OGH 13Os12/24z

OGH13Os12/24z24.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. April 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Flickinger in der Maßnahmenvollzugssache des * J*, AZ 10 BE 24/23g des Landesgerichts Steyr (nunmehr AZ 7 BE 211/23s des Landesgerichts für Strafsachen Graz), über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Steyr als Vollzugsgericht vom 7. September 2023 (ON 15) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, und des Erwachsenenvertreters Dr. Steinbüchler zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0130OS00012.24Z.0424.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

In der Maßnahmenvollzugssache AZ 10 BE 24/23g des Landesgerichts Steyr verletzt der Beschluss dieses Gerichts vom 7. September 2023 (ON 15) § 86 Abs 1 StPO iVm Art 6 Abs 2 erster Satz Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022.

Dieser Beschluss, der im Übrigen unberührt bleibt, wird, soweit die Entlassung des * J* aus einem forensisch-therapeutischen Zentrum (nicht unbedingt, sondern) unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren bedingt ausgesprochen worden ist, demzufolge auch in der Anordnung von Bewährungshilfe und der Erteilung von Weisungen aufgehoben und es wird dem Landesgericht Steyr insoweit die Erneuerung des Verfahrens aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Mit – am 3. September 2019 – in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Schöffengericht vom 11. März 2019, GZ 35 Hv 8/19y‑39, wurde aus Anlass mehrerer dem Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB subsumierter Taten nach § 21 Abs 1 StGB (idF vor BGBl I 2022/223) die Unterbringung des * J* in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet.

[2] Am 25. Mai 2023 beantragte der Untergebrachte die bedingte Entlassung aus dieser Maßnahme (ON 1).

[3] Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem und gekürzt ausgefertigtem Beschluss des Landesgerichts Steyr als Vollzugsgericht vom 7. September 2023 (ON 15) wurde * J* mit Wirksamkeit vom 14. September 2023 im Sinn des § 47 Abs 1 und 2 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von fünf Jahren bedingt aus der vorbeugenden Maßnahme entlassen. Gleichzeitig ordnete das Gericht für diesen Zeitraum Bewährungshilfe an und erteilte dem Genannten mehrere Weisungen. Begründend führte es dazu aus:

„Aus psychiatrischer Sicht laut SV-Gutachten leidet der UG an einer schizoaffektiven Störung mit religiösen Wahnideen (F.25.9), unter adäquater Therapie derzeit in Remission, Verdacht auf Alzheimerdemenz (F00.0). Durch Betreuung, Therapien und Medikation ist es gelungen, die Symptomatik soweit in den Hintergrund zu drängen, dass der UG zurzeit symptomfrei ist. UG verhält sich in der Nachsorgeeinrichtung vollkommen angepasst, absolut ruhig und compliant. Die schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung hat sich soweit zurückgebildet, dass nicht erwartet werden kann, dass der Untersuchte mit hoher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft neuerlich strafbare Handlungen mit schweren Folgen (§ 107 Abs 1 und 2 StGB) sowie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine gegen Leib und Leben gerichtete und mit mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohte Handlung bzw gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung gerichtete mit mehr als 1 Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Handlung begehen wird.“

Rechtliche Beurteilung

 

[4] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht dieser Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[5] Gerichtliche Entscheidungen (§ 35 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StPO) sind rechtsfehlerhaft, wenn die Ableitung der Rechtsfolge aus dem vom Entscheidungsträger zugrunde gelegten Sachverhaltssubstrat das Gesetz verletzt oder die Sachverhaltsannahmen entweder in einem rechtlich mangelhaften Verfahren zustande gekommen oder mit einem formalen Begründungsmangel behaftet und demnach willkürlich getroffen sind (RIS‑Justiz RS0132725 und RS0126648; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 17).

[6] Letzteres ist hier der Fall:

[7] Nach Art 6 Abs 2 erster Satz Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 BGBl I 2022/223 sind zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes am 1. März 2023 (strafrechtlich) Untergebrachte unverzüglich ohne Bestimmung einer Probezeit, somit unbedingt, zu entlassen, wenn sich bei der erstmaligen Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Unterbringung ergibt, dass sie nach den neuen Bestimmungen des § 21 StGB idF BGBl I 2022/223 überhaupt nicht hätten untergebracht werden dürfen (dazu Pieber in WK2 StVG§ 162 Rz 21/1).

[8] Nach § 47 Abs 1 erster Satz StGB darf die Entlassung des Eingewiesenen aus einem forensisch-therapeutischen Zentrum im Unterschied dazu stets nur bedingt unter Bestimmung einer Probezeit erfolgen.

[9] Ausgehend davon ist in der vorliegenden Konstellation bei erstmaliger Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Unterbringung von am 1. März 2023 in strafrechtlicher Unterbringung Befindlichen die Prüfung nach Art 6 Abs 2 erster Satz Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 jener nach § 47 Abs 1 und 2 StGB logisch vorgelagert.

[10] Ein nach dem 1. März 2023 gefasster Beschluss, mit welchem im Rahmen der erstmaligen Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Unterbringung die bedingte Entlassung nach § 47 Abs 1 und 2 StGB angeordnet wird, muss somit zunächst Sachverhaltsannahmen enthalten, die den rechtlichen Schluss zulassen, dass der Untergebrachte auch nach der aktuellen Gesetzeslage in einem forensisch-therapeutischen Zentrum hätte untergebracht werden dürfen.

[11] Aus der Wortfolge des Art 6 Abs 2 erster Satz Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 „nicht untergebracht werden dürften“, ist abzuleiten, dass bei dieser Beurteilung nicht auf den durch die Behandlung herbeigeführten Istzustand, sondern auf den Zeitpunkt der Einweisung abzustellen ist (vgl auch Pieber in WK2 StVG § 162 Rz 21/1). Prüfungsmaßstab dafür bilden in aller Regel das Urteil und jenes Gutachten, welches Grundlage für die Einweisung war. Lassen sich auf dieser Basis für die Beurteilung der Gefährlichkeit nach neuer Rechtslage keine ausreichenden Hinweise entnehmen, ist vom Vollzugsgericht ein Gutachten in Auftrag zu geben und anhand dessen abzuklären, ob zum Zeitpunkt der Einweisung nach der Person des Betroffenen, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten war, dass er sonst in absehbarer Zukunft unter dem maßgeblichen Einfluss seiner psychischen Störung eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen im Sinn des § 21 Abs 3 StGB idF BGBl I 2022/223 begehen werde.

[12] Durch den Ausspruch der bedingten Entlassung nach § 47 Abs 1 und 2 StGB bringt der Beschluss des Landesgerichts Steyr als Vollzugsgericht vom 7. September 2023 somit implizit zum Ausdruck, dass der Eingewiesene auch nach § 21 Abs 1 StGB idF BGBl I 2022/223 hätte untergebracht werden dürfen (siehe dazu insbesondere auch 11 Os 80/23h). Diese Annahme blieb aber durch das Referat des Sachverständigengutachtens vom 4. August 2023 (ON 9) offenbar unzureichend begründet (§ 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall [RIS‑Justiz RS0118317]), weil dieses Gutachten zur allfälligen Gefährlichkeit im Sinn des § 21 Abs 1 StGB idF BGBl I 2022/223 im Zeitpunkt der Anordnung der vorbeugenden Maßnahme gerade keine Aussage traf. Solcherart verletzt der Beschluss des Landesgerichts Steyr als Vollzugsgericht § 86 Abs 1 StPO iVm § 6 Abs 2 erster Satz Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022.

[13] Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil des (lediglich) bedingt Entlassenen wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

[14] Von der aufgehobenen Entscheidung rechtslogisch abhängige weitere Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (RIS‑Justiz RS0100444).

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