OGH 2Ob45/24t

OGH2Ob45/24t23.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart, Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Mag. Udo Hansmann, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W*, vertreten durch Rudeck – Schlager Rechtsanwalts KG in Wien, wegen 12.222,34 EUR, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 6. Dezember 2023, GZ 63 R 202/23f‑38, mit dem einer Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 9. August 2023, GZ 52 C 1134/22h‑31, Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00045.24T.0423.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Am 10. 10. 2022 ereignete sich in Wien auf der Kreuzung der Brünner Straße mit der Katsushikastraße ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit ihrem PKW und das bei der Beklagten haftpflichtversicherte, im Einsatz gewesene Rettungsfahrzeug beteiligt waren.

[2] Die Brünner Straße wird in Fahrtrichtung stadteinwärts in insgesamt vier Fahrstreifen und einem Radfahrstreifen geführt. Der äußerst rechte Fahrstreifen ist zum Rechtseinbiegen markiert, links anschließend befindet sich der Radfahrstreifen, daran links anschließend ein Geradeausfahrstreifen und daran links anschließend zwei Linksabbiegefahrstreifen. Die beiden Linksabbiegestreifen sind im Kreuzungsbereich mit Leitlinien markiert. Es gibt für die Fahrstreifen zum Linkseinbiegen und zum Geradeausfahren eine Haltelinie, ungefähr 4 Meter weiter nach vorne in Richtung der Kreuzung versetzt gibt es für den Radfahrstreifen und den Rechtsabbiegerverkehr ebenfalls eine Haltelinie. Nach der Haltelinie gibt es eine Radfahrerüberfahrt, die ebenfalls markiert ist. Es gilt die höchstzulässige Geschwindigkeit von 50 km/h.

[3] Links anschließend an die beiden Linksabbiegefahrstreifen befindet sich ein Gleiskörper mitje einem Schienenstrang für die Fahrtrichtung stadteinwärts und stadtauswärts. Auf dem Schienenstrang gibt es keine Haltelinie.

[4] Am Unfalltag hielt die Klägerin mit ihrem Fahrzeug im linken Linksabbiegefahrstreifen stadteinwärts. Sie wollte an der Kreuzung umkehren und die Brünner Straße stadtauswärts befahren. Als sie sich der Haltelinie im linken Linksabbiegestreifen annäherte, stand eine Straßenbahn aufgrund des Haltezeichens auf Höhe der Haltelinie der Linksabbiegestreifen im Stillstand. Die Klägerin blieb etwa auf Höhe der Front der haltenden Straßenbahn stehen.

[5] In der Zwischenzeit fuhr das Rettungsfahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht aber ohne Folgetonhorn auf den Straßenbahnschienen stadteinwärts und wechselte vom stadteinwärts führenden Schienenstrang auf den daneben stadtauswärts führenden Schienenstrang, um an der haltenden Straßenbahn links vorbeizufahren. Ohne anzuhalten fuhr das Rettungsfahrzeug mit 15 bis 20 km/h an der stehenden Straßenbahn vorbei. Der Lenker wollte über die Halteposition der Straßenbahn hinausfahren und weiter vorne anhalten, um sich einen Überblick über die Kreuzung zu verschaffen.

[6] Inzwischen schaltete die Ampel für die Klägerin zum Linkseinbiegen auf Grünlicht. Sie fuhr normal beschleunigend los, folgte dabei aber nicht den Fahrbahnmarkierungen in der Kreuzung, sondern lenkte ihr Fahrzeug vor die Straßenbahn auf die Radfahrerüberfahrt nach links. Sie achtete dabei nicht auf das mit Blaulicht kommende Rettungsfahrzeug, sodass sie kollidierten. Hätte die Klägerin nach links geschaut, hätte sie das Rettungsfahrzeug rund 4,5 Meter vor der späteren Kollision sehen, aber die Kollision nicht mehr vermeiden können. Auch derLenker des Rettungsfahrzeugs hätte das Fahrzeug der Klägerin vor der Kollision sehen, aber einen Unfall nicht mehr vermeiden können.

[7] Der Sach- und Personenschaden der Klägerin beziffert sich (unstrittig) mit 12.022,34 EUR.

[8] Die Halterin des Rettungsfahrzeugs bezahlte für die Reparatur 7.022,14 EUR. Durch den Unfall entstand dem Eigentümer ein Verwaltungsmehraufwand von 351,11 EUR. Beide traten ihre Ansprüche aus dem Unfall an die Beklagte zum Inkasso ab.

[9] Die Klägerin begehrt den Ersatz der ihr entstandenen Schäden und bringt zusammengefasst vor, der Lenker des Rettungsfahrzeugs habe das aufgrund der Benützung des Gleiskörpers auch für ihn geltende Haltezeichen für die Straßenbahn missachtet und das Folgetonhorn nicht eingeschaltet, obwohl er hinter der Straßenbahn in die Kreuzung eingefahren sei. Die Klägerin habe ihn daher gar nicht wahrnehmen können und darauf vertrauen dürfen, dass auch kein Einsatzfahrzeug in die Kreuzung einfährt. Mangels Wahrnehmbarkeit habe sie auch einen allfälligen Vorrang des Rettungsfahrzeugs nicht wahren können.

[10] Die Beklagte wendet ein, das Haltezeichen für die Straßenbahn habe das Rettungsfahrzeug nicht beachten müssen, weil dieses nur für den öffentlichen, nicht aber den den Gleiskörper zulässig benützenden Individualverkehr gelte. Vielmehr sei die Klägerin entgegen § 13 Abs 1 StVO in engem Bogen, unter Missachtung der Bodenmarkierungen sowie der Radfahrerüberfahrt nach links eingebogen, um umzukehren. Hätte sie sich StVO‑konform verhalten, hätte sie das Rettungsfahrzeug wahrnehmen und den Unfall verhindern können. Die Klägerin treffe daher dass Alleinverschulden. Die Beklagte wendet die an sie abgetretenen Halter- und Eigentümerschäden compensando ein.

[11] Das Erstgericht schloss sich im Wesentlichen der Argumentation der Beklagten an und wies die Klage ab. Aufgrund des grob StVO‑widrigen Verhaltens der Klägerin sei das unterbliebene Einschalten des Folgetonhorns zu vernachlässigen.

[12] Das Berufungsgericht änderte das Urteil dahingehend ab, dass es die Klageforderung als mit 12.022,34 EUR zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend feststellte und dem Klagebegehren in diesem Umfang stattgab. Es ging von einem Verstoß des Lenkers des Rettungsfahrzeugs gegen § 26 Abs 3 StVO aus. Auch wenn das Haltesignal der Straßenbahn nicht unmittelbar für Kraftfahrzeuge gelte, habe sich die Gesamtsituation für den Lenker des Rettungsfahrzeugs so dargestellt, dass Fahrzeuge oder Radfahrer aus anderen Richtungen Grünlicht haben können und eine Situation vorlag, die einem Einfahren einer Kreuzung bei rotem Licht entspreche. Auch wäre aufgrund der eingeschränkten Sichtverhältnisse das Folgetonhorn zu betätigen gewesen. Hätte die Klägerin das Folgetonhorn gehört, wäre sie gewarnt gewesen und hätte die Kollision mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeiden können. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu „rotlichtänhnlichen Situationen iSd § 26 Abs 3 StVO“ fehle, wenn für den Lenker des Einsatzfahrzeugs zwar nicht direkt Rotlicht gelte, aber mit Grünlicht für andere Verkehrsteilnehmer gerechnet werden müsse.

[13] Dagegen richte sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[14] Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist im Sinn einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.

[16] 1. Einsatzfahrzeugen kommt nach § 19 Abs 2 StVO immer der Vorrang zu, gleichgültig woher sie kommen und wohin sie fahren (RS0073521). Der Lenker eines Einsatzfahrzeugs ist nach § 26 Abs 2 StVO nicht an Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen gebunden. § 26 Abs 5 erster Satz StVO verpflichtet vielmehr jeden Straßenbenützer, für den das Herannahen eines Einsatzfahrzeugs erkennbar ist, diesem Platz zu machen (RS0074442). Der Lenker des Einsatzfahrzeugs darf in Zusammenhang mit § 3 StVO damit rechnen, dass alle Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang respektieren (RS0073373).

[17] 2. Diese Vorrangregelung gilt aber nicht im Anwendungsbereich des § 26 Abs 3 StVO (vgl 2 Ob 211/22a Rz 4). Bei einer durch Lichtzeichen geregelten Kreuzung ist § 19 StVO nicht anwendbar, weil Sondernormen bestehen, die den allgemeinen Vorrangregeln des § 19 StVO vorgehen; hier gelten die §§ 38 und 26 Abs 3 StVO (2 Ob 30/93 = ZVR 1994/43).

[18] Gemäß § 38 Abs 5 (iVm Abs 1 lit a) StVO gilt rotes Licht als Zeichen für „Halt“; bei diesem Zeichen haben die Lenker von Fahrzeugen vor der Haltelinie anzuhalten. Gemäß § 26 Abs 3 zweiter Satz StVO dürfen die Lenker von Einsatzfahrzeugen auch bei rotem Licht in eine Kreuzung einfahren, wenn sie vorher angehalten und sich überzeugt haben, dass sie hiebei nicht Menschen gefährden oder Sachen beschädigen. Voraussetzung für ein Einfahren in eine (geregelte) Kreuzung trotz Rotlichts ist daher, dass die Fahrzeuglenker in jedem Fall vor dem Einfahren anhalten, um sich zu vergewissern, dass sie ohne Gefährdung anderer die Kreuzung durchfahren können. Der Lenker eines Einsatzfahrzeugs, der wegen Rotlichts anhalten muss, darf daher erst dann in die Kreuzung einfahren, wenn er sich überzeugt hat, dass hiebei nicht Menschen gefährdet oder Sachen beschädigt werden. Ein Vorrang gegenüber dem Querverkehr, für den grünes Licht gilt, kommt ihm nach der Rechtsprechung nicht zu (2 Ob 95/23v Rz 19 RS0075097). Eine analoge Anwendung der zu § 19 Abs 7 StVO ergangenen Rechtsprechung, nach der sich ein benachrangter Kraftfahrzeuglenker zur Wahrung des Vorrangs des Querverkehrs bei Sichtbehinderung äußerst vorsichtig vorzutasten hat, um die notwendige Sicht zu gewinnen, scheidet aus (RS0075097 [T2]).

[19] 3. Das internationale Übereinkommen über Straßenverkehrszeichen (BGBl 1982/291) bezweckt die Vereinheitlichung der Verkehrszeichen einschließlich der Verkehrslichtzeichen im Interesse der Verkehrssicherheit. Für den Individualverkehr haben daher nur die dem Abkommen entsprechenden Lichtsignalanlagen Geltung und nicht andere dem öffentlichen Verkehr dienende, mögen sie auch auf einem vom Individualverkehrsteilnehmer berechtigt benutzten Fahrstreifen angebracht sein. Sie dienen auch dort nur der Regelung des öffentlichen Verkehrs (2 Ob 190/16d Pkt 4.).

[20] 4. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass für das Rettungsfahrzeug nicht die Lichtsignalanlage für die Straßenbahn, sondern die allgemeine Ampelanlage der Kreuzung Geltung hatte (vgl 2 Ob 190/16d Pkt 4.). Die vom Berufungsgericht aufgeworfene Rechtsfrage stellt sich daher (so) nicht. Für die Beurteilung der Vorrangsituation bei einer durch Lichtzeichen geregelten Kreuzung wie hier ist daher maßgeblich, welches Lichtsignal die allgemeine Ampelanlage für die vom Rettungsfahrzeug beabsichtigte Geradeausfahrt angezeigt hat.

[21] 5. Die Beklagte hat zwar eingewendet, dass das Rettungsfahrzeug an das Haltesignal für die Straßenbahn nicht gebunden sei, und (allein) daraus abgeleitet, dieses habe in die Kreuzung einfahren dürfen. Die Parteien und die Vorinstanzen haben aber offenkundig die Maßgeblichkeit der allgemeinen Ampelanlage auch in Bezug auf das Fahrmanöver des Rettungsfahrzeugs übersehen und dazu weder Vorbringen erstattet noch Feststellungen getroffen.

[22] 6. Das Gericht darf die Parteien in seiner Entscheidung aber nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen, die sie nicht beachtet haben und auf die sie das Gericht nicht aufmerksam gemacht hat (RS0037300). Das Verbot von Überraschungsentscheidungen gilt auch für den Obersten Gerichtshof (6 Ob 170/23b Rz 43 mwN). Das Erstgericht wird daher mit den Parteien obige Grundsätze zu erörtern, ihnen Gelegenheit zur Erstattung weiteren Vorbringens zu geben und zunächst die Ampelschaltung für die Geradeausfahrt zu klären haben.

[23] Die Beweislast dafür, dass das Rettungsfahrzeug trotz Rotlichts in die Kreuzung eingefahren ist und daher ein Verstoß gegen § 26 Abs 3 StVO vorliegt, trifft die Klägerin (vgl RS0112234). Bleibt unklar, ob für das Rettungsfahrzeug Rotlicht herrschte, wäre daher im Ergebnis von grünem Licht auch für dieses auszugehen. Der Abbiegevorgang der Klägerin – bei geteilten Fahrbahnen wie hier besteht das Umkehren im zweimaligen Linksabbiegen auf die Gegenfahrbahn (RS0073909) – wäre primär nach § 38 Abs 4 StVO zu beurteilen (vgl 2 Ob 190/16d Pkt 4.).

[24] Das Erstgericht wird daher zunächst die Vorrangsituation zu klären und anschließend unter Berücksichtigung des sonstigen Parteienvorbringens neuerlich zu entscheiden haben.

[25] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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