OGH 16Ok2/24s

OGH16Ok2/24s28.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Kartellobergericht durch den Hofrat Dr. Annerl als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Parzmayr und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, Wien 3, Radetzkystraße 2, gegen die Antragsgegnerinnen 1. P* AG, 2. P* GmbH, 3. T* GmbH, 5. T* GmbH, jeweils *, und 6. G. *gesellschaft m.b.H., *, alle vertreten durch die Wolf Theiss Rechtsanwälte GmbH & Co KG in Wien, wegen Verhängung einer Geldbuße gemäß § 29 KartG 2005, über den Antrag der Einschreiterin M*, vertreten durch die Brand Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Akteneinsicht, über den Rekurs der Einschreiterin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Kartellgericht vom 9. Februar 2024, GZ 26 Kt 5/21m‑71, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0160OK00002.24S.0328.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Das Verfahren über den Rekurs wird bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über den von der Einschreiterin zu G 26–27/2024 eingebrachten Parteiantrag auf Normenkontrolle, mit dem unter anderem die Aufhebung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 als verfassungswidrig angestrebt wird, unterbrochen.

Nach Vorliegen des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs wird das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt.

 

Begründung:

[1] Mit rechtskräftigem Beschluss vom 17. Februar 2022 verhängte das Erstgericht über die Antragsgegnerinnen wegen Zuwiderhandlungen gegen § 1 KartG 2005 und Art 101 AEUV durch Preisabsprachen, Marktaufteilungen sowie unzulässigen Informationsaustausch in Bezug auf öffentliche und private Ausschreibungen im Bereich Hoch- und Tiefbau im Zeitraum von Juli 2002 bis Oktober 2017 eine Geldbuße von 62,35 Mio EUR. Diese Entscheidung wurde am 25. Juli 2022 in der Ediktsdatei veröffentlicht. Von der Veröffentlichung wurden nur Angaben zu prognostizierten (Konzern‑)Umsätzen der Erstantragsgegnerin betreffend das Jahr 2021 sowie bestimmte Verweise auf Urkunden zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen ausgenommen.

[2] Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2023 beantragte die Einschreiterin Einsicht in den Akt des Kartellgerichts. Sie habe durch die Veröffentlichung der Bußgeldentscheidung davon Kenntnis erlangt, dass sie von wettbewerbswidrigen Handlungen der Antragsgegnerinnen betroffen sei. Sie beabsichtige, den ihr dadurch entstandenen Schaden geltend zu machen, weshalb ihr ein rechtliches Interesse an einer Einsicht in den Kartellakt zukomme.

[3] Die Antragstellerin und der Bundeskartellanwalt stimmten der Akteneinsicht – mit Ausnahme von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen – zu.

[4] Die Antragsgegnerinnen sprachen sich gegen die begehrte Akteneinsicht aus.

[5] Das Erstgericht wies den Antrag der Einschreiterin auf Akteneinsicht ab.

[6] Es legte seiner Entscheidung die beiden in jüngerer Zeit zu Anträgen von Kartellgeschädigten auf Einsicht in den Kartellakt ergangenen Entscheidungen zu 16 Ok 1/22s, 16 Ok 1/23t und 16 Ok 8/23x zugrunde, wonach – hier stark zusammengefasst – der Zugang zu Beweismitteln nicht so ausgestaltet sein dürfe, dass die Erlangung von Schadenersatz durch den Kartellgeschädigten praktisch unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werde. Es sei eine Gesamtbetrachtung der Möglichkeiten zur Informationsgewinnung vorzunehmen, die einem durch einen Wettbewerbsverstoß geschädigten Rechtsträger zur Verfügung stünden. Dabei komme vor allem auch der Veröffentlichung kartellgerichtlicher Entscheidungen in der Ediktsdatei Bedeutung zu, die wesentlich zur Informationsgewinnung des Kartellgeschädigten beitrage. Bei Vorliegen einer solchen Veröffentlichung bedürfe es daher konkret zu behauptender Umstände, aus denen sich ergebe, dass die Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 39 Abs 2 KartG 2005 die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs dennoch übermäßig erschwere, etwa weil Kategorien von Dokumenten benötigt würden, die in die veröffentlichte Entscheidung keinen Eingang gefunden hätten oder typischerweise in eine zu veröffentlichende Entscheidung keinen Eingang finden würden. Dies sei von der Akteneinsicht begehrenden Person darzulegen.

Die Einschreiterin habe nicht plausibel dargelegt, warum ihr die Geltendmachung von Ersatzansprüchen ohne Akteneinsicht – trotz der in der Entscheidungsveröffentlichung sowie in den eigenen Geschäftsunterlagen enthaltenen Informationen – erheblich erschwert wäre. Aufgrund der Gesamtzuwiderhandlung der Antragsgegnerinnen erstrecke sich deren Verantwortung auch auf Verstöße einzelner Kartellmitglieder im Rahmen der Grundvereinbarung, sodass insoweit eine solidarische Haftung bestehe. Eine (zivilrechtliche) Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gegenüber Personen, die nicht Partei jenes Verfahrens waren, in dem der Antrag auf Akteneinsicht gestellt wurde, bezwecke diese nicht. Dass die Einschreiterin den ihr durch Wettbewerbsverstöße der Antragsgegnerinnen verursachten Schaden ohne Akteneinsicht nicht berechnen könne, sei im Hinblick auf die Rechtsprechung, wonach dafür im Schadenersatzprozess ein Vorbringen zu den „historisch“ bezahlten Preisen ausreiche, nicht nachvollziehbar. Durch die angestrebte Akteneinsicht würden auch Rechte Dritter gefährdet, gegen die noch Kartellverfahren wegen jenes (Bau-)Kartells anhängig seien, an dem auch die Antragsgegnerinnen mitgewirkt hätten. Zusammengefasst sei daher an § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 festzuhalten, wonach eine Akteneinsicht nur mit Zustimmung der Parteien erfolgen könne.

[7] Dagegen erhob die Einschreiterin einen Rekurs an den Obersten Gerichtshof als Kartellobergericht.

[8] Sie stellte außerdem einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B‑VG gestützten Parteiantrag auf Normenkontrolle an den Verfassungsgerichtshof, der unter anderem auf eine Aufhebung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 (BGBl I Nr 61/2005 idF BGBl I Nr 176/2021) als verfassungswidrig abzielt. Der Verfassungsgerichtshof verständigte das Erstgericht mit Note vom 1. März 2024 von der Einbringung dieses Antrags zu G 26–27/2024.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die angefochtene Bestimmung ist für das vorliegende Verfahren präjudiziell.

[10] Gemäß § 190 Abs 1 ZPO kann ein Rechtsstreit unterbrochen werden, wenn die Entscheidung ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits ist oder welches in einem anhängigen Verwaltungsverfahren festzustellen ist. Das hier anzuwendende (§ 38 KartG 2005) AußStrG enthält in § 25 Abs 2 Z 1 eine vergleichbare Unterbrechungsmöglichkeit. Für den Fall eines vor dem Verfassungsgerichtshof anhängigen präjudiziellen Verfahrens ist eine solche Unterbrechung weder in der ZPO noch im AußStrG vorgesehen. Diese planwidrige Gesetzeslücke ist hier durch eine analoge Anwendung des § 25 Abs 2 Z 1 AußStrG zu schließen, weil der Zweck der Bestimmung – widersprechende Entscheidungen im Sinne der Einheit der Rechtsordnung zu verhindern – auch im vorliegenden Fall zutrifft (16 Ok 1/24v).

[11] Das Rekursverfahren wird daher bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über die zu G 26–27/2024 erfolgte Anfechtung der Bestimmung des § 39 Abs 2 Satz 1 KartG 2005 unterbrochen. Es wird nach Vorliegen dieser Entscheidung von Amts wegen fortgesetzt werden.

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