OGH 7Ob170/23k

OGH7Ob170/23k22.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* D*, vertreten durch Dr. Armin Exner, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei A*‑Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Andreas Kolar, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Feststellung, hilfsweise Zahlung von 7.637,09 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 2. Dezember 2022, GZ 3 R 195/22f‑25, womit das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 19. Mai 2022, GZ 30 C 150/21x‑17, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00170.23K.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger hat bei der Beklagten für seinen PKW einen Kaskoversicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Fahrzeug‑Vollkaskoversicherung (Kollisionskaskoversicherung KKB 2017, in Hinkunft KKB) zugrunde liegen, abgeschlossen. Diese lauten auszugsweise:

Artikel 1

Was ist versichert?

(Umfang der Versicherung)

1. Versichert sind das Fahrzeug und seine Teile, die im versperrten Fahrzeug verwahrt oder an ihm befestigt sind, gegen Beschädigung, Zerstörung und Verlust

[...]

1.5 durch mut- oder böswillige Handlungen betriebsfremder Personen;

1.6 durch Unfall, das ist ein unmittelbar von außen plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis; Brems-, Betriebs- und reine Bruchschäden sind daher nicht versichert.

[...]“

[2] Das Fahrzeug wird vom Kläger und seiner Frau benützt, wobei vorwiegend die Frau das Fahrzeug in Verwendung hat. Am 4. 4. 2021 fielen dem Kläger und seiner Frau Lackkratzer auf, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit durch die unsachgemäße Verwendung einer Eisenschaufel bei der Schneeräumung herbeigeführt wurden.

[3] Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagte aufgrund des Kaskoversicherungsvertrags für die Reparatur seines Fahrzeugs aufgrund des Vandalismusschadens vom 4. 4. 2021, für sämtliche Schäden Deckung zu gewähren habe; hilfsweise wird die Zahlung von 7.637,09 EUR sA an Reparaturkosten begehrt. Er und seine Frau hätten am 4. 4. 2021 festgestellt, dass das Fahrzeug an mehreren Fahrzeugteilen starke Kratzer aufwies, wobei die Herkunft dieser Kratzer nicht nachvollziehbar sei. Die an dem Fahrzeug entstandenen Schäden seien vom Versicherungsschutz umfasst: Würde eine mut‑ oder böswillige Handlung nach Art 1.1.5 KKB ausscheiden, bestündeVersicherungsschutz gemäß Art 1.1.6 KKB, da es sich jedenfalls um ein unmittelbar von außen plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis gehandelt haben müsse, welches diese Kratzer verursacht habe. Die Beklagte habe ihre Deckungspflicht abgelehnt, weshalb der Kläger ein rechtliches Interesse an der Feststellung habe, dass ihm die Beklagte für die Reparaturkosten seines Fahrzeugs aufgrund des bestehenden Versicherungsvertrags hafte.

[4] Die Beklagte beantragt die kostenpflichtige Klagsabweisung. Die Beschädigungscharakteristik und die Spurenverläufe der Kratzspuren würden für eine unsachgemäße Eis- und Schneeentfernung durch den Kläger und/oder seine Frau sprechen. Es liege weder ein Vandalismusschaden nach Art 1.1.5 KKB noch ein Unfall im Sinn des Art 1.1.6 KKB vor. Auch fehle es dem Kläger am Feststellungsinteresse, da im konkreten Fall der Schaden bezifferbar bzw vom Kläger beziffert worden sei.

[5] Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren zur Gänze statt. Es legte seiner rechtlichen Beurteilung die Feststellung zu Grunde, dass die Lackkratzer von einer dritten Person durch unsachgemäße Entfernung des Schnees vom Fahrzeug mittels einer Eisenschaufel verursacht worden seien. Davon ausgehend bejahte es den Versicherungsschutz nach Art 1.1.5 KKB.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das (Haupt‑)Feststellungsbegehren und das (Eventual-)Zahlungsbegehren ab. Da die Kratzer auf eine unsachgemäße Schneeräumung mit einer Eisenschaufel zurückzuführen seien, könne von einem „plötzlich“ mit mechanischer Gewalt einwirkenden Ereignis nicht ausgegangen werden. In einer unsachgemäßen Verwendung (von wem auch immer) sei auch keine mut‑ oder böswillige Schädigungsabsicht zu erblicken.

[7] Das Berufungsgericht änderte nachträglich seinen Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision ab und erklärte die Revision doch für zulässig. Es bestehe keine oberstgerichtliche Rechtsprechung, ob und inwieweit die Grundsätze zur Beurteilung der Plötzlichkeit eines Unfalls in der Unfallversicherung bei der Beurteilung eines Unfallgeschehens im Rahmen der Kaskoversicherung anzuwenden seien.

[8] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[11] 1.1 Gegen die Verneinung des Vorliegens des Versicherungsfalls nach Art 1.1.5 KKB (Herbeiführung des Schadens durch mut‑ oder böswillige Handlungen betriebsfremder Personen) wendet sich die Revision nicht mehr.

[12] 1.2 Zu prüfen bleibt damit nur mehr der Eintritt des Versicherungsfalls nach Art 1.1.6 KKB.

[13] 2.1 Nach ständiger Rechtsprechung sind Allgemeine Versicherungsbedingungen entsprechend den Grundsätzen der Vertragsauslegung nach den §§ 914, 915 ABGB auszulegen. Die Auslegung hat sich am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (RS0050063, RS0112256). Die Klauseln sind, wenn sie – wie hier – nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen (RS0008901). Zu berücksichtigen ist in allen Fällen der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Versicherungsbedingung (RS0008901 [T5, T7, T87]).

[14] 2.2 Nach Art 1.1.6 KKB ist das Fahrzeug gegen Beschädigung, Zerstörung und Verlust durch Unfall versichert. Unfall ist ein unmittelbar von außen plötzlich mit mechanischer Gewalt einwirkendes Ereignis.

[15] 2.3 Dass die – durch eine Eisenschaufel bei der Schneeräumung verursachten – Lackkratzer durch ein unmittelbar von außen mit mechanischer Gewalt wirkendes Ereignis herbeigeführt wurden, wird von den Streitteilen zu Recht nicht mehr bestritten.

[16] 2.4.1 Zu klären ist die Frage, ob die Einwirkung plötzlich erfolgte.

[17] 2.4.2 Der Begriff „plötzlich“ stellt das zeitliche Element der Unfalldefinition dar. Insoweit dient es der Abgrenzung der versicherten Risiken gegen solche Ereignisse, die durch ein allmähliches, sich auf einen längeren Zeitraum erstreckenden Eintritt des schädigenden Umstands gekennzeichnet sind. Länger anhaltende Einwirkungen sowie Verschleiß‑ und Abnutzungsschäden sind schon nach dem Sprachgebrauch keine Unfälle (Stadler in Stiefel/Maier, Kraftfahrtversicherung19 AKB 2015 A.2 Rn 309). Das Schadenereignis wirkt plötzlich auf ein Fahrzeug ein, wenn es sich in einem relativ kurzen Zeitraum abspielt (Stadler aaO Rn 310; Klimke in Prölss/Martin VVG31 AKB 2015 A.2.2.2.2 Rn 7). Der Begriff schließt auch ein subjektives Element des Unerwarteten, nicht Vorausgesehenen, Unentrinnbaren ein (Stadler aaO Rn 310). „Plötzlich“ ist damit auch ein allmähliches Geschehen, sofern die Folgen für den Versicherungsnehmer unerwartet waren (vgl Klimke aaO Rn 7; Burmann/Heß in Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts [2023] C Rn 99a).

[18] 2.4.3 Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Sinn zu dem insoweit vergleichbaren Begriff der „Plötzlichkeit“ in der Unfallversicherung auch bereits ausgesprochen, dass das Moment des Unerwarteten und des Unentrinnbaren dazugehört. Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person (hier: sein Fahrzeug) nicht mehr entziehen kann (RS0082022). „Plötzlich“ sind damit zwanglos alle Ereignisse, die sich in einem sehr kurzen Zeitraum unerwartet ereignen. Es können aber auch allmählich eintretende Ereignisse unter den Begriff fallen, wenn sie nur für den Versicherungsnehmer unerwartet und unvorhergesehen waren. Ein Unfallereignis liegt somit nur dann vor, wenn objektiv für den betreffenden Versicherungsnehmer kein Grund bestand, mit den konkret eingetretenen Umständen zu rechnen, er davon überrascht wurde und ihnen nicht entgehen konnte (RS0131133). Hat also ein Versicherungsnehmer zwar selbst nicht damit gerechnet, den konkreten widrigen Umständen in dieser Form zu begegnen, hätte er dies aber objektiv betrachtet in der konkreten Situation tun müssen, mangelt es an der beachtlichen subjektiven Komponente, sodass nicht von „Plötzlichkeit“ und einem Unfallgeschehen gesprochen werden kann (7 Ob 178/21h).

[19] 2.4.4 Daraus folgt, dass die Beschädigung eines Fahrzeugs durch einen Dritten, für den Versicherungsnehmer unerwartet, unerkennbar und nicht vorhergesehen, sohin plötzlich eintritt (vgl BGH IV ZR 245/96).  An einer plötzlichen Einwirkung fehlt es jedoch, wenn der Versicherungsnehmer sein Fahrzeug selbst mit einem sandbeschmutzten Schwamm wäscht (Stadler aaO Rn 311) – oder mit einer Eisenschaufel den Schnee vom Fahrzeug entfernt – und den Lack beschädigt.

[20] 2.4.5 Zusammengefasst bedeutet dies für den vorliegenden Fall: Wurde die Lackierung des Fahrzeugs im Zuge des Entfernens von Schnee durch einen (unbekannten) Dritten zerkratzt, wäre die Einwirkung plötzlich und es läge ein Unfall nach Art 1.1.6 KKB vor. Andernfalls könnte es an den genannten beachtlichen subjektiven Komponenten fehlen, sodass von einer „Plötzlichkeit“ und einem Unfallgeschehen nicht gesprochen werden kann.

[21] 3. Durch wen das Zerkratzen der Lackierung bei der Entfernung von Schnee mittels Eisenschaufel erfolgte, ist Gegenstand der von der Beklagten bekämpften erstgerichtlichen Feststellungen. Da das Berufungsgericht die in der in diesem Zusammenhang erhobene Beweisrüge aufgrund der vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht noch nicht behandelte, ist seine Entscheidung zu diesem Zweck aufzuheben und die Rechtssache an dieses zurückzuverweisen. Die Revision des Klägers ist danach im Sinn seines hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[22] 4. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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