OGH 2Ob5/24k

OGH2Ob5/24k28.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W*, vertreten durch die Brauneis Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei W*, vertreten durch die Rechtsanwaltspartnerschaft Kolarz Augustin Mayer in Stockerau, wegen 34.110,90 EUR sA, über dieRekurse der klagenden Partei und der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 27. Oktober 2023, GZ 13 R 180/23w‑42, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 20. April 2023, GZ 9 Cg 125/21z‑36, aufgehoben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00005.24K.0528.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Dem Rekurs der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben.

Hingegen wird dem Rekurs der klagenden Partei Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 10.147,22 EUR (darin 1.436,87 EUR USt und 1.526 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 9. 4. 2019 befuhr die von der Klägerin gehaltene Straßenbahn am Schwarzenbergplatz in Wien zunächst den den selbständigen Gleiskörper, welcher in die Prinz-Eugen-Straße mündet. Rechts daneben verlaufen zwei parallele Fahrstreifen für den Individualverkehr, die ebenfalls in die Prinz-Eugen-Straße münden. Der rechte Fahrstreifen dient als Rechtsabbiegestreifen in die Schwindgasse, während der linke Fahrstreifen, auf dem der bei der Beklagten haftpflichtversicherte LKW fuhr, mit Geradeaus-Bodenmarkierungen ebenfalls in die Prinz-Eugen-Straße und damit in einem flachen Winkel auf die Gleise der Straßenbahn führt. Der LKW fuhr mit 20 bis 30 km/h und die Straßenbahn mit etwa 35 km/h in Richtung Prinz-Eugen-Straße. Die Front der Straßenbahn, die bereits den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte, schloss auf Höhe der Schwindgasse zum Heck des LKW auf. Der Lenker des LKW beschleunigte, um noch vor der Straßenbahn in die Prinz-Eugen-Straße einfahren zu können, woraufhinder Führer der Straßenbahn eine Notbremsung einleitete, aber nicht mehr verhindern konnte, dass die Straßenbahn gegen die linke Bordwand des LKW stieß.

[2] Die Klägerin begehrt den Ersatz des an der Straßenbahn entstandenen Sachschadens von 34.110,90 EUR, weil der Lenker des LKW den Vorrang der Straßenbahn missachtet habe.

[3] Die Beklagte wendet ein, dass der Führer der Straßenbahn das Alleinverschulden verantworte, weil der LKW seinen Fahrstreifen nicht verlassen habe und der Unfall für den Führer der Straßenbahn bei zeitgerechter Verringerung der Geschwindigkeit leicht vermeidbar gewesen wäre.

[4] Das Erstgericht gab der Klage statt. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des LKW, weil er angesichts der herannahenden Straßenbahn nach § 28 Abs 2 StVO nicht auf die Gleise fahren hätte dürfen.

[5] Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Mangels Kolonnenverkehr habe keine Verpflichtung zum Einordnen im „Reißverschlusssystem“ nach § 11 Abs 5 StVO bestanden. Der Lenker des LKW hätte vielmehr nach § 28 Abs 2 StVO seine Geschwindigkeit verringern müssen, um der Straßenbahn das Befahren der Gleise zu ermöglichen. Wohl aber würde der Führer der Straßenbahn ein Mitverschulden verantworten, wenn er nicht rechtzeitig reagiert hätte, obwohl ihm die vom LKW ausgehende Gefahr bereits erkennbar war. Da das Erstgericht dazu keine Feststellungen getroffen habe, sei das Urteil aufzuheben. Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Rekurs im Hinblick auf die Frage zulässig sei, ob die Gleisräumverpflichtung nach § 28 Abs 2 StVO auch gelte, wenn parallel verlaufende Gleise im flachen Winkel auf die Fahrbahn geführt werden.

[6] Dagegen richten sich der Rekurs der Klägerin, mit dem sie eine Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils beantragt, und der Rekurs der Beklagten, mit dem sie eine Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

[7] Die Klägerin und die Beklagte beantragen wechselseitig, dem Rekurs der jeweiligen Gegenseite nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Rekurse sind aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Der Rekurs der Klägerin ist auch berechtigt, der Rekurs der Beklagten ist hingegen nicht berechtigt.

[9] 1. Wenn auf Straßen mit mehr als einem Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich ist oder ein Fahrstreifen endet, sieht § 11 Abs 5 StVO vor, dass den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Wechsel auf den zunächst gelegen verbleibenden Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen ist, dass diese Fahrzeuge jeweils im Wechsel einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug nachfolgen können (Reißverschlusssystem). Das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung zum Einordnen im Reißverschlusssystem nach ständiger Rechtsprechung Kolonnenverkehr voraussetzt (RS0119625), im vorliegenden Fall aber kein weiteres Schienenfahrzeug vor Ort war. Tatsächlich kommt es darauf aber gar nicht an, weil § 11 Abs 5 StVO über das Einordnen im Reißverschlusssystem auf Schienenfahrzeuge von vornherein nicht anwendbar ist (Grundtner, Die österreichische Straßenverkehrsordnung [48. Lfg] Anm zu § 11 Abs 5 StVO; ebenso wohl Pürstl, StVO‑ON16 § 11 Anm 16).

[10] 2. Aus § 7 Abs 1 StVO ergibt sich, dass Gleise von Schienenfahrzeugen jedenfalls dann in Längsrichtung befahren werden dürfen, wenn der übrige Teil der Fahrbahn nicht genügend Platz bietet. § 28 Abs 2 StVO sieht aber vor, dass beim Herannahen eines Schienenfahrzeugs – sofern sich aus den Bestimmungen des § 19 Abs 2 bis 6 StVO über den Vorrang nichts anderes ergibt – andere Straßenbenützer die Gleise so rasch wie möglich zu verlassen haben, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen. Darüber hinaus dürfen die Gleise unmittelbar vor dem Vorüberfahren eines Schienenfahrzeuges nicht überquert werden. Diese Bestimmung trägt dem Umstand Rechnung, dass die an Gleise gebundenen Fahrzeuge nicht ausweichen können und überdies in der Regel ein geringeres Bremsvermögen haben (RS0075154).

[11] 3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs begründet § 28 Abs 2 StVO aber keine Vorrangregel (RS0074423; RS0075133 [T1]). Ein Schienenfahrzeug kann deshalb nicht die besondere Bevorzugung nach § 28 Abs 2 StVO beanspruchen, wenn sich aus den allgemeinen Verkehrsregeln eine Nachrangsituation ergibt. Wenngleich § 28 Abs 2 StVO lediglich auf die Geltung der Vorrangregeln in § 19 Abs 2 bis 6 StVO verweist, ist im Verhältnis zu Schienenfahrzeugen auch die Vorrangregel des § 19 Abs 1 StVO anwendbar, zumal dort Schienenfahrzeuge ausdrücklich angeführt sind.

[12] 4. Voraussetzung für die Annahme einer Kreuzung ist, dass zwei Straßen vorliegen, die einander kreuzen oder ineinander münden (RS0111415). Der Kreuzungsbereich wird dann von der Schnittfläche dieser Straßen gebildet (RS0073454; RS0073469). Auch eine Zusammenführung zweier sich allmählich nähernder, ineinander übergehender Straßen mit mehreren Fahrstreifen ist eine Kreuzung (RS0073425; RS0075315 [T1]). Im vorliegenden Fall liegt aber keine Kreuzung vor, weil die Schienen der Straßenbahn und der Fahrstreifen des LKW im Bereich des Schwarzenbergplatzes parallel geführt sind, sodass sie Teil derselben Straße sind. Auch ein selbständiger Gleiskörper ist nämlich als Teil der Straße anzusehen (RS0073129). Die Straßenbahn und der LKW befanden sich damit auf zwei unterschiedlichen Fahrstreifen derselben Straße.

[13] 5. Nach § 11 Abs 1 StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrtrichtung nur ändern oder den Fahrstreifen wechseln, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist. Eine Änderung der Fahrtrichtung im Sinn des § 11 StVO liegt nur vor, wenn vom natürlichen Verlauf der Fahrbahn abgewichen wird (RS0073604; RS0073764). Weder der Führer der Straßenbahn noch der Lenker des LKW haben in Annäherung an die Unfallstelle den natürlichen Verlauf ihres Fahrstreifens verlassen.

[14] 6. Setzt sich einer der beiden Fahrstreifen fort und hört der andere Fahrstreifen auf, so muss der auf dem aufhörenden Fahrstreifen fahrende Kraftfahrer nach ständiger Rechtsprechung dem auf dem fortgeführten Fahrstreifen flutenden Verkehr den Vorrang geben (RS0058743). Welcher Fahrstreifen aufhört, kann sich aus Bodenmarkierungen oder der Lage von Hindernissen ergeben (2 Ob 288/04y). Das ist hier aber nicht der Fall, weil die Gleise der Straßenbahn und der Fahrstreifen des LKW in ihrem natürlichen Verlauf zusammengeführt werden und sohin beide Fahrstreifen als fortgesetzt anzusehen sind.

[15] 7. Der Oberste Gerichtshof hat aber bereits ausgesprochen, dass in einer Situation, in der eine zunächst aus zwei Fahrstreifen bestehende Fahrbahn dem natürlichen Fahrbahnverlauf entsprechend ihre Fortsetzung nur mehr in einem Fahrstreifen findet, mangels ausdrücklicher Regelung dieser Verkehrslage im Gesetz die Vorrangregel nach § 19 Abs 1 StVO sinngemäß anzuwenden ist (RS0074334; 2 Ob 169/06a). Nach § 19 Abs 1 StVO haben Fahrzeuge, die von rechts kommen, sofern nichts anderes bestimmt ist, den Vorrang, Schienenfahrzeuge jedoch auch dann, wenn sie von links kommen. Dies führt im vorliegenden Fall dazu, dass die von links kommende Straßenbahn das Recht hatte, als erster über jene Fläche zu fahren, auf der sich die Fahrbahn und die Gleiskörper überschneiden (RS0075056). Der Lenker des LKW hat durch sein Fahrmanöver den Vorrang der Straßenbahn verletzt.

[16] 8. Der Führer der Straßenbahn durfte auch darauf vertrauen, dass der wartepflichtige Lenker des LKW ihn nicht zum unvermittelten Abbremsen nötigen werde (RS0073422). Der Vertrauensgrundsatz kommt nur demjenigen nicht zugute, der das verkehrswidrige Verhalten des anderen bereits erkennen konnte, eine ihm zumutbare Reaktion, die den Schaden abwenden hätte können, jedoch unterlässt (RS0073173; RS0073429). Das Erstgericht hat festgestellt, dass der Führer der Straßenbahn sofort eine Notbremsung einleitete, als er erkannte, dass der LKW seine Geschwindigkeit erhöht und auf die Gleiskörper fährt. Konkrete Umstände, aus denen der Führer der Straßenbahn schon zuvor erkennen hätte können, dass der LKW beschleunigen und seinen Vorrang verletzen würde, hat die Beklagte nicht behauptet, sodass diesbezüglich auch keine ergänzenden Feststellungen zu treffen sind. Es war daher das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[17] 9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO.

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