OGH 1Ob23/24z

OGH1Ob23/24z5.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely-Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache des mj Z*, geboren * 2012, *, vertreten durch MMag. Michael Krenn, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 4.200 EUR sA sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 16. November 2023, GZ 14 R 116/23s-17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00023.24Z.0305.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 833,96 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu zahlen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ist Schüler einer von der Beklagten betriebenen Volksschule (ganztägige Schule mit Tagesbetreuung). Er wurde während der Nachmittagsbetreuung auf dem Schulgelände durch einen von Mitschülern in Bewegung gesetzten „Punchingball“ verletzt. Er begehrt dafür von der Beklagten Schadenersatz im Wege der Amtshaftung.

[2] Das Berufungsgericht bestätigte die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung. Da sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Schulbesuch des Klägers ereignet habe, komme der Beklagten das Haftungsprivileg der §§ 333 ff ASVG zugute.

[3] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision zur Frage zulässig sei, ob ein Unfall während der „Freizeit“ an einer Ganztagsschule unter das Haftungsprivileg des ASVG falle.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig:

[5] 1. Gemäß § 333 Abs 1 ASVG ist der Dienstgeber nur dann zum Ersatz des Schadens, der dem Versicherten durch eine Verletzung am Körper infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, verpflichtet, wenn er diesen vorsätzlich verursacht hat. Ein Arbeitsunfall ist gemäß § 175 Abs 1 ASVG ein Unfall, der sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignet. § 8 Abs 1 Z 3 lit h ASVG bezieht Schüler (unter anderem an Schulen im Sinn des Schulorganisationsgesetzes [SchOG]) in die gesetzliche Unfallversicherung ein. Gemäß § 175 Abs 4 ASVG gelten solche Unfälle als „Arbeitsunfälle“ eines Schülers, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schulausbildung ereignen. § 335 Abs 3 ASVG normiert ein § 333 Abs 1 ASVG entsprechendes Haftungsprivileg des Trägers der Einrichtung bei Schädigungen von Schülern durch einen solchen „Arbeitsunfall“.

[6] 2. Unfallversicherungsrechtlich geschützt ist nur eine Tätigkeit, die sich als Ausübung der Rolle des Schülers darstellt (RS0085063 [insb T1]; RS0085097 zu Schulveranstaltungen). Insoweit besteht ein rollenbezogener Versicherungsschutz, der daran anknüpft, dass sich der Schüler im organisatorischen Verantwortungsbereich der besuchten Schule befindet (RS0085089). Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände für eine Zurechnung eines Verhaltens zum geschützten Bereich oder zur Privatsphäre des Versicherten sprechen (RS0084490; 10 ObS 126/21h zum Unfall eines Schülers). Ob die Tätigkeit eines Schülers vom Unfallversicherungsschutz umfasst ist, ist jeweils im Einzelfall zu beurteilen (RS0085097 [T5]; RS0085063 [T2]) und begründet daher typischerweise keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO.

[7] 3. Der Oberste Gerichtshof nahm etwa bei folgenden Unfällen eines Schülers einen Unfallversicherungsschutz an: Sturz aus dem Stockbett während eines Schulschikurses (10 ObS 41/91); Sturz von einem Sessel während der Freizeit in einem Tagesschulheim (10 ObS 193/93); Verletzung durch einen Mitschüler in der Mittagspause in einem Internat (10 ObS 23/98z); Verletzung beim Rodeln am Schulgelände während der Freizeit in einem Halbinternat (1 Ob 337/98k).

[8] 4. Das Berufungsgericht ging von den eingangs dargestellten Grundsätzen zum Unfallversicherungsschutz eines Schülers und zum Haftungsprivileg des Schulerhalters aus. Auch deren Anwendung auf den vorliegenden Fall begegnet keinen Bedenken:

[9] 4.1. Wie dargelegt wurden Unfälle während der Freizeit an einer Ganztagsschule bzw einem – dem entsprechenden – „Halbinternat“ bereits mehrfach als „Arbeitsunfälle“ eines Schülers im Sinn des § 175 Abs 4 ASVG qualifiziert. Hervorzuheben ist dabei vor allem die zu 1 Ob 337/98k ergangene Entscheidung zu einem Rodelunfall in der Freizeit eines Halbinternats. Der Schüler unterstand auch während dieser Zeit der – mit einer entsprechenden Abhängigkeit – verbundenen „aufsichtsweisen Überwachung“ durch die Schulorgane. Das Verlassen des Internats war ihm nur nach Abmeldung möglich und es musste auch in der Freizeit ein Erzieher anwesend bzw zumindest erreichbar sein. Davon ausgehend ging der Senat davon aus, dass sich der verletzte Schüler auch während seiner Freizeit im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule befunden habe. Seine Verletzung sei eine Folge der typischen Gefahrenlage aufgrund der Unterbringungen im Halbinternat gewesen. Der (dortige) Kläger habe an der zum Unfall führenden Rodelfahrt in Ausübung seiner Rolle als Schüler teilgenommen.

[10] 4.2. Im vorliegenden Fall besuchte der Kläger eine Ganztagsschule. Nach § 8d Abs 1 SchOG bestehen ganztägige Schulformen aus einem Unterrichts- und einem Betreuungsteil. Gemäß § 8 lit j SchOG ist die Tagesbetreuung in eine (gegenstandsbezogene und individuelle) Lernzeit sowie in Freizeit unterteilt. Letztere ist nach sublit cc durch Lehrer, Erzieher, Freizeitpädagogen oder Personen mit bestimmten anderen Qualifikationen zu „besorgen“. Eine Abmeldung von der Betreuung an einer ganztägigen Schule (somit auch von der „Freizeit“) ist nach § 12a Abs 2 Schulunterrichtsgesetzes (SchUG) nur zum Ende des ersten Semesters möglich. Die Schüler haben den Betreuungsteil regelmäßig zu besuchen (§ 43 Abs 1 SchUG) und dürfen diesem grundsätzlich nicht fernbleiben (§ 45 Abs 7 SchUG). Lehrer, Erzieher und Freizeitpädagogen haben auch im Betreuungsteil entsprechende Erziehungsmittel anzuwenden (§ 47 Abs 1 SchUG). Es besteht während dieser (Betreuungs-)Zeit auch eine Beaufsichtigungspflicht (§ 51 Abs 3 SchUG), was mangels Differenzierung sowohl für die Lernzeit als auch für die Freizeit gilt.

[11] 4.3. Demnach befand sich der Kläger zum Zeitpunkt seines Unfalls (während der Freizeit im Sinn des § 8 lit j sublit cc SchOG) im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Er unterlag dabei der Beaufsichtigungspflicht der zuständigen Schulorgane. Seine Verletzung durch das von einem Mitschüler verwendete „Spielgerät“ war Folge der typischen Gefahrenlage aufgrund der gemeinsamen Freizeitgestaltung in der Ganztagsschule. Der Unfall entsprang nicht dem privaten (außerschulischen) Interesse des Klägers, sondern seiner Rolle als Schüler. Der schulische Bereich war damit nicht bloß zufälliger „Schauplatz“ seiner Verletzung, vielmehr stand diese in einem über den bloßen Kausalzusammenhang hinausgehenden „inneren Zusammenhang“ mit dem Schulbesuch (1 Ob 259/08g).

[12] 5. Die Argumente der Revision überzeugen nicht:

[13] 5.1. Die Entscheidung zu 4 Ob 99/17p betraf keinen Unfall eines Schülers einer Ganztagsschule sondern einen solchen in einem Kindergarten. Das Haftungsprivileg des § 333 ASVG wurde dort nicht thematisiert. Der Entscheidung kann auch nicht entnommen werden, ob sich der Unfall während des von der Unfallversicherung erfassten „verpflichtenden letzten Kindergartenjahrs“ im Sinn des § 8 Abs 1 Z 3 lit l ASVG (in der Fassung BGBl I 99/2009) ereignete.

[14] 5.2. Auch der Hinweis auf die Entscheidung zu 10 ObS 106/15h erfordert keine Korrektur der angefochtenen Entscheidung. Dort ereignete sich der Unfall eines Schülers bei einem mit „eigenen Mitteln“ – aus überwiegend privatem (außerschulischem) Interesse ohne Bezug zum Unterricht – durchgeführten „chemischen Experiment“ im Schlafsaal eines Internats. Der Oberste Gerichtshof hob in dieser Entscheidung die Einzelfallbezogenheit der Beurteilung des inneren Zusammenhangs des Unfalls mit dem Schulbesuch hervor und sah es auch als maßgeblich an, dass der dortige Kläger zum Zeitpunkt seines Unfalls keiner Beaufsichtigung unterlag. Im vorliegenden Fall bestand während des vom Kläger besuchten Betreuungsteils seiner Ganztagsschule aber eine Beaufsichtigungspflicht.

[15] 5.3. Aus der zu 10 ObS 164/03w ergangenen Entscheidung ist für den Kläger schon deshalb nichts zu gewinnen, weil sich der Unfall eines Schülers dort nicht im schulischen Umfeld, sondern im „Garten seiner Eltern“ ereignete. Damit fehlte schon ein örtlicher und zeitlicher Zusammenhang mit der Schulausbildung im Sinn des § 175 Abs 4 ASVG.

[16] 5.4. Dem Argument des Klägers, jene Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignete, sei in keiner „engen Beziehung zu einer bestimmten Schulstufe bzw zum Lehrplan“ gestanden, ist entgegenzuhalten, dass es sich dabei nur um eines von mehreren Kriterien bei der Abgrenzung des inneren Zusammenhangs mit der Schulausbildung handelt.

[17] 6. Zusammengefasst zeigt die Revision kein korrekturbedürftiges Überschreiten des den Vorinstanzen im Einzelfall zukommenden Beurteilungsspielraums auf (vgl RS0044088). Dass ein völlig gleichartiger Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden wurde, begründet keine erhebliche Rechtsfrage (RS0107773).

[18] 7. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte wies auf die Unzulässigkeit der Revision hin (RS0112296).

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