OGH 10ObS37/24z

OGH10ObS37/24z14.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Vollmaier sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch die Ganzert & Partner Rechtsanwälte OG in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 21. Februar 2024, GZ 12 Rs 26/24 s‑21, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 25. Oktober 2023, GZ 16 Cgs 99/23i‑17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00037.24Z.0514.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin leidet bereits seit dem Kleinkindalter an verschiedenen Krankheitszuständen, unter anderem an einer hochkomplexen neurogenen Blasenentleerungsstörung, an epileptischen Anfällen sowie an einer spastischen Hemiparese und Tetraparese mit Betonung der rechten Seite. Mit Hilfe einer Schulassistenz konnte sie trotz erheblicher Lernschwierigkeiten eine normale Schulausbildung abschließen. Sie ist überwiegend auf den Rollstuhl angewiesen. Die Feinmotorik der rechten Hand ist gestört und ihre Konzentrationsfähigkeit partiell eingeschränkt. Seit dem Jahr 2014 war die Klägerin frei von epileptischen Anfällen; zuletzt traten diese aber wieder im Frühjahr 2023 in Serie auf.

[2] Von 1. 9. 2015 bis 31. 8. 2019 absolvierte die Klägerin beim Verein * eine berufliche Qualifikation nach § 11 Abs 2 Z 1 Oö. Chancengleichheitsgesetz (ChG) im Bereich Bürokauffrau. Dabei war sie als Angestellte nach dem ASVG pflichtversichert und erwarb Versicherungszeiten im Umfang von 48 Monaten. Außerhalb dieses Zeitraums erwarb sie keine Beitragszeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit.

[3] Mit Bescheid vom 13. 1. 2023 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 12. 9. 2022 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, weil Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft vorliege. Weiters bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld sowie auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

[4] In ihrer Klage begehrt die Klägerin primär die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß und hilfsweise die Feststellung des Vorliegens vorübergehender Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens 6 Monaten sowie des Anspruchs auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, dies jeweils ab 1. 10. 2022. Aufgrund ihrer Leidenszustände und Beschwerden sei sie nicht mehr in der Lage, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Jährliche Krankenstände von mehr als sieben Wochen seien aufgrund der massiven Beschwerden sehr wahrscheinlich.

[5] Die Beklagte bestreitet den Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit.

[6] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Klägerin sei noch nie am „ersten Arbeitsmarkt“ erwerbstätig gewesen, ein Eintritt in das Erwerbsleben sei also bisher noch nicht erfolgt. Selbst wenn es sich aber bei ihrer Tätigkeit im Verein * um eine Erwerbstätigkeit handelte, wäre von sogenannten eingebrachten Leiden und Krankheiten der Klägerin auszugehen, die bereits zu Beginn der Erwerbstätigkeit bestanden hätten.

[7] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass schon mangels Eintritts der Klägerin in das Erwerbsleben kein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit im Sinne des § 273 ASVG vorliegen könne. Dazu hätte es nicht nur des Eintritts in die Pflichtversicherung bedurft, sondern auch der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts. Die von der Klägerin von 1. 9. 2015 bis 31. 8. 2019 absolvierte berufliche Qualifikation nach § 11 Abs 2 Z 1 Oö. ChG, die mit dem Ziel gewährt werde, Menschen mit Beeinträchtigungen einen angemessenen Arbeitsplatz sowie die Erhaltung und die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten durch entsprechende Aktivität zu ermöglichen, und die konkret der individuellen Förderung unter anderem in Form einer Berufsausbildung durch Lehre diene, stehe nach § 5 Abs 1 Oö. ChG‑Hauptleistungsverordnung allerdings nur Menschen mit Beeinträchtigungen offen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen nachweislich keine Möglichkeit haben, eine Lehre oder eine andere adäquate Ausbildung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu absolvieren. Schon daraus werde aber klar, dass die berufliche Qualifikation nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erfolge und damit nicht mit einem Eintritt in das Erwerbsleben gleichgesetzt werden könne.

[8] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, ob eine berufliche Qualifikation im Sinn des § 11 Abs 2 Z 1 Oö. ChG einen Eintritt in das Erwerbsleben ausschließt, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung existiere.

[9] Gegen diese Entscheidung richtet sich die – von der Beklagten nicht beantwortete – Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist jedoch mangels aufgezeigter Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung unzulässig.

1. Der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit – sowohl nach § 255 ASVG als auch nach § 273 ASVG – setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass sich der körperliche und geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn einer Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat (RS0085107 [T3]; 10 ObS 45/13k [ErwGr 2.]; 10 Ob 116/22i [Rz 5] ua). Es ist daher immer auch entscheidungswesentlich, ob der Versicherte ursprünglich arbeitsfähig war und seine Arbeitsfähigkeit durch eine nachträglich eingetretene Verschlechterung beeinträchtigt wurde („herabgesunken“ ist). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (RS0085107 [T1]; RS0084829 [T1]).

[11] § 255 Abs 3 und § 273 Abs 2 ASVG fordern zwar weder den Erwerb einer bestimmten Mindestanzahl von Beitragsmonaten der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit noch die Ausübung „einer Tätigkeit“ in einer bestimmten Anzahl von Kalendermonaten (§ 255 Abs 4 ASVG). § 255 ASVG regelt (iVm § 273 ASVG) jedoch in seiner Gesamtheit das System des Zugangs zu einer Pensionsleistung aus der Verminderung der Arbeitsfähigkeit in Form von ausbildungs‑ und altersabhängigen Konstellationen. Dabei setzt der Gesetzgeber das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit auch dann als selbstverständlich voraus, wenn er keine bestimmte Art oder Dauer einer Beschäftigung verlangt (10 ObS 44/21z [Rz 30]; 10 ObS 135/22h [Rz 37]).

[12] 2. Maßgebend für den Zeitpunkt des Eintritts in das Berufsleben (Erwerbsleben) ist die erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung (RS0085107 [T13]; RS0084829 [T22]). Für die Beurteilung des maßgeblichen Vergleichszeitpunkts am Beginn der Erwerbskarriere ist nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung abzustellen, sondern vielmehr kombiniert auf beide Elemente, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und den Eintritt in die Pflichtversicherung (s 10 ObS 144/10i [ErwGr 2.3.]; RS0084829 [T25]). Ist der Versicherte dementsprechend noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten, kann ein Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit somit nicht eingetreten sein (10 ObS 44/21z [Rz 25 ff]; 10 ObS 116/22i [Rz 6]).

[13] 3. Auf die Frage, ob die Aufnahme einer bestimmten Arbeitstätigkeit durch den Versicherten nach den Umständen des konkreten Falls bereits als Eintritt in das Berufs‑ bzw Erwerbsleben zu qualifizieren ist, ist der Oberste Gerichtshof bereits in mehreren Entscheidungen eingegangen und hat dabei wiederholt darauf abgestellt, ob mit der aufgenommenen Tätigkeit die Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts verbunden war oder nicht (vgl RS0085107 [T6]; RS0084829 [T15]; insb 10 ObS 144/10i [ErwGr 4.]; 10 ObS 45/13k [ErwGr 4.3.]; zuletzt ua 10 ObS 116/22i [Rz 7]).

[14] Ausgehend von diesen Kriterien wurden zwar unter anderem Ferialtätigkeiten von nur sehr kurzer Dauer (10 ObS 90/97a [8 Tage]; 10 ObS 59/05g [2 Tage]) und der Beginn der Zivildienstleistung (10 ObS 33/12v) sowie eines (regulären) Lehrverhältnisses (10 ObS 279/97w; vgl auch RS0084829 [T10]) als Eintritt in das Erwerbsleben gewertet, nicht aber etwa die bloße Teilnahme an Schulungsmaßnahmen, auch wenn damit die Begründung einer Pflichtversicherung verbunden ist (10 ObS 144/10i; 10 ObS 105/12g; 10 ObS 45/13k; 10 ObS 69/17w).

[15] 4. Letztlich ist die Frage, ob tatsächlich eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts verrichtet wurde, stets von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig und wirft damit grundsätzlich – abgesehen vom Fall einer im Sinn der Rechtssicherheit aufzugreifenden Fehlbeurteilung – keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO auf.

[16] 4.1. Wenn nun das Berufungsgericht im vorliegenden Fall zum Ergebnis gelangt, dass die von der Klägerin in der Zeit vom 1. 9. 2015 bis zum 31. 8. 2019 absolvierte berufliche Qualifikation im Sinn des § 11 Abs 2 Z 1 Oö. ChG schon deshalb keinen Eintritt in das Erwerbsleben im zuvor dargestellten Sinn bewirkte, weil diese Maßnahme von vornherein nur Menschen offensteht, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung nachweislich nicht die Möglichkeit haben, eine Lehre oder eine andere adäquate Ausbildung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu absolvieren, so hält sich diese Beurteilung im Rahmen der dargelegten Rechtsprechungsgrundsätze.

[17] 4.2. Mit ihrem Rechtsmittelvortrag, wonach sie nicht nur eine normale Schulausbildung abgeschlossen, sondern im Rahmen der Maßnahme nach dem Oö. ChG auch eine ordnungsgemäße Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert habe, die einem normalen Lehrabschluss entspreche, vermag sie keinen Korrekturbedarf in Ansehung dieser rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts aufzuzeigen. Auf die Form der – der Arbeitstätigkeit vorangehenden – Schulausbildung kommt es ebenso wenig an wie darauf, ob die Klägerin im Rahmen der konkret in Anspruch genommenen beruflichen Qualifikation Ausbildungsziele erreicht hat, die denen eines Lehrabschlusses entsprechen. Auch die von der Klägerin weiters relevierte Begründung einer Pflichtversicherung reicht nach dem Gesagten allein für die Annahme des Eintritts in das Erwerbsleben nicht aus.

[18] Eine aufzugreifende Fehlbeurteilung lässt sich schließlich auch nicht aus dem bloßen Umstand ableiten, dass das Berufungsgericht in früheren Einzelfallentscheidungen die Durchführung anderer Maßnahmen nach dem Oö. ChG sehr wohl als Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts qualifiziert hat. Die Klägerin legt in ihrer Revision nicht einmal dar, inwieweit diese ins Treffen geführten Maßnahmen mit der hier in Rede stehenden beruflichen Qualifikation vergleichbar seien.

[19] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte