OGH 10ObS90/97a

OGH10ObS90/97a15.4.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Carl Hennrich (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Bernhard Rupp (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johannes B*****, vertreten durch Dr.Karl Weingarten, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Gottfried Zandl und Dr.Andreas Grundei, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13.Dezember 1996, GZ 7 Rs 316/96h-19, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 12.Juni 1996, GZ 11 Cgs 196/95h-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision der beklagten Partei wird keine Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 29.7.1972 geborene Kläger leidet derzeit an paranoider Schizophrenie. Eine tageweise Symptomfreiheit ist aus medizinischer Sicht auszuschließen.

Der Kläger besuchte 1989 ein Bundesrealgymnasium, in dem er sich ab dem 14.4.1989 bis zum Schuljahresende im Krankenstand befand, weshalb er diese Klasse nicht ordnungsgemäß abschließen konnte, ohne daß der Grund für die vorzeitige Beendigung dieser Schulstufe mehr feststellbar ist. Es kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, daß er bloß die geistig-intellektuellen (allgemeinen) Fähigkeiten an einen Schüler der 6. Klasse einer AHS möglicherweise nicht zu bewältigen vermochte, einfache manuelle Tätigkeiten, welche ein solches Anforderungsprofil nicht aufweisen, jedoch damals ohne besonderes Entgegenkommen eines Arbeitgebers ausüben hätte können.

Bis zum Sommer 1990 ging er hierauf keiner geregelten Beschäftigung nach. Am 2.8.1990 fand er bei der Firma Meinl in Wien eine bezahlte Arbeit als Regalbetreuer, übte diese jedoch nur bis zum 9.8.1990 aus. Auch die Gründe für die Beendigung dieser Tätigkeit sind nicht feststellbar.

Die darauffolgenden Schuljahre 1990/91 und 1991/92 (10. und 11. Schulstufe) absolvierte der Kläger mit Erfolg. Am 11.4.1994 legte er an der Universität Wien eine für die Studienberechtigungsprüfung erforderliche Prüfung aus "Geschichte des Frühmittelalters" mit der Note "gut" ab.

Im Zeitraum von November 1987 bis Juni 1988 sowie zwischen November 1988 und Juni 1989 erwarb der Kläger Ersatzzeiten im Ausmaß von insgesamt 16 Versicherungsmonaten, im August 1990 (Regalbetreuer bei der Fa. Meinl) liegt ein Monat Pflichtversicherung vor.

Zu Beginn des Berufslebens des Klägers war sein Realitätsbezug noch soweit vorhanden, daß er geregelte Arbeit leisten konnte. Bei einer so gravierenden Symptomatik, wie sie das derzeitige Krankheitsbild des Klägers aufweist, hätte ein Arbeitgeber von einer Einstellung Abstand genommen. 1990 war das Krankheitsbild allerdings noch nicht vollständig ausgeprägt, sondern erst "Vorboten" der späteren Schizophrenie vorhanden, die man irrigerweise für eine "Pubertätskrise" hielt. Auch Symptome erster Ordnung waren damals noch nicht vorhanden. Im August 1990 lag bei ihm jedenfalls noch ein verwertbarer Arbeitsrest vor.

Mit Bescheid vom 23.8.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invaliditätspension ab.

Mit seiner Klage begehrt er die Gewährung einer solchen im gesetzlichen Ausmaß ab 1.5.1995.

Das Erstgericht verurteilte die beklagte Partei im Sinne des Klagebegehrens und zum Kostenersatz. Es beurteilte den eingangs - zusammengefaßt - wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahingehend, daß der maßgebliche Stichtag für das vorliegende Pensionsbegehren vor Vollendung des 27. Lebensjahres des Klägers liege, sodaß gemäß § 235 Abs 3 lit b ASVG das Erfordernis der Wartezeit entfalle. Auch die weitere Voraussetzung des Vorliegens von mindestens 6 Versicherungsmonaten sei erfüllt. Da der Kläger zu Beginn seines Berufslebens geregelte, einfach strukturierte Arbeiten habe leisten können, seine Arbeitsfähigkeit jedoch infolge Fortschreitens seines geistigen Zustandes nunmehr so herabgesunken sei, daß er derzeit keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen könne, gebühre ihm die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und auch dessen rechtliche Beurteilung. Anders als in der Entscheidung SSV-NF 4/60 habe beim Kläger bei Eintritt der Arbeit noch nicht die Gewißheit bestanden, daß durch diese schon nach kürzester Zeit Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Invalidität oder Berufsunfähigkeit eintreten bzw. dieser Arbeitsversuch scheitern werde.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen dieses Urteil von der beklagten Partei erhobenen, auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützten, gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässigen und von der klagenden Partei nicht beantworteten Revision kommt keine Berechtigung zu.

Nach Auffassung der Revisionswerberin hätte das Berufungsgericht die Bestimmung des § 235 Abs 3 lit b ASVG über den Entfall der Wartezeit fälschlich ausgelegt. Es hätte (auch wenn im Gesetz keine starren zeitlichen Grenzen festgelegt seien) jedenfalls für einen überschaubaren Zeitraum von rund 5 Jahren geprüft und eine Prognose erstellt werden müssen, ob das Scheitern eines Arbeitsversuches von Anfang an medizinisch vorhersehbar gewesen sei. Demgegenüber habe das Berufungsgericht selbst den sechsmonatigen Beobachtungszeitraum im Sinne der zitierten Gesetzesstelle unberücksichtigt gelassen. Da der Beschäftigungsversuch des Klägers im August 1990 nicht eine Beschäftigung im Sinne des § 4 Abs 2 ASVG dargestellt habe, hätte das Klagebegehren abgewiesen werden müssen.

Hiezu hat der Oberste Gerichtshof folgendes erwogen:

1. Anspruch auf Invaliditätspension hat nach § 254 ASVG (in der zum Stichtag 1.5.1995 geltenden Fassung vor dem StrukturanpassungsG 1996 BGBl 201 [Art 34 Z 97]) ein Versicherter bei dauernder Invalidität, wenn er am Stichtag noch nicht die Voraussetzungen für eine Alterspension, eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer oder eine vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (Erwerbsunfähigkeit) erfüllt hat. Nach dem § 235 Abs 3 lit b ASVG entfällt das Erfordernis der Wartezeit für eine Leistung aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (so nach § 254 Abs 1 Z 2 ASVG auch beim Anspruch auf Invaliditätspension), wenn der Stichtag nach § 223 Abs 2 ASVG (hier: 1.5.1995) vor dem vollendeten 27. Lebensjahr des Versicherten (hier: 29.7.1999) liegt und der Versicherte mindestens 6 Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gemäß § 16 a ASVG beruhen, erworben hat (hier: 16 Monate an Ersatzzeiten und 1 Monat der Pflichtversicherung). War ein Versicherter nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen im Sinne des § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig, gilt er nach Abs 3 leg cit als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt.

2. In der sowohl in der Berufung als auch in der Revision zur Stützung ihres Standpunktes in den Vordergrund gerückten Entscheidung 10 ObS 26/90 (veröffentlicht in SSV-NF 4/60 = SZ 63/61) hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, daß jemand, der trotz bestehender Behinderung (dort ging es um eine Rollstuhlfahrerin nach spastischer Tetraparese), die ihn an sich vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, eine Berufstätigkeit ausübt, Versicherungszeiten erwirbt und damit die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension erfüllt, sich nach Erreichung dieser Voraussetzungen nicht darauf berufen könne, daß er - ohne Änderung seines körperlichen oder geistigen Zustandes - wegen dieser Behinderung nunmehr invalid oder berufsunfähig sei; bestand daher schon bei Eintritt der Arbeit die Gewißheit, daß durch diese schon nach kürzester Zeit Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Invalidität oder Berufsunfähigkeit eintreten wird, so entstehe kein Anspruch auf die Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension, wenn dieser Zustand in der Folge tatsächlich eintritt. Es komme vielmehr darauf an, ob die trotz der Körperbehinderung zuvor bestandene Arbeitfähigkeit durch nachfolgende Entwicklungen beeinträchtigt wurde, also im Sinne des Wortlautes des Gesetzes "herabgesunken" sei, wobei der körperlich geistige Zustand des Versicherten bei Aufnahme der Berufstätigkeit und Eintritt in das Versicherungsverhältnis jenem bei Antragstellung gegenüberzustellen sei. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand könne daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalles der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (so auch SSV-NF 1/67 bei einem einäugigen Schlosser zufolge Verlustes des rechten Auges bereits wenige Wochen nach der Geburt; SSV-NF 8/46 bei - wie hier - schizophrenem Defektzustand; 10 ObS 26/96 im Falle einer seit Kindheit bestehenden Debilität; schließlich auch 10 ObS 32/96 = ARD 4819/16/97 bei vorzeitiger Alterspension eines bereits ursprünglich Arbeitsunfähigen).

Daß hiebei auf einen Beobachtungszeitraum von 5 Jahren abzustellen sei, wie in der Revision gefordert, wurde hingegen in keiner der zitierten Entscheidungen vom erkennenden Senat ausgesprochen und läßt sich auch aus den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen nicht ableiten. Derartiges läßt sich auch nicht aus dem gleich einleitend der Revision als vom Berufungsgericht falsch ausgelegt zitierten § 235 Abs 3 lit b ASVG entnehmen, welche Bestimmung durch Art IV Z 12 lit b der 9. ASVG-Novelle BGBl 1962/13 zum besonderen Schutze von Versicherten unter 21 Jahren eingeführt worden war (Initiativantrag 517 BlgNR 9. GP, 83). Durch Art IV Z 2 der 41. Novelle BGBl 1986/111 erfolgte eine Anhebung dieser Altersgrenze auf das 27. Lebensjahr, wobei es in den Materialen hiezu (RV 774 BlgNR 16. GP, 41) heißt, daß hiermit klargestellt werde, "daß nicht jede Beschäftigung im Rahmen der beruflichen Eingliederung von vornherein als eine Beschäftigung im Sinne des § 4 Abs 2 ASVG anzusehen sein wird. Vielmehr wird im Einzelfall zu prüfen sein, ob diese Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind". Durch Art IV Z 10 der 50. Novelle BGBl 1991/676 erhielt diese Bestimmung durch die Einfügung der Ausnahme von Versicherungsmonaten aus Selbstversicherung gemäß § 16a ASVG schließlich die heute noch in Geltung stehende Fassung (zu den Motiven siehe RV 284 BlgNR 18. GP, 23).

3. Wie der Oberste Gerichtshof erst jüngst in seiner Entscheidung 10 ObS 2430/96t wiederholt hat, gelten auch in Sozialrechtssachen die allgemeinen Grundsätze über die Verteilung der Beweislast; es hat also derjenige, der ein Recht für sich in Anspruch nimmt, die rechtsbegründenden Tatsachen hiefür zu beweisen (SSV-NF 5/140, 6/119), bzw umgekehrt derjenige, der einen Anspruch negiert, die rechtsvernichtenden Tatsachen (SSV-NF 1/48). Ausgehend von den vom Erstgericht getroffenen, vom Berufungsgericht übernommenen und damit für den Obersten Gerichtshof maßgeblichen Tatsachenfeststellungen sind die Gründe der Beendigung der Beschäftigungstätigkeit des Klägers im August 1990 (also in der Ferialzeit vor seinem [erfolgreichen] Wiederbeginn mit der AHS-Oberstufe, deren 10. und 11. Klassen er positiv abschließen konnte) nicht mehr feststellbar (Negativfeststellung Seite 2 des Ersturteils). Allerdings steht (positiv) fest, daß zu Beginn dieses seines Berufslebens sein Realitätsbezug noch soweit vorhanden war, daß er geregelte Arbeiten leisten konnte, weil das spätere Krankheitsbild noch nicht (vollständig) ausgeprägt war und daher im August 1990 ein verwertbarer Arbeitsrest vorlag. Damit ist aber seit seinem Eintritt ins Erwerbsleben eine wesentliche Änderung eingetreten, entsprach der Kläger doch damals (noch) den Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, während er derzeit nicht (mehr) in der Lage ist, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Damit reichen aber diese Feststellungen - im Sinne der allgemeinen Beweislastregeln - aus und rechtfertigen die von den Vorinstanzen übereinstimmend abgeleitete Annahme, daß der Kläger gerade nicht - anders als bei den oben wiedergegebenen Fällen - das nunmehr zur Annahme seiner Invalidität führende Leiden bereits "eingebracht" hat, sondern vielmehr erst danach seine Arbeitsfähigkeit auf das nunmehrige gegebene Maß "herabgesunken" ist.

In Würdigung aller dieser Umstände des hier zur Beurteilung anstehenden Einzelfalles (SSV-NF 4/60; nochmals RV 774 BlgNR 16.GP,

41) erweist sich die dagegen erhobene Revision somit als nicht berechtigt. Es war ihr daher keine Folge zu geben, sondern vielmehr das angefochtene Urteil zu bestätigen.

Eine Kostenentscheidung hatte zu entfallen, weil sich der Kläger mangels Erstattung einer Revisionsbeanwortung am Revisionsverfahren nicht beteiligte.

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