OGH 2Ob24/22a

OGH2Ob24/22a30.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, den Senatspräsidenten Dr. Musger sowie die Hofräte Dr. Nowotny, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj 1. Z*, und 2. R*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter M*, vertreten durch Korn & Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 13. Jänner 2022, GZ 21 R 262/21g‑220, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00024.22A.0530.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen legten – unter Anordnung eines stufenweisen Übergangs – die hauptsächliche Betreuung des gemeinsamen Sohnes vorläufig im Haushalt des Vaters fest (1.), räumten der Mutter ein Kontaktrecht an jedem zweiten Wochenende von Freitag bis Sonntag sowie in jeder Woche am Mittwoch Nachmittag ein (2.), trugen dem Vater die Organisation einer geeigneten Förderung des Sohnes im Bereich der Ergotherapie und Logopädie auf (3.), gewährtem dem Vater ein Kontaktrecht zur mj R* gemäß § 188 Abs 2 ABGB jedes zweite Wochenende von Freitag Nachmittag bis Sonntag Abend, wobei die Wochenendkontakte immer dann stattfinden sollten, wenn der gemeinsame Sohn nicht bei der Mutter ist (4.), und trugen dem Vater den Besuch einer Elternberatung auf (5.).

Rechtliche Beurteilung

[2] Die Mutter zeigt mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs, mit dem sie die vorläufige Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts des Sohnes bei ihr und die Aufhebung der mit dem hauptsächlichen Aufenthalt beim Vater verbundenen Regelungen (Spruchpunkte 2. bis 4.) anstrebt, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf.

[3] 1. Auch im Außerstreitverfahren kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RS0050037; RS0030748). Dieser Grundsatz ist im Pflegschaftsverfahren ausnahmsweise dann nicht anzuwenden, wenn das Aufgreifen eines solchen Verfahrensfehlers zur Wahrung des Kindeswohls im Einzelfall erforderlich ist (RS0050037 [T1, T4, T8, T9, T18]; RS0030748 [T2, T5, T18]).

[4] Zwar ist die Stellungnahme eines Psychologen der Familiengerichtshilfe nicht einem Sachverständigen‑gutachten im Sinn des § 351 ZPO gleichzusetzen, was im Einzelfall aber nicht ausschließt, dass eine derartige Stellungnahme im Zusammenhang mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bildet (RS0108449 [T4]). Hinsichtlich des Umfangs der Beweisaufnahme ist der Richter nicht streng an die Anträge der Parteien gebunden; er kann darüber hinausgehen, aber auch nach seinem Ermessen im Interesse einer zügigen Verfahrensführung von der Aufnahme einzelner Beweismittel Abstand nehmen, wenn auch auf andere Weise eine (ausreichend) verlässliche Klärung möglich ist (RS0006319 [T6]). Es besteht kein genereller Grundsatz, dass das Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren immer einen Sachverständigen beizuziehen hätte (RS0006319 [T7, T13]; 5 Ob 104/19h). Dies hat umso mehr für eine bloß vorläufige Entscheidung über den hauptsächlichen Aufenthalt des Minderjährigen zu gelten. Gelangen die Vorinstanzen – wie im vorliegenden Fall – zum Ergebnis, dass die Stellungnahme der Familiengerichtshilfe im Zusammenhalt mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bildet, ist die der Beweiswürdigung zuzuordnende Frage, ob im Einzelfall zusätzlich ein Sachverständigengutachten oder die Einvernahme weiterer Zeugen erforderlich gewesen wäre, vom Obersten Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, nicht überprüfbar (RS0007236 [T9]; RS0108449 [T4]; 1 Ob 94/21m).

[5] 2. Die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG genannten Mängel, zu denen auch die Verletzung des rechtlichen Gehörs zählt, können auch noch dann im Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint wurden (RS0121265 insbes [T4]). Das rechtliche Gehör wird in einem Zivilverfahren nicht nur dann verletzt, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (RS0005915). Soweit die Mutter eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs darin erblickt, dass ihr die 56 Seiten umfassende Stellungnahme der Familiengerichtshilfe erst zwei Werktage vor der Verhandlung über die vorläufige Festlegung des hauptsächlichen Aufenthalts zugestellt wurde und sie sich krankheitsbedingt nicht persönlich, sondern nur durch ihren Vertreter dazu äußern konnte, unterlässt sie es, die Relevanz des behaupteten erheblichen Verfahrensverstoßes darzutun (RS0120213 [T14, T21, T27]). Der bloße Hinweis, nicht näher konkretisierte fachliche Gegenausführungen hätten zu einer anderen Einschätzung geführt, reicht nicht aus.

[6] 3. Gemäß § 107 Abs 2 AußStrG hat das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen – etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens – notwendig sind, aber eine rasche Regelung für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinn reduziert, dass diese – entgegen der Ansicht des Revisionsrekurses – nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (RS0129538). Der – von der Mutter ins Treffen geführte – Grundsatz der Kontinuität der Erziehung darf nicht um seiner selbst willen aufrecht erhalten werden, sondern ist dem Wohl des Kindes unterzuordnen (RS0047928 [T2]). Wenn die Vorinstanzen unter Mitberücksichtigung des Kontinuitätsprinzips sowie der festgestellten elternbezogenen Faktoren von einer Förderung des Kindeswohls durch Festlegung des vorläufigen Aufenthalts des Sohnes beim Vater ausgegangen sind, stellt dies auch unter Berücksichtigung des angeordneten stufenweisen Übergangs sowie des Auftrags, eine geeignete Förderung im Bereich der Ergotherapie und Logopädie zu organisieren, keine aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.

[7] 4. Weshalb entgegen der ausführlichen Begründung des Rekursgerichts eine vorläufige Kontaktrechtsregelung zwischen dem Vater und der mj R* gemäß § 188 Abs 2 ABGB iVm § 107 Abs 2 AußStrG nicht möglich sein soll, legt der Revisionsrekurs nicht dar. § 107 Abs 2 AußStrG schränkt die Möglichkeit einer vorläufigen Kontaktrechtsregelung nicht auf bestimmte Kontaktverhältnisse (zB: Eltern – leibliche Kinder) ein, sondern spricht generell von der „Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte“, das aber eben gemäß § 188 Abs 2 ABGB – sofern dem Kindeswohl förderlich (vgl 10 Ob 53/13m Punkt II.2.1) – auch Dritten (hier: dem als leiblichen Elternteil agierenden Vater) eingeräumt wird. Dass die persönlichen Kontakte – wie von den Vorinstanzen angenommen – dem Kindeswohl dienen, zieht der Revisionsrekurs nicht in Zweifel.

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