran nichts. Die Beklagte habe vorsätzlich rechtswidrig und schuldhaft Fahrzeuge in Verkehr gebracht, die weder typengenehmigungs- noch zulassungsfähig gewesen seien. Der EuGH habe inzwischen klargestellt, dass für den Verstoß gegen EU-Bestimmungen wirksame Sanktionen vorgesehen werden müssten. Der Kläger habe erst am 3. April 2020 von der temperaturabhängigen unzulässigen Abschalteinrichtung Kenntnis erlangt; sein Anspruch sei daher nicht verjährt.

[3] Die Beklagte wendete – soweit im Revisionsverfahren noch relevant – ein, selbst bei Annahme einer Unzulässigkeit des sogenannten Thermofensters treffe die Beklagte kein Verschulden, weil dieses vom KBA als zuständiger Behörde nicht beanstandet worden sei und die Beklagte darauf vertraut habe, dass es dem Stand der Technik entspreche. Der Kläger habe keinen Schaden erlitten und überdies das Fahrzeug bereits weiterverkauft, was zumindest als Vorteilsausgleich zu berücksichtigen sei.

[4] Das Erstgericht wies die Klage ab.

[5] Der Kläger habe keinen Nachteil in seinem Vermögen erlitten. Einen eigenen Schadensbegriff normiere die VO 715/2007/EG nicht, weshalb das Klagebegehren nicht berechtigt sei.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung.

[7] Im Fall des Erwerbs eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung bestehe der Schaden in der objektiv eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit und nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung habe der EuGH den Eintritt eines Schadens beim Erwerber schon allein aufgrund des Kaufvertrags bejaht. Im Fall des Weiterverkaufs des Fahrzeugs vor Schluss der Verhandlung erster Instanz zu einem marktüblichen Preis habe der Oberste Gerichtshof zu 9 Ob 33/22a jedoch angenommen, dass sich ein allenfalls mit dem Ankauf entstandener Schaden letztlich nicht realisiert habe. Da sich aus dem Sachverhalt kein ersatzfähiger Schaden des Klägers ergebe, sei die Klage abzuweisen.

[8] Die Revision sei zulässig, weil noch keine gesicherte Rechtsprechung zu Ersatzzahlungen nach Weiterverkauf des Fahrzeugs und zur Bandbreite von 5 % bis 15 % des Kaufpreises vorliege und in Anbetracht der Vielzahl ähnlicher Verfahren eine Klarstellung geboten sei.

[9] Gegen die Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung im klagestattgebenden Sinn abzuändern, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision ist zulässig und nach zwischenzeitig ergangener Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auch teilweise berechtigt.

[12] 1.1 Dass nach wie vor eine unzulässige Abschalteinrichtung im Motor des von der Beklagten hergestellten Fahrzeugs besteht (dazu etwa 9 Ob 18/24y mwN), ist nunmehr unstrittig, weshalb sich Erörterungen dazu erübrigen (vgl RS0043352 [T30]). Damit ist grundsätzlich von einer Haftung der Beklagten dem Grunde nach infolge Verletzung eines unionsrechtlichen Schutzgesetzes auszugehen. Die Abweisung des gesamten Klagebegehrens mit der Begründung, dass der Kläger wegen des Weiterverkaufs des Fahrzeugs zum angemessenen Marktpreis keinen Schaden in seinem Vermögen erlitten habe, weicht von der neueren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab.

[13] 1.2 Der 9. Senat ist von seiner zu 9 Ob 33/22a vertretenen Auffassung, die das Berufungsgericht für seine Begründung heranzog, in seiner Entscheidung zu 9 Ob 2/23v (insb Rn 20) ausdrücklich abgegangen. Er hat dies unter Bezugnahme auf die Entscheidungen 10 Ob 2/23a (Rz 22) und 10 Ob 27/23b (Rz 25) sowie des EuGH (C‑100/21 , QB gegen Mercedes‑Benz Group AG, Rn 84) im Wesentlichen damit begründet, dass im Fall des Erwerbs eines mit einer im Sinn des Art 5 VO 715/2007/EG unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs der Eintritt eines objektiv‑abstrakt zu ermittelnden Schadens allein aufgrund des Kaufvertrags erfolgt und in der (objektiv) eingeschränkten Nutzungsmöglichkeit liege. Diese Unsicherheit über die Nutzungsmöglichkeit zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags sei nach den Vorgaben des EuGH als europarechtlich relevanter Schaden anzusehen und zwar auch in Fällen, in denen das Fahrzeug bereits verkauft wurde. Steht fest, dass das Fahrzeug bereits verkauft wurde, ohne dass ein daraus resultierender Schaden erweislich ist, ist dies (nur) im Rahmen der Bandbreite des zu bemessenden Ersatzbetrags zu berücksichtigen (5 Ob 33/24z mit Hinweis auf 9 Ob 2/23v [Rz 25]).

[14] 1.3 Zusammengefasst kann daher nach der neueren höchstgerichtlichen Rechtsprechung auch im Fall des erstmaligen Weiterverkaufs des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung der Ersatz des Minderwerts im Rahmen der zuvor bezeichneten Bandbreite zustehen (5 Ob 33/24z = RS0134498 [T13]; 9 Ob 2/23v = RS0134498 [T8]).

[15] 2.1 Der Kläger, der – wie hier – das Fahrzeug bei Kenntnis des Vorliegens einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach Art 5 VO 715/2007/EG nicht zum vereinbarten Kaufpreis erworben hätte, ist nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung neben dem Anspruch auf Rückabwicklung auch zur Geltendmachung eines Minderwerts des mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs berechtigt. Bei der Ermittlung des Ersatzanspruchs der Höhe nach sind primär die unionsrechtlichen Anforderungen an die Ersatzleistung zu beachten: Aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben, wonach die Sanktionen für Verstöße gegen die Vorschriften der VO 715/2007/EG wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen und nationale Vorschriften dem Erwerber die Erlangung eines angemessenen Schadenersatzes nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, ist jedenfalls ein angemessener Schadenersatzbetrag zu gewähren, der primär nach unionsrechtlichen Anforderungen im Sinn des § 273 Abs 1 ZPO innerhalb einer Bandbreite von 5 % (aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität als Untergrenze) und 15 % (aus Gründen unionsrechtlicher Verhältnismäßigkeit als Obergrenze) des Kaufpreises festzusetzen ist (10 Ob 46/23x mwN; vgl auch RS0134498).

[16] 2.2 Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass der vom Kläger begehrte Ersatz im Ausmaß von 30 % des Kaufpreises weit überhöht wäre, weil der Kläger in den acht Jahren zwischen dem Ankauf des Fahrzeugs und dem privaten Verkauf rund 200.000 km (und damit rund 80 % der maximalen Laufleistung von 250.000 km) zurücklegte. Daher hat sich – ähnlich wie in dem der Entscheidung zu 3 Ob 219/23m zugrunde liegenden Fall – der Ersatz des Minderwerts im unteren Bereich der Bandbreite zu bewegen und er wird daher mit (nur) 1.245 EUR festgesetzt.

[17] 2.3 Dem von der Beklagten erhobenen Einwand der Vorteilsanrechnung ist entgegenzuhalten, dass – wie dargelegt – der bereits mit dem Erwerb des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung beim Käufer eingetretene Schaden objektiv‑abstrakt zu ermitteln ist. Damit kommt aber eine Vorteilsanrechnung, die grundsätzlich eine subjektiv-konkrete Schadensberechnung voraussetzt, hier nicht in Betracht (vgl 3 Ob 219/23m = RS0134498 [T12]; 5 Ob 33/24z, je mwN).

[18] 2.4 Den Zinsenlauf hat die Beklagte nicht beanstandet. Ebenso wird die in erster Instanz von der Beklagten eingewendete Verjährung im Rechtsmittelverfahren nicht mehr konkret aufgegriffen. Nach der Aktenlage hat sich der Kläger im Übrigen dem gegen die Beklagte erhobenen deutschen Musterfeststellungsverfahren angeschlossen (zur Unterbrechungswirkung für die Verjährung der Ansprüche der Fahrzeughalter ausführlich 3 Ob 198/23y mwN); der hier innerhalb eines Monats nach der Beendigung des deutschen Verfahrens vom Kläger erhobenen Klage hätte die Beklagte daher einen Verjährungseinwand jedenfalls nicht erfolgreich entgegenhalten können.

[19] 3. Infolge Abänderung der Urteile der Vorinstanzen ist eine neue Kostenentscheidung zu treffen. Diese beruht hinsichtlich des erstinstanzlichen Verfahrens auf § 43 Abs 1 ZPO und hinsichtlich des Rechtsmittelverfahrens auf § 43 Abs 1 iVm § 50 ZPO.

[20] In erster Instanz hat der Kläger bis zur Einschränkung seines Feststellungsbegehrens nur zu rund 13 % obsiegt und im zweiten Verfahrensabschnitt nach der Einschränkung zu rund 17 %. Die Beklagte hat daher Anspruch auf 74 % ihrer Verfahrenskosten im ersten Verfahrensabschnitt (das sind 1.513,13 EUR zuzüglich 287,49 EUR an 19%iger USt) sowie auf 66 % im zweiten Verfahrensabschnitt (das sind – nach der im Rechtsmittelverfahrens nicht beanstandeten Reduktion um die Kosten des schriftlichen ergänzenden Vorbringens vom Juni 2023 über Einwendung des Klägers – netto 1.006,53 EUR zuzüglich 191,24 EUR an 19%iger USt, daher 1.197,77 EUR), insgesamt also 2.998,39 EUR. Davon waren die dem Kläger zu ersetzenden 13 % der Pauschalgebühr für die Klage (Barauslagen von 96,59 EUR) in Abzug zu bringen.

[21] Im Berufungs- und Revisionsverfahren war der Kläger jeweils ebenfalls (nur) zu rund 17 % erfolgreich, weshalb die Beklagte ihm 17 % der Pauschalgebühren (207,23 EUR für die Berufung und 259,42 EUR für die Revision) zu ersetzen hat und der Kläger seinerseits der Beklagten zum Ersatz in der Höhe von jeweils 66 % der Kosten der Berufungsbeantwortung (802,27 EUR zuzüglich 152,43 EUR an 19%iger USt, daher 954,70 EUR) und der Revisionsbeantwortung (550,41 EUR zuzüglich 104,58 EUR an 19%iger USt, daher 654,99 EUR) verpflichtet ist. Die anteilig dem Kläger je zu ersetzenden Barauslagen wurden jeweils vom Kostenersatzanspruch der Beklagten für ihre Rechtsmittelbeantwortungen in Abzug gebracht.

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