European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00016.24B.0220.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revisionder Beklagten wird nicht Folge gegeben. Der Revision der Klägerin wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens hat das Erstgericht zu entscheiden.
Entscheidungsgründe:
[1] Am 24. 07. 2019 ereignete sich gegen 17:00 Uhr auf der B21 in Waldegg auf Höhe der dort befindlichen Betriebseinfahrt ein Verkehrsunfall, an dem ein von der Klägerin gehaltener und von ihrem Sohn gelenkter PKW undein vom Erstbeklagten gehaltenes und gelenktes Motorrad beteiligt waren. Auf der B21 gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h und ein Überholverbot mehrspuriger Fahrzeuge. Der Lenker des PKW beabsichtigte aus der Betriebsausfahrt nach links auf die B21 Richtung Wiener Neustadt abzubiegen. Er blieb dafür zunächst mit der Front seines Fahrzeugs bei der Haltelinie vor der Bundesstraße stehen und setzte den linken Blinker. Von links kommend näherte sich ein LKW, der bereits rechts blinkte, und dessen Lenker beabsichtigte, auf das Betriebsgelände zu fahren. Der Erstbeklagte fuhr zunächst auf der B21 hinter diesem LKW. Aus der Gegenrichtung näherte sich ebenfalls ein LKW, der links blinkte, deren Lenker in dieBetriebseinfahrt einbiegen wollte. Nachdem die Distanz dieses LKW für ein gefahrloses Passieren ausreichte, richtete der PKW‑Lenker seinen Blick wieder nach links, wo er vor dem rechts blinkenden LKW kein weiteres Fahrzeug wahrnahm, blickte noch einmal nach rechts und fuhr los. Inzwischen begann der Erstbeklagte – als der vor ihm fahrende LKW seine Geschwindigkeit reduzierte – ein Überholmanöver. Beim Überholen des LKW befuhr der Erstbeklagte zumindest teilweise die dort befindliche Sperrfläche. Nach einer Fahrstrecke des PKW von etwa 5 m kam es zur Kollision mit dem Motorrad. Das Motorrad gelangte erst 1,2–1,5 Sekunden vor der Kollision in das Sichtfeld des PKW-Lenkers. Aufgrund einer Gefahrenerkennungszeit von 0,5 Sekunden und einer Vorbremszeit von 1 Sekunde hatte der Lenker des PKW keine Möglichkeit, die Kollision zu verhindern, sofern er nicht damit rechnen musste, dass das Motorrad an dieser Stelle überholt. Hätte der Lenker des PKW beim Losfahren – neuerlich – einen Blick nach links gemacht, hätte er das Motorrad im Augenwinkel erkennen und durch sofortiges Bremsen dem Erstbeklagten ein kollisionsfreies Vorbeifahren ermöglichen können. Wäre der Erstbeklagte hinter dem LKW geblieben, wäre es nicht zur Kollision gekommen.
[2] DieKlägerin begehrte die Zahlung von 5.979,80 EUR für die an ihrem Fahrzeug entstanden Schäden. Der Erstbeklagte habe das Überholverbot missachtet und die Sperrfläche überfahren. Mit einem derart verkehrswidrigen Verhalten habe der Lenker des PKW nicht rechnen müssen.
[3] Die Beklagten wandten eineVorrangverletzung des PKW‑Lenkers und als Gegenforderung 31.206,80 EUR ein.
[4] Das Erstgericht erachtete die Klagsforderung als zur Gänze zu Recht, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend und gab daher dem Zahlungsbegehren zur Gänze statt. Es ging vom Alleinverschulden des Erstbeklagten aus. Nach § 9 Abs 1 StVO dürften Sperrflächen nicht befahren werden, dieses Verbot diene auch dem Schutz des benachrangten Querverkehrs. Der grundsätzlich vorrangberechtigte Erstbeklagte habe diesen verloren, weil der PKW‑Lenker mit einem derart verkehrswidrigen Verhalten des Motorradfahrers nicht rechnen habe müssen.
[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten teilweise Folge und änderte das Urteil – ausgehend von einem Mitverschulden des PKW‑Lenkers von einem Viertel – dahin ab, dass die Klagsforderung mit 4.484,85 EUR und die Gegenforderung bis zu dieser Höhe zu Recht bestehe, weshalb es das Klagebegehren abwies. Gegen besonders gravierende Verbote verstoßende Fahrzeuglenker könnten für sich keinen Vorrang beanspruchen, damit treffe den Lenker des Motorrads an dem Verkehrsunfall das weit überwiegende Verschulden. Dem Lenker des PKW sei aber auch ein Aufmerksamkeitsfehler anzulasten. Er hätte nicht unter allen Umständen davon ausgehen dürfen, dass von links kein – anderes – Fahrzeug kommen werde, weil das Vorbeifahren am LKW für ein einspuriges Fahrzeug auch ohne Befahren der Sperrfläche möglich gewesen wäre.
[6] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein benachrangter nach links einbiegender Fahrzeuglenker bei Vorhandensein einer Sperrfläche und eines Überholverbots unter allen Umständen davon ausgehen dürfe, dass von links kein Fahrzeug kommen könne.
[7] Dagegen richten sich die Revisionender Klägerin und der Beklagten, jene der Klägerin mit dem Antrag, das gänzlich klagsstattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen, jene der Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zugunsten des Erstbeklagten abzuändern.
[8] DieStreitteile beantragen in ihren Revisionsbeantwortungen jeweils, der Revision der Gegenseite nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die Revisionen sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; jene der Klägerin ist auch berechtigt.
[10] 1. Nach § 9 Abs 1 StVO dürfen Sperrlinien (§ 55 Abs 2) nicht überfahren und Sperrflächen (§ 45 Abs 4) nicht befahren werden. Das Verbot des § 9 Abs 1 StVO dient meist (aber nicht immer) dem Schutz des Gegenverkehrs, es können aber auch andere – etwa aus dem Querverkehr kommende – Verkehrsteilnehmer vom Schutzzweck erfasst sein (vgl 2 Ob 172/04i zu einer ähnlichen Konstellation auf einer Bundesstraße). Der Schutzzweck der genannten Norm diente daher auch hier unter anderem dazu, demLenker des PKW das Einbiegen in die Bundesstraße zu erleichtern. Dem Erstbeklagten liegt hier durch das festgestellte teilweise Überfahren der Sperrfläche eine gravierende Verkehrswidrigkeit zur Last, wobei die Frage zu beurteilen ist, ob diese Verkehrswidrigkeit den Verlust des dem Erstbeklagten grundsätzlich gegenüber dem PKW der Klägerin zugekommenen Vorrangs zur Folge hatte.
[11] 2. Zwar geht nach der Judikatur der Vorrang durch die Übertretung von Verkehrsvorschriften grundsätzlich nicht verloren; dies gilt aber dann nicht, wenn der Wartepflichtige mit einer derartigen Fahrweise nicht rechnen musste sowie bei besonders krassen Verkehrswidrigkeiten (RS0074976 [T11 bis T14]). Der Grundsatz verliert dann seine Wirkung, wenn der auf der bevorrangten Straße fahrende Verkehrsteilnehmer vom Wartepflichtigen nicht oder nicht aus dieser Annäherungsrichtung erwartet werden kann (RS0073421). Ein Verkehrsteilnehmer, der eine Verkehrsfläche benutzt, die überhaupt nicht befahren werden darf, kann sich nicht auf die Vorrangregel berufen (RS0073375).
[12] 3.1. Auch im vorliegenden Fall hat der Erstbeklagte seine Position kurz vor der Kollision mit dem PKW nur durch eine gravierende Verkehrsübertretung – das Befahren der Sperrfläche – erreichen können. Das Berufungsgericht und die Beklagten in ihrer Revision argumentieren mit dem Umstand, dass „theoretisch“ das Überholen des LKW für ein einspuriges Fahrzeug auch ohne Überfahren der Sperrfläche möglich gewesen wäre, weshalb der PKW‑Lenker nicht unter allen Umständen davon ausgehen hätte dürfen, dass von links kein anders Fahrzeug mehr kommen könne. Diese Argumentation blendet allerdings aus, dass ein solches Manöver in der konkreten Situation – selbst ausgehend von der Möglichkeit, die Sperrfläche dabei nicht zu befahren – nur unter Missachtung des geltenden Überholverbots stattfinden hätte können. Das unterscheidet die vorliegende Konstellation auch von der von den Beklagten ins Treffen geführten Entscheidung zu 2 Ob 47/94. Dort ist der Fachsenat davon ausgegangen, dass unter Umständen ein bevorrangter Lenker auf der Bundesstraße ein Überholmanöver vor der dort relevanten Sperrlinie beginnen und nicht rechtzeitig beenden hätte können und deshalb die benachrangte Lenkerin die von ihr aus gesehen rechte Fahrbahnhälfte durch einen zumutbaren Blick in den Verkehrsspiegel im Blick behalten hätte müssen. Im vorliegenden Fall ist keine Konstellation denkbar, die den Erstbeklagten ohne gravierende Missachtung einer Verkehrsvorschrift zum Hindernis für den einbiegenden PKW hätte werden lassen können. Der PKW‑Lenker musste daher nach den oben dargestellten Grundsätzen der Rechtsprechung mit dieser Fahrweise des Erstbeklagten nicht rechnen, weshalb sich dieser nicht mehr auf seinen ihm grundsätzlich davor zugekommenen Vorrang berufen kann.
[13] 3.2. Nach den Feststellungen ist das Motorrad erst 1,2–1,5 Sekunden vor der Kollision in den Sichtbereich des PKW Lenkers gekommen, weshalb dieser – unter Berücksichtigung von Reaktions‑ und Vorbremszeit – keine Möglichkeit hatte, die Kollision zu verhindern. Die der Entscheidung 2 Ob 172/04i zu Grunde liegende Unfallkonstellation betraf einen in die Bundesstraße einbiegenden und damit benachrangten PKW, dessen Lenkerin von einem überholenden Fahrzeug überrascht wurde, das eine Sperrfläche benutzt hat. Mangels Möglichkeit der benachrangten Fahrzeuglenkerin den Unfall zu vermeiden, traf das Verschulden den überholenden PKW‑Lenker. In der Entscheidung 2 Ob 197/13d war eine Konstellation zu beurteilen, in der eine aus dem benachrangten Querverkehr kommende Radfahrerin mit im Gleisbereich fahrenden und die Sperrfläche überfahrenden Verkehrsteilnehmern auf der bevorrangten Straße nicht rechnen musste. Da die Radfahrerin dort das verkehrswidrige Fahrmanöver ihres späteren Unfallgegners bis unmittelbar vor der Kollision nicht wahrnehmen konnte, war ihr auch eine unfallverhütende Reaktion nicht mehr möglich, weshalb der Fachsenat vom Alleinverschulden des dortigen Beklagten ausging.
[14] 3.3. Diese beiden Unfallkonstellationen sind mit der hier zu beurteilenden Situation vergleichbar. Auch hier hätte der PKW‑Lenker den Erstbeklagten nach den Feststellungen nur „im Augenwinkel“ erkennen können. Unter Berücksichtigung des festgestellten Zeitablaufs (das Motorrad war max 1,5 Sekunden im Sichtbereich des PKW) hat der PKW‑Lenker – entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts – hier keinen Aufmerksamkeitsfehler gegenüber einem Fahrzeug zu verantworten, mit dessen Auftauchen er nicht zu rechnen brauchte. Es trifft ihn daher an dem Unfall kein Mitverschulden.
[15] 4. Damit war der Revision der Beklagten nicht, jener der Klägerin aber Folge zu geben und das gänzlich klagsstattgebende Ersturteil wiederherzustellen.
[16] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 3 ZPO.
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