OGH 2Ob63/24i

OGH2Ob63/24i25.6.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowiedie Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G*, vertreten durch Dr. Thomas Herzog und Mag. Barbara Loipetsberger, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, gegen die beklagten Parteien 1. R*, und 2. O*,beide vertreten durch Dr. Otto Urban, Mag. Andreas Meissner und Mag. Thomas Laherstorfer, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, wegen 17.340 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 1. Februar 2024, GZ 1 R 189/23d‑52, mit welchem das Urteil des Landesgerichts Wels vom 30. Oktober 2023, GZ 3 Cg 68/22t‑46, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00063.24I.0625.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird teilweise bestätigt, sodass es als Teilurteil lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 2.340 EUR samt 4 % Zinsen seit 24. 12. 2021 zu zahlen, wird abgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.“

Hinsichtlich des darüber hinausgehenden Zahlungsbegehrens von 15.000 EUR samt 4 % Zinsen seit 24. 12. 2021, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 25. 8. 2021 fuhr der Erstbeklagte mit dem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Traktor samt Anhänger am Güterweg Buchberg mit einer Geschwindigkeit von ca 20 km/h in Richtung Aurach am Hongar. Dieser Güterweg mündet im Winkel von ca 45 Grad in den Güterweg Kasten, auf dem F* mit seinem E‑Bike mit nicht mehr als 25 km/h ebenfalls in Richtung Aurach am Hongar fuhr. Im Kreuzungsbereich befindet sich eine dreieckige Grünfläche mit einem Baum, dessen Stamm einen Durchmesser von 30 cm hat. Der Erstbeklagte nahm das am Güterweg Buchberg angebrachte Vorschriftszeichen „Vorrang geben“ wahr, fuhr aber dennoch in den Güterweg Kasten ein, sodass es zu einer Kollision kam, bei welcher F* tödliche Verletzungen erlitt.

[2] Der Erstbeklagte hätte F* bereits 9,1 Sekunden vor der Kollision mit einem Blick nach links über das Seitenfenster seines Traktors sehen können. Wenn der Erstbeklagte 3,4 Sekunden vor der Kollision nach links geblickt hätte, hätte er seinen Traktor ohne Weiteres vor dem Güterweg Kasten zum Stillstand bringen können. Erst später wurde der Radfahrer für 0,1 Sekunden vom Stamm des Baumes teilweise verdeckt. 2,3 Sekunden vor der Kollision war der Baum nicht mehr sichtbehindernd, wobei der Erstbeklagte seinen Traktor auch dann noch unfallverhütend abbremsen hätte können.

[3] Die Klägerin ist die Witwe des F* und begehrt 15.000 EUR an Trauerschmerzengeld und 2.340 EUR als Ersatz für Beistandsleistungen des Getöteten im gemeinsamen Haus und Garten.

[4] Die Beklagten wenden ein, dass der Erstbeklagte nur leicht fahrlässig gehandelt habe und die Klägerin sich die Witwenpension anrechnen lassen müsse.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Da ein durchschnittlich sorgfältiger Traktorfahrer 3,4 Sekunden vor der Kollision nach links geblickt hätte, verantworte der Erstbeklagte unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0,6 bis 0,8 Sekunden eine Reaktionsverzögerung von 2,6 bis 2,8 Sekunden, was den Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht rechtfertigen könne, sodass kein Anspruch auf Trauerschmerzengeld bestehe. Der Anspruch auf Ersatz der vom Getöteten erbrachten Naturalleistungen sei angesichts der kongruenten Witwenpension auf den Sozialversicherungsträger übergegangen.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision im Hinblick auf die Frage zulässig sei, ob eine subjektiv empfundene Sichtbeeinträchtigung bei einer Vorrangverletzung ein eigenständiges Verschuldenskriterium darstelle.

[7] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, mit der sie eine Klagsstattgabe anstrebt, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Die Beklagten beantragen das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision der Klägerin ist zulässig, sie ist auch teilweise berechtigt.

[10] 1. Die Beurteilung des Verschuldensgrades hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet deshalb für sich genommen – von groben Auslegungsfehlern abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage (RS0087606). Wohl aber sind Feststellungsmängel, die eine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts unmöglich machen, schon aus Gründen der Rechtssicherheit auch vom Obersten Gerichtshof stets aufzugreifen (RS0042744; vgl RS0122475; Lovrek in Fasching/Konecny 3 § 502 ZPO Rz 52). Die Revision ist demnach zulässig, weil die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um den Verschuldensgrad des Erstbeklagten abschließend zu beurteilen.

[11] 2. Nach ständiger Rechtsprechung kommt ein Zuspruch von Trauerschmerzengeld für den Verlust naher Angehöriger nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz in Betracht (RS0115189). Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt (RS0030644; RS0030477). Dies erfordert eine Sorglosigkeit, wie sie nur bei besonders nachlässigen oder leichtsinnigen Menschen vorkommt (RS0030438). Das Verhalten des Schädigers muss sich auffallend aus der Menge der unvermeidlichen Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens herausheben (RS0030359). Darüber hinaus muss der objektive Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorwerfbar sein (RS0030272).

[12] 3. Ein benachrangter Fahrzeuglenker muss den bevorrangten Verkehr gehörig beobachten, um die im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden oder zu behindern (RS0073337). Im Fall einer Sichtbehinderung ist der benachrangte Fahrzeuglenker nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs verpflichtet, sich äußerst vorsichtig zur Kreuzung vorzutasten, bis er die notwendige Sicht erhält (RS0074932). Dies gilt immer dann, wenn die bevorrangte Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, um mit Sicherheit beurteilen zu können, dass durch das Einfahren in die Kreuzung keine bevorrangten Fahrzeuge behindert werden (RS0074932 [T4]). Im vorliegenden Fall hätte der Erstbeklagte den Radfahrer aber trotz des Baumes sehen können. Es wurde auch nicht festgestellt, dass der Erstbeklagte diesen Baum subjektiv als Sichtbehinderung empfunden hat, sodass sich die vom Berufungsgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage gar nicht stellt.

[13] 4. Der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach der Erstbeklagte nicht verpflichtet war, schon lange vor dem Erreichen des Kreuzungsbereichs den Querverkehr durch nach links und rechts ausschweifende Blicke zu beobachten, setzt die Klägerin nichts entgegen. Sie verweist aber darauf, dass der Erstbeklagte den Radfahrer durch einen einfachen Blick nach links irgendwann im Zeitraum von über 9 Sekunden wahrnehmen hätte können. Soweit sie mit Judikatur im Zusammenhang mit Reaktionsverspätung argumentiert, ist darauf hinzuweisen, dass der Erstbeklagte, der den Radfahrer vor der Kollision gar nicht gesehen hat, keine Reaktionsverzögerung, sondern einen Beobachtungsfehler verantwortet.

[14] 5. Ob ein Beobachtungsfehler den Vorwurf grober Fahrlässigkeit bedeutet, hängt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von den Umständen des Einzelfalls ab, wobei selbst Rotlichtverstöße nicht generell grobe Fahrlässigkeit begründen (RS0080385). Der Oberste Gerichtshof hat das Fehlverhalten eines Fahrzeuglenkers, der beim Überfahren einer ungeregelten Kreuzung mit unverminderter Geschwindigkeit einen bevorrangten PKW übersehen hat, als bloß leicht fahrlässig beurteilt (8 ObA 2186/96w). Auch die Rechtsansicht, wonach das Übersehen einer Fußgängers auf einem Schutzweg keine grobe Fahrlässigkeit begründet, wenn dessen Erkennbarkeit durch Dunkelheit und Nässe herabgesetzt war, ist nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs vom Beurteilungsspielraum der Gerichte gedeckt (2 Ob 192/19b).

[15] 6. Demgegenüber nimmt der Oberste Gerichtshof grobe Fahrlässigkeit an, wenn eine Ampelanlage gänzlich außer Acht gelassen wurde (7 Ob 27/95; idS auch 9 ObA 254/02x). Entsprechendes gilt, wenn ein Fahrzeuglenker einen unbeschrankten Bahnübergang überquert, ohne sich in irgendeiner Weise darüber zu vergewissern, ob ein Zug herannaht (7 Ob 90/99g). Den Feststellungen des Erstgerichts lässt sich nicht entnehmen, ob sich der Erstbeklagte, bevor er in den Kreuzungsbereich einfuhr, in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob dies gefahrlos möglich ist.

[16] 7. Ein gänzliches Missachten des Vorrangs, etwa weil der Erstbeklagte ohne nach links zu blicken in die Kreuzung eingefahren ist, würde jedenfalls den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit begründen und den Zuspruch von Trauerschmerzengeld rechtfertigen. Das Fehlen diesbezüglicher Feststellungen erfordert die Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen über das Trauerschmerzengeld. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht Feststellungen dazu treffen müssen, ob sich der Erstbeklagte vor dem Einfahren in den Kreuzungsbereich in irgendeiner Weise vergewissert hat, ob dies gefahrlos möglich ist.

[17] 8. Soweit die Klägerin den Ersatz von Beistandsleistungen des Getöteten im gemeinsamen Haus und Garten begehrt, ist sie darauf zu verweisen, dass zwischen der von der hinterbliebenen Ehegattin bezogenen Witwenpension und ihren Schadenersatzansprüchen auf Ersatz ihres Unterhaltsentgangs nach § 1327 ABGB sachliche Kongruenz besteht (RS0031633). Dies gilt entgegen ihrer Auffassung auch für die vom Unterhaltspflichtigen erbrachten Beistandsleistungen (2 Ob 307/00m; 2 Ob 105/05p; 2 Ob 8/13k), weil diese dem Hinterbliebenen entgangenen Naturalleistungen mit Unterhaltscharakter vom Schadenersatzanspruch des § 1327 ABGB erfasst sind (2 Ob 27/19t). Die klagsabweisende Entscheidung der Vorinstanzen war daher, was den Ersatz der entgangenen Beistandsleistungen betrifft, im Sinn eines Teilurteils zu bestätigen.

[18] 9. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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