OGH 2Ob224/23i

OGH2Ob224/23i23.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj V*, geboren * 2015, wegen hauptsächlicher Betreuung und Wohnsitzwechsel, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter MMag. K*, vertreten durch Dr. Helene Klaar, Dr. Norbert Marschall, Rechtsanwälte OG in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 27. September 2023, GZ 43 R 411/23v‑20, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Döbling vom 5. August 2023, GZ 7 Ps 135/23i‑6, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00224.23I.0123.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Vater und Mutter sind sind seit Mai 2023 geschieden und haben die gemeinsame Obsorge für die Minderjährige.

[2] DerVater beantragte im Juli 2023 ein Verbot der Wohnsitzänderung der Minderjährigen durch die Mutter, die vorläufige Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts der Minderjährigen beim Vater und die Zustimmung des Gerichts zur Wohnsitzänderung der Minderjährigen. Die Minderjährige habe nach der Scheidung vereinbarungsgemäß ihren Hauptaufenthaltsort bei der Mutter in der früheren Ehewohnung gehabt, wo auch der Vater sein Kontaktrecht regelmäßig ausüben habe können. Die Mutter habe nun überraschend diese Wohnung in Wien gekündigt und den Vater darüber informiert, dass sie mit der Minderjährigen nach Budapest/Ungarn ziehen werde. Dies widerspreche dem Wohl der Minderjährigen. Die Mutter leide an einer schizoaffektiven Störung und befinde sich deshalb bereits seit 2021 in psychiatrischer Behandlung. Da sie die medikamentöse Behandlung abgesetzt habe, leide sie an immer heftiger werdenden Schüben, die mit dem Kindeswohl abträglichen Wahnvorstellungen einhergingen, weshalb auch eine Gefährdungsabklärung veranlasst worden sei. Er selbst habe in Pecs/Ungarn eine neue Arbeitsstelle und plane den Umzug dorthin. Die Minderjährige sei bereits für die deutschsprachige Grundschule angemeldet und könne dort in einem liebevollen familiären Umfeld der väterlichen Familie betreut werden.

[3] Das Erstgerichterklärte – ohne Anhörung der Mutter – nach Einsicht in die Gefährdungsabklärung des Amtes für Jugend und Familie aus dem Sommer 2023, die nicht von einer Kindeswohlgefährdung durch den Hauptaufenthaltsort bei der Mutter ausging, die Wohnsitzverlegung der Minderjährigen mit der Mutter nach Budapest für unzulässig, legte den hauptsächlichen Aufenthalt der Minderjährigen vorläufig beim Vater fest und genehmigte die Wohnsitzverlegung der Minderjährigen mit dem Vater nach Pecs/Ungarn. Diesem Beschluss erkannte es sofortige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu.

[4] In ihrem Rekurs rügte die Mutter die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Hätte man sie vor Beschlussfassung angehört, hätte sie vorgebracht, dass sie vor dem Umzug mit ihrer Tochter sowohl die Wohn- als auch die Schulsituation für ihre Tochter regeln würde. Sie leide zwar an einer psychischen Erkrankung, befinde sich aber in Behandlung und befolge sämtliche ärztlichen Anweisungen und gefährde ihre Tochter zu keiner Zeit. Sie könne der Minderjährigen ein liebevolles Zuhause bieten. Der Vater leide unter Kontrollzwang und habe deshalb erhebliche Erziehungsdefizite. Zu ihrem Vorbringen erstattete die Mutter Beweisanbote.

[5] Das Rekursgericht bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung. Die Mutter sei zwar vor der Entscheidung nicht gehört worden, doch könne eine vorläufige Maßnahme auch ohne Anhörung des Antragsgegners erlassen werden, wenn diese Entscheidung zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände unverzüglich zu treffen sei. Im Übrigen seien Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss von der Rechtsmittelinstanz zu berücksichtigen, wenn dies das Kindeswohl erfordere. Auch bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs könne in der Sache selbst entschieden werden. Ein allfälliger Verfahrensmangel könne dahingestellt bleiben, weil aktenkundig sei, dass die Wohnung, die die Mutter zur Übersiedlung nach Budapest in Aussicht genommen habe, vermüllt sei und die Mutter wieder in Österreich wohne. Auf ihre Arbeitsmöglichkeiten und eine Schule für die Minderjährige komme es damit nicht mehr an. Eine neuerliche Wohnsitzverlegung sei dem Kindeswohl jedenfalls abträglich.

[6] Der Revisionsrekurs derMuttermoniert unter Wiederholung des im Rekurs erstatteten Vorbringens sowie der Beweisanbote neuerlich die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs und strebt die Abweisung der Anträge des Vaters an.

[7] DerVater beantragt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurück-, hilfsweise abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.

[9] 1. Grundsätzlich ist im Verfahren außer Streitsachen gemäß § 15 AußStrG den Parteien Gelegenheit zu geben, von dem Gegenstand, über den das Gericht das Verfahren von Amts wegen eingeleitet hat, den Anträgen und Vorbringen der anderen Parteien und dem Inhalt der Erhebungen Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen. Die Wahrung des rechtlichen Gehörs stellt einen der wichtigsten Grundsätze des Verfahrensrechts dar (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 15 Rz 2).

[10] 1.1. Das Erfordernis allseitigen Parteiengehörs wird seit der EGMR‑Entscheidung vom 15. 10. 2009, 17056/06, Micallef gegen Malta, auch für Provisorialverfahren als Regelfall angesehen. Dies hat der Oberste Gerichtshof auch für Verfahren wegen vorläufiger Maßnahmen außerhalb der EO bejaht, etwa für Verfahren wegen vorläufiger Obsorgeübertragung (9 Ob 8/14p [Rz 2], 4 Ob 215/22d Rz 10). Der EGMR hält jedoch ausnahmsweise ein einseitiges Verfahren für zulässig, wenn die Effektivität einer Maßnahme von einer besonders raschen Entscheidung abhängt. Daher ist im Obsorgeverfahren die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme gemäß § 107 Abs 2 AußStrG ohne vorangehende Anhörung des Antragsgegners möglich, wenn diese Entscheidung zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände unverzüglich zu treffen ist (1 Ob 57/19t mwN). Dabei ist ein strenger Maßstab geboten, weil dem Antragsgegner im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren bei unterbliebener Anhörung kein Rechtsbehelf zur nachträglichen Gewährung des rechtlichen Gehörs vor dem Erstgericht – wie § 397 EO im Verfahren wegen einstweiliger Verfügung – zur Verfügung steht (4 Ob 53/23g mwN).

[11] 1.2. Besondere Umstände im oben beschriebenen Ausmaß lagen im gegenständlichen Fall nicht vor. Die Anträge vom 31. Juli nahmen Bezug auf eine für ein Monat später geplante Änderung des Aufenthaltsorts der Minderjährigen. Der Vater erwähnte in seinem Antrag selbst, in der Zwischenzeit mit der Minderjährigen auf Urlaub zu fahren und Kontakte zu ihr zu pflegen. Die aktuelle Gefährdungsabklärung des Amtes für Jugend und Familie ergab keine Kindeswohlgefährdung. Schwierigkeiten mit der Kontaktaufnahme mit der Mutter behauptete der Vater gar nicht. Es gab daher keinen Anlass, der Mutter im gegenständlichen Verfahren kein rechtliches Gehör zu gewähren.

[12] 2. Gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG können schwere Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die das Rekursgericht verneint hat, auch noch im Revisionsrekurs gerügt werden, weil das Gesetz keine § 519 ZPO vergleichbare Bestimmung enthält (Klicka/Rechberger in Rechberger/Klicka, AußStrG³ [2020] § 66 Rz 2). Dies gilt insbesondere für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (RS0121265 [insbes T4]; 2 Ob 24/22a Rz 5).

[13] 2.1. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs führt aber nicht in jedem Fall zur Aufhebung der Entscheidung (RS0120213 [T11]). Der Rechtsmittelwerber hat darzulegen, welches konkrete Vorbringen er erstattet beziehungsweise welche konkreten Beweismittel er angeboten hätte, wäre er dem Verfahren erster Instanz umfassend beigezogen worden (RS0120213 [T9]). Selbst dann ist die Verletzung des rechtlichen Gehörs nur wahrzunehmen, wenn sie Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0120213 [T20]). Beide Voraussetzungen liegen hier vor: Die Mutter hat sowohl im Rekurs als auch im Revisionsrekurs umfassend dargelegt, welche Gründe aus ihrer Sicht gegen die beabsichtigte Übersiedlung des Vaters mit der Minderjährigen und die Veränderung des Hauptaufenthaltsorts der Minderjährigen sprechen. Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts reichen die aktenkundigen Umstände zum Zeitpunkt der Entscheidung in zweiter Instanz für eine Sachentscheidung nicht aus. Die Mutter hat unter anderem eine Kindeswohlgefährdung durch zwanghafte Verhaltensweisen des Vaters behauptet, womit sich keine der Vorinstanzen bis jetzt auseinandergesetzt hat.

[14] 2.2. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die Beteiligten zu hören und nach Durchführung eines Beweisverfahrens auf Basis von Feststellungen eine neuerliche Entscheidung zu treffen haben.

[15] 3. Es ist daher dem Revisionsrekurs Folge zu geben.

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