OGH 9ObA104/23v

OGH9ObA104/23v24.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ing. S*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei R* AG, *, vertreten durch die ZFZ Zeiler Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 3.834,45 EUR brutto sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. September 2023, GZ 10 Ra 85/23b‑12, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 28. März 2023, GZ 22 Cga 5/23z‑8, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00104.23V.0124.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 602,54 EUR (darin 100,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin ist bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Dienstverhältnis gelangt der Kollektivvertrag für die Angestellten der Banken und Bankiers (in Folge kurz KV) zur Anwendung.

[2] Nach der Rückkehr aus einem Langzeitkrankenstand vereinbarten die Parteien zunächst für die Zeit vom 22. 11. 2021 bis 21. 5. 2022 Wiedereingliederungsteilzeit im Ausmaß von 19,25 Stunden (50 % der kollektivvertraglichen Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden). Mit Beginn 1. 4. 2022 wurde die Wiedereingliederungsteilzeit bis 15. 8. 2022 verlängert und die Wochenarbeitszeit auf 26,92 Stunden (70 % der kollektivvertraglichen Wochenarbeitszeit) erhöht.

[3] Während der Wiedereingliederungsteilzeit aliquotierte die Beklagte die Höhe der Sonderzahlungen der Klägerin.

[4] Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Differenz der Sonderzahlungen für 2021 und 2022 in Höhe von insgesamt 3.834,45 EUR brutto. Sie stützt ihren Anspruch auf § 29 Abs 6 KV, wonach ihr die kollektivvertraglichen Sonderzahlungen während der Wiedereingliederungsteilzeit im ungekürzten Ausmaß zustünden.

[5] Die Beklagte bestritt und beantragte Klagsabweisung. § 29 Abs 6 KV regle nur finanzielle Aspekte des Krankenstands, nicht aber der Wiedereingliederungsteilzeit.

[6] Das Erstgerichtgab dem Klagebegehren, gestützt auf den Wortlaut des § 29 Abs 6 KV, statt.

[7] Das Berufungsgerichtwies über Berufung der Beklagten das Klagebegehren ab. § 29 Abs 6 KV regle die Bezüge des Arbeitnehmers im Krankheitsfall. Die Wiedereingliederungsteilzeit nach § 13a AVRAG sei aber kein Teilkrankenstand, sondern setze die Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers voraus. Sowohl nach dem Wortsinn als auch der systematischen Einordnung des § 29 Abs 6 KV regle diese Bestimmung nur Ansprüche, die in einem direkten Zusammenhang mit einer Erkrankung stünden.

[8] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Auslegung der strittigen Kollektivvertragsbestimmung zu.

[9] In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Klägerin die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Wiederherstellung des klagestattgebenden Ersturteils.

[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision der Klägerin nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision der Klägerin ist zulässig (RS0042819; RS0109942), sie ist aber nicht berechtigt.

[12] 1.1. § 29 des Kollektivvertrags für die Angestellten der Banken und Bankiers trägt (auch in den hier relevanten Zeiträumen 2021 und 2022) die Überschrift „Bezüge im Krankheitsfall“. Dessen Absatz 1 Satz 1 und Absatz 6 lauten:

„(1) Im Allgemeinen gelten hinsichtlich Fortzahlung des Entgeltes im Falle der Erkrankung eines Arbeitnehmers die Bestimmungen der §§ 8, 9 AngG mit der Maßgabe, dass das volle Entgelt auch dann bezahlt wird, wenn nach § 8 Abs 1 und 2 AngG nur eine teilweise Entgeltszahlung gebührt.

(6) Falls der Anspruch auf laufendes Entgelt wegen einer lang andauernden Erkrankung zur Gänze oder teilweise entfällt, gebühren die kollektivvertraglichen Sonderzahlungen gemäß § 12 Abs 1 im unverkürzten Ausmaß.“

[13] 1.2. § 29a KV trägt die Überschrift „Betriebliche Gesundheitsvorsorge und Betriebliches Eingliederungsmanagement“. Dessen Absatz 2 Satz 1 lautet:

„Das betriebliche Eingliederungsmanagement stellt ein System dar, wie Arbeitnehmer nach längeren krankheitsbedingten Abwesenheiten wieder in den Arbeitsprozess integriert werden können.“

[14] 2. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt auszulegen (RS0010088; RS0008807; RS0008782). In erster Linie ist daher der Wortsinn – auch im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen – zu erforschen und die sich aus dem Text des Kollektivvertrags ergebende Absicht der Kollektivvertragsparteien zu berücksichtigen (RS0010089 [T2]). Dabei darf den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unterstellt werden, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten (RS0008828; RS0008897).

[15] 3.1. Die Auslegung des § 29 Abs 6 KV durch das Berufungsgericht ist zutreffend. § 29 Abs 6 KV enthält Bestimmungen über die Bezüge im Krankheitsfall. Dessen Anwendung setzt demnach einen Krankenstand des Arbeitnehmers voraus. Die Regelung erweitert die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 8 AngG) zu Gunsten des Arbeitnehmers.

[16] 3.2. Die Vereinbarung einer Wiedereingliederungsteilzeit nach § 13a AVRAG setzt hingegen die (vollständige) Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers voraus (vgl § 13a Abs 1 Z 1 AVRAG). Bei der Wiedereingliederungsteilzeit handelt es sich um keinen Teilkrankenstand (Drs in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm § 143d ASVG Rz 1). Für die Dauer der Wiedereingliederungsteilzeit entfällt nicht der Anspruch des Arbeitnehmers auf laufendes Entgelt im Sinne des § 29 Abs 6 KV, sondern der Arbeitnehmer hat einen entsprechend der vereinbarten Arbeitszeitverkürzung herabgesetzten Entgeltanspruch (§ 13a Abs 6 AVRAG). Die sozialrechtliche Flankierung der Wiedereingliederungsteilzeit erfolgt durch das dem Arbeitnehmer aliquot der verkürzten Arbeitszeit zustehende Wiedereingliederungsgeld (§ 143d Abs 1 bis 3 ASVG). Dieses errechnet sich aus dem erhöhten Krankengeld nach § 141 Abs 2 ASVG. Sonderzahlungen sind bei dessen Bemessung im Ausmaß eines Zuschlags von 17 % zu berücksichtigen. Dieser Zuschlag darf aber ein Sechstel der Höchstbeitragsgrundlage nicht übersteigen (§ 125 Abs 3 ASVG iVm § 21 Abs 2 der Satzung der Österreichischen Gesundheitskasse; Windisch-Graetz in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm § 125 ASVG Rz 6 mwN). Damit soll der dem Arbeitnehmer entstehende Einkommensverlust teilweise ausgeglichen werden.

[17] 3.3. Der Wortlaut „wegen einer langandauernden Erkrankung“ in § 29 Abs 6 KV kann, worauf die Revision ihren Fokus legt, nicht für sich alleine zum Verständnis der Bestimmung herangezogen werden. Im Zusammenhang mit dem übrigen Wortlaut des Absatz 6 („Entgelt ... wegen ... Erkrankung ... entfällt“), der Überschrift des § 29 KV („Bezüge im Krankheitsfall“) und der kollektivvertraglichen Regelung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements in § 29a KV (systematische Interpretation) ist § 29 Abs 6 KV so auszulegen, dass er nicht auf die Wiedereingliederungsteilzeit anzuwenden ist. Der in der Revision ins Treffen geführte (kausale) Zusammenhang zwischen einer lang andauernden Erkrankung und der Wiedereingliederungsteilzeit ist selbstverständlich gegeben, trägt aber die von der Klägerin gewünschte Auslegung des § 29 Abs 6 KV nicht. Während der Wiedereingliederungsteilzeit entfällt nicht teilweise das laufende Entgelt wegen der Erkrankung, sondern wegen der nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit vorgenommenen Arbeitszeitverkürzung.

[18] 3.4. Dieser vom Senat vorgenommenen Auslegung steht auch der erkennbare Zweck der Regelung nicht entgegen. § 29 Abs 6 KV soll dem Arbeitnehmer im Krankheitsfall einen Anspruch auf Sonderzahlung gewähren, der ihm nach dem Gesetz (§ 8 Abs 1, § 16 AngG) nicht zustünde (vgl RS0030306). Hätten die Kollektivvertragsparteien nach Einführung des Wiedereingliederungsteilzeitgesetzes mit 1. 7. 2017 ihre zu diesem Zeitpunkt bereits für den Krankheitsfall bestehende Regelung des § 29 Abs 6 KV auch auf die Wiedereingliederungsteilzeit angewendet wissen wollen, wäre zudem zu erwarten gewesen, dass diese Absicht im Kollektivvertragstext einen entsprechenden Niederschlag (etwa in § 29a Abs 2 KV) gefunden hätte.

[19] 3.5. Richtig ist, dass Sonderzahlungen zwar dann in unverkürztem Ausmaß gebühren, wenn der Arbeitnehmer aufgrund einer Beendigung des Entgeltfortzahlungsanspruchs gar keinen Anspruch auf laufendes Entgelt mehr hat (§ 29 Abs 6 KV), nicht jedoch dann, wenn er aufgrund einer Wiedereingliederungsteilzeit Anspruch auf einen Teil der laufenden Bezüge hat. Dies führt aber nicht zu einer (unsachlichen) Ungleichbehandlung zwischen diesen Arbeitnehmern, weil sich diese Sachverhalte in der Ursache der Entgelteinbuße (Krankheit versus Arbeitszeitverkürzung) unterscheiden.

[20] Der Revision der Klägerin war daher nicht Folge zu geben.

[21] Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte