OGH 10ObS39/23t

OGH10ObS39/23t21.11.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Maria Buhr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mag. B*, vertreten durch die Haider Obereder Pilz Rechtsanwält:innen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 18. Jänner 2023, GZ 12 Rs 95/22 k‑26, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 18. August 2022, GZ 7 Cgs 141/21t‑22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00039.23T.1121.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin ist Beschäftigte des Vereins Österreichisches Zentrum für psychologische Gesundheitsförderung im Schulbereich (ÖZPGS) und in den Schulen eines Viertels in Oberösterreich als Schulpsychologin tätig.

[2] In dieser Funktion war sie am 6. Oktober 2020 (Dienstag) in einer Neuen Mittelschule tätig und führte dort Gespräche mit dem Schülercoach und einem Schüler. Am nächsten Tag war sie für ca fünf Stunden in einer Volksschule und führte dort mehrere Gespräche mit Lehrerinnen und dem Direktor. Am 8. Oktober 2020 war sie zunächst für etwa drei Stunden an einem BG/BRG und führte in dieser Zeit neben zahlreichen kürzeren Gesprächen mit Schülern und Lehrerinnen ein ungefähr 45‑minütiges Gespräch mit einem Schüler. Anschließend war sie in einer Berufsbildenden Schule, wo sie ebenfalls mehrere Beratungsgespräche mit Schülern und Lehrerinnen durchführte. Am 9. Oktober 2020 (Freitag) war sie nicht beruflich tätig.

[3] Die von der Klägerin vorab vereinbarten Gesprächstermine dauerten zwischen 15 und 50 Minuten. Zusätzlich führte sie viele spontane Gespräche mit Schülern und Lehrerinnen in den Gängen und an frequentierten Plätzen der Schulen. Sie achtete dabei darauf, einen Abstand von einem bis eineinhalb Metern zum Gesprächspartner einzuhalten; bei Gesprächen in Beratungszimmern vor Ort trug die Klägerin ein Gesichtsschild. Das Tragen von FFP2‑Masken war zu dieser Zeit nicht vorgeschrieben; im Oktober 2020 wurden an den Schulen auch noch keine COVID‑19‑Tests durchgeführt.

[4] Am 9. Oktober 2020 trat in dem von der Klägerin besuchten BG/BRG der erste COVID‑19‑Fall auf. In der Folge wurden 22 von rund 65 Lehrern der Schule positiv getestet. Die Klägerin zeigte am 11. Oktober 2020 erste Symptome einer Erkrankung und wurde am 12. Oktober 2020 positiv auf SARS‑CoV‑2 getestet.

[5] Mit Bescheid vom 18. Juni 2021 sprach die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass die Erkrankung der Klägerin nicht als Berufskrankheit anerkannt werde und kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung bestehe, weil ein hinreichender Zusammenhang zwischen der Infektion und ihrer beruflichen Tätigkeit nicht ersichtlich sei.

[6] Mit ihrer dagegen erhobenen Klage begehrt die Klägerin (erkennbar) einerseits die Feststellung, dass es sich bei ihrer Erkrankung um eine Berufskrankheit handle, sowie andererseits, die Beklagte zur Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu verpflichten. Da sie vor ihrer Erkrankung keinen anderen Kontakt zu infizierten Personen gehabt habe, sei mit Sicherheit von einer Ansteckung in einer der von ihr (zwischen 6. und 8. Oktober 2020) besuchten Schulen auszugehen. Zudem seien Schulen deshalb in der Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG (künftig nur noch Anlage 1) genannt, weil die dort Beschäftigten einem besonders hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien, was nicht nur auf Lehrer, sondern in gleicher Weise auch auf Schulpsychologen zutreffe. Eine Differenzierung zwischen diesen beiden Gruppen sei daher weder angezeigt noch aus dem Gesetz ableitbar.

[7] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Abgesehen davon, dass die Klägerin eine konkrete betriebliche Exposition mit dem SARS‑CoV‑2‑Virus nicht anführen habe können, sei sie (als Schulpsychologin) auch nicht in einem „Hochrisikobereich“ tätig gewesen.

[8] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil eine außerberufliche Ansteckung gleich wahrscheinlich sei wie eine Ansteckung in einer der Schulen.

[9] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es bejahte zwar einen den Kausalzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Ansteckung betreffenden Stoffsammlungsmangel. Es maß diesem aber keine Relevanz zu, weil die Klage bereits aus davon unabhängigen Gründen unberechtigt sei. Angesichts des Normzwecks sei die Regelung in Nr 38 der Anlage 1 nämlich in zweifacher Hinsicht inkonsistent. Zum einen seien nicht alle Beschäftigten in den dort genannten Unternehmen einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt; eine solche sei etwa für Verwaltungspersonal nicht ersichtlich. Zum anderen sei die Gefahr auch nicht in allen Schulen gleich, weil sie mit zunehmendem Alter der Schüler signifikant abnehme. Die Bestimmung sei daher insofern einschränkend auszulegen, als sie nur Beschäftigte erfasse, die bei ihrer Tätigkeit einer gegenüber der Allgemeinheit besonderen Ansteckungsgefahr ausgesetzt seien. Diese Sicht werde auch dadurch bestätigt, dass der Gesetzgeber nur das Lehrpersonal habe schützen wollen. Abgesehen davon, dass die Klägerin nicht zu dieser Gruppe zähle, seien die von ihr durchgeführten Gespräche auch nicht mit der Tätigkeit von Lehrern vergleichbar, die während einer Unterrichtsstunde einer größeren Anzahl von Schülern gegenüberstünden. Der mögliche Kontakt der Klägerin mit Infizierten sei dagegen nur zeitlich begrenzt und daher nicht größer gewesen als bei Berufsgruppen, die im ständigen und intensiven Kontakt mit Menschen stünden.

[10] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht geklärt sei, ob jede oder nur bestimmte, risikoreiche Tätigkeiten in einem der in Nr 38 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen als Beschäftigung iSd § 177 Abs 1 ASVG zu qualifizieren seien.

[11] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit dem Begehren, der Klage stattzugeben. Hilfsweise stellt sie auch Aufhebungsanträge.

[12] Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist im Sinn der Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen auch berechtigt.

[14] 1. In ihrer Revision argumentiert die Klägerin, es sei notorisch, dass das Risiko einer Infektion mit SARS‑CoV‑2 gerade in Schulen ungleich höher sei als im täglichen Leben, und zwar vor allem im Oktober 2020, als ausreichende Schutzmaßnahmen gegen das damals neuartige Virus noch nicht implementiert gewesen seien. Vor allem aber lasse sich weder aus dem Wortlaut der Nr 38 der Anlage 1 ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung der in Schulen tätigen Personen entnehmen, noch sei die von ihr ausgeübte Tätigkeit mit jener des Verwaltungspersonals vergleichbar. Dass in den Gesetzesmaterialien zur 23. ASVG‑Novelle (BGBl 1969/17) nur Lehrpersonen genannt werden, lasse keine relevanten Rückschlüsse zu, weil damals die Unterstützung der Schulen durch Schulpsychologen noch nicht so etabliert gewesen sei wie heute.

[15] Damit ist die Klägerin im Recht.

[16] 2. Als Berufskrankheiten gelten gemäß § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage 1 bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen verursacht sind.

[17] 2.1. Das Gesetz anerkennt daher nicht jede Krankheit, die infolge arbeitsbedingter Einwirkungen auftreten kann, als Berufskrankheit, sondern legt in Form einer taxativen Liste fest, welche Krankheit unter welchen Voraussetzungen als Berufskrankheit gilt (10 ObS 74/16d SSV‑NF 30/47; 10 ObS 105/04w SSV‑NF 19/72). In diesem Sinn stellt die hier relevante Nr 38 der Anlage 1 („Infektionskrankheiten“) – dass COVID‑19 darunter fällt, bestreitet die Beklagte nicht – pauschalierend auf besondere Unternehmen ab, weil die dort beschäftigten Personen nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall in einem ganz besonderen Ausmaß einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind (10 ObS 1/23d; Müller in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm § 177 ASVG Rz 52; vgl auch RS0085380). Personen, die zwar mit Infizierten in Kontakt kommen können, aber nicht in einem geschützten Unternehmen beschäftigt sind, sind vom Versicherungsschutz hingegen ausgeschlossen, weil sie in der Regel überwiegend mit Gesunden zu tun haben (Bischofreiter, Unfallversicherungsschutz bei Covid‑19; DRdA‑Infas 2022, 416; Gerstl‑Fladerer in Wolf/Schneider/Gerstl-Fladerer, Berufskrankheiten 437).

[18] 2.2. Für das Vorliegen des Versicherungsschutzes kommt es nicht darauf an, ob der Versicherte in einem Dienstverhältnis zum Träger des geschützten Unternehmens stand. Entscheidend ist nur, ob eine berufliche Beschäftigung in einem solchen Unternehmen vorlag, unabhängig davon, wie sie rechtlich zu qualifizieren ist und wer als Dienstgeber auftrat (RS0084365; Müller, SV‑Komm § 177 ASVG Rz 53; Panhölzl/Bischofreiter, in Sozialversicherungsrecht Jahrbuch 2022, 119; Gerstl‑Fladerer aaO 437).

[19] 2.3. Mit der 23. ASVG‑Novelle (BGBl 1969/17) wurden Kindergärten, Säuglingskrippen, Justizanstalten und Schulen in die Liste der von der Nr 38 der Anlage 1 erfassten Unternehmen aufgenommen, was damit begründet wurde, dass auch die in diesen Einrichtungen beschäftigten Personen einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt seien. Konkret sei für das Personal von Kindergärten und Säuglingskrippen die Gefahr der Ansteckung mit Kinderkrankheiten, aber auch mit Tuberkulose und Darminfektionen besonders groß; ähnliche Überlegungen würden auch für Lehrpersonen und Bedienstete in Justizanstalten gelten (ErläutRV 1059 BlgNR 11. GP  29). Der Oberste Gerichtshof hat dazu schon ausgesprochen, dass das besondere Infektionsrisiko an Schulen aus dem Zusammenkommen einer Vielzahl von Personen an einem Ort mit einem länger dauernden Aufenthalt in Innenräumen resultiert (10 ObS 149/22t [Rz 47]).

[20] 3. Der reine Wortlaut des § 177 Abs 1 ASVG iVm der Nr 38 der Anlage 1 erfasst alle Beschäftigungen in den dort genannten Unternehmen, ohne dass zwischen bestimmten Gruppen von Beschäftigen, verschiedenen Tätigkeiten oder einzelnen Sparten unterschieden wird. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Einschränkung auf bestimmte, mit einem deutlich erhöhten Infektionsrisiko verbundene Tätigkeiten innerhalb eines geschützten Unternehmens ließe sich daher nur durch eine teleologische Reduktion erzielen. Das setzt voraus, dass eine nach dem klaren Gesetzeszweck erforderliche Ausnahme fehlt (RS0008979), was jedenfalls in dem vom Berufungsgericht angenommenen Umfang aber nicht der Fall ist.

[21] 3.1. Stellungnahmen der Lehre zur Abgrenzung der geschützten Personen(‑gruppen) sind spärlich. Tomandl (in Tomandl/Felten System des österreichischen Sozialversicherungsrechts Pkt 2.3.2. [275]) verweist darauf, dass die gesetzliche Regelung gleichzeitig zu eng und zu weit sei. Zu eng, weil auch in anderen als den genannten Unternehmen eine vergleichbare Ansteckungsgefahr bestehe, zu weit, weil nicht alle in den geschützten Unternehmen Beschäftigten einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt seien. Die Nr 38 der Anlage 1 berechtige daher nicht zur Annahme, davon werde etwa auch das Verwaltungspersonal etwa in Schulen erfasst, das mit den Schülern nicht unmittelbar in Kontakt komme. Hausfremde Professionisten seien dagegen geschützt, sofern sie durch ihre Tätigkeit gezwungen sind, sich der im Listenunternehmen bestehenden besonderen Ansteckungsgefahr auszusetzen, unabhängig davon, wie lange die Exposition gedauert hat. Dem stimmen Gebhardt/Perktold (Covid‑19: Berufskrankheit und Arbeitsunfall, SozSi 2022, 60 [61 f]) und (indirekt) Schneider (Methodik der Beurteilung von Berufskrankheiten an den Beispielen BK Nr 25 und 38, DAG 2021, 135 [138]) zu. Schneider führt dazu das Beispiel eines externen Handwerkers an, der im Aufenthaltsraum eines Kindergartens oder im Patientenzimmer eines Krankenhauses arbeitet und deshalb Versicherungsschutz genieße. Nach Gerstl‑Fladerer (aaO 439) sei überhaupt immer zu prüfen, welche konkrete Tätigkeit der Betroffene ausübt und ob er dadurch einer besonderen Gefahr ausgesetzt war.

[22] 3.2. Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zu dieser Frage liegen nicht vor.

[23] 3.3. Das Oberlandesgericht Wien als seinerzeitiges Höchstgericht in Sozialversicherungssachen qualifizierte vor Einführung der Generalklausel in Nr 38 der Anlage 1 (mit BGBl I 1998/138) Krankenkassen insoweit als Einrichtung des Gesundheitsdienstes iSd Spalte 3 der Nr 38 Anlage 1, als sie etwa Ambulatorien betrieben und nicht bloß die ihnen zukommenden Verwaltungsagenden wahrnahmen (SSV 7/17). Demgemäß erstreckte es den Versicherungsschutz auf eine Assistentin im Zahnambulatorium einer Krankenkasse, die auch am Behandlungsstuhl tätig war (SVSlg 23.140), nicht aber auf Beschäftigte in der ärztlichen Abrechnungsstelle (SSV 16/76) oder im Bürodienst (SVSlg 18.191).

[24] 3.4. Das (deutsche) Bundessozialgericht judiziert zur – der Nr 38 Anlage 1 entsprechenden – Berufskrankheit 3101, dass von dieser das gesamte in den geschützten Unternehmen tätige Personal einschließlich des Hauspersonals und Verwaltungsangestellten erfasst sind (Dietmair in Lauterbach, Unfallversicherung4 § 9 SGB VII, Anh IV, 3101 erg Erl 378/7; Ricke in BeckOGK SGB VII § 9 Rz 47; Becker in Krasney/Burkhardt/Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] – Kommentar [46. Lfg] § 9 – 496 f).

[25] 4. Der Oberste Gerichtshof hat sich erst unlängst eingehend mit der Nr 38 der Anlage 1 befasst. Zwar ging es dort nicht um die hier interessierende Frage, ob zwischen den Beschäftigten eines (durch die Nr 38 der Anlage 1 ausdrücklich) geschützten Unternehmens zu differenzieren ist, sondern darum, ob ein Nachhilfeinstitut überhaupt ein – im Sinn der Generalklausel – geschütztes Unternehmen ist. Es wurde jedoch (allgemein) klargestellt, dass die Nr 38 der Anlage 1 darauf abzielt, Personen einen Schutz zu bieten, die wegen ihrer Erwerbstätigkeit in einem der dort bezeichneten Unternehmen in einer besonderen Ansteckungsgefahr schweben. In die Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 sind daher Einrichtungen genannt, die ihrer Typizität nach für die dort Beschäftigten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung mit Infektionskrankheiten mit sich bringen (10 ObS 149/22t [Rz 24 und 54]).

[26] Vor dem Hintergrund dieses Gesetzeszwecks ist die vom Berufungsgericht in den Vordergrund gestellte besonders hohe Ansteckungsgefahr konsequenterweise kein Tatbestandsmerkmal der Regelung. Das im Vergleich zur allgemein bestehenden Ansteckungsgefahr signifikant höhere Infektionsrisiko ist vielmehr der Grund für die Aufnahme bestimmter Unternehmen in die Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1. Geschützt werden die Versicherten daher nicht, weil sie eine spezielle gefahrenträchtige Tätigkeit ausüben, sondern (bereits) deshalb, weil sie bei generell‑abstrakter Betrachtung in einem gefahrenträchtigen Unternehmen beschäftigt sind. Dieses Konzept kommt nicht nur in dem vom Berufungsgericht angeführten Umstand zum Ausdruck, dass die „Lehrerpersonen“ jeder Schule, also auch einer BHS oder eines Oberstufengymnasiums geschützt sind, obwohl die Gefahr einer Ansteckung dort ungleich geringer ist als in Säuglingskrippen, Kindergärten oder Volksschulen. Es spiegelt sich auch in der Generalklausel der Nr 38 der Anlage 1 wider, die – anders als die deutsche BK 3101 – auf andere Unternehmen und nicht auf andere Tätigkeiten mit vergleichbarer Gefährdung abstellt. Ein eindeutig für die vom Berufungsgericht und im Ergebnis auch von Gerstl‑Fladerer vorgenommene Differenzierung sprechender Gesetzeszweckist vor diesem Hintergrund nicht zu erkennen. Ohne weitere (gegenteilige) Anhaltspunkte ergibt sich ein solcher auch nicht allein daraus, dass in den Materialien zur 23. ASVG‑Novelle von „Lehrpersonen“ die Rede ist, sodass die Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion der Nr 38 der Anlage 1 dahingehend, betreffend Schulen sollten nur die Lehrer erfasst werden, insgesamt nicht gegeben sind.

[27] Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass auf Basis des Gesetzeswortlauts grundsätzlich alle in einem geschützten Unternehmen Beschäftigten unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit Versicherungsschutz genießen.

[28] 5. Dieses Ergebnis steht einer teleologischen Reduktion im Sinn der Ausführungen von Tomandl – und letztlich auch im Sinn der vormaligen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Wien (oben 3.2.) – nicht generell entgegen. Nach der Auffassung von Tomandl ist nämlich nicht auf ein tatsächlich höheres oder niedrigeres Risiko der Tätigkeit abzustellen. Vielmehr sollen nur solche (ganz eindeutigen) Fälle, vom Versicherungsschutz ausgenommen werden, bei denen der Betroffene dem Risiko einer Infektion gar nicht ausgesetzt ist, nicht aber Beschäftigte – wie externe Handwerker –, deren Tätigkeit es bedingt, dass sie mit der abstrakten Ansteckungsgefahr auch nur kurz in Berührung kommen. Ob eine teleologische Reduktion in dem vonTomandl angesprochenen „Randbereich“ angezeigt ist, muss im Fall der Klägerin aber nicht entschieden werden, weil die von ihr ausgeübte Tätigkeit nicht diesem Bereich zuzuordnen ist. Sie ist auch nicht mit einer jener Tätigkeiten vergleichbar, die das Oberlandesgericht Wien seinerzeit als nicht vom Versicherungsschutz erfasst angesehen hat:

[29] Sie stand zwar nicht in einem Dienstverhältnis zu den Schulbetreibern. Die Beklagte bestreitet aber nicht, dass die Klägerin dort iSd § 177 Abs 1 ASVG beschäftigt war, sodass es nur eines Hinweises auf § 18 Abs 7 BD‑EG und das (damals) Rundschreiben (Erlass) des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Nr 19/2021 vom 21. April 2011, GZ: 33.543/0018‑I/9d/2011 (nunmehr Rundschreiben des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung Nr 12/2021 vom 2. Oktober 2021, GZ: 2021‑0.546.877), bedarf. Ihr Aufgabenbereich bestand dabei (entsprechend dem Rundschreiben vom 21. April 2011) in der Präventionsarbeit an Schulen, bei der sie der besonderen Ansteckungsgefahr auch unmittelbar ausgesetzt war. Der direkte Kontakt mit den Schülern war der primäre Inhalt ihrer Tätigkeit und keine bloß zufällige Begleiterscheinung, wie das etwa bei dem vom Berufungsgericht angeführten Verwaltungspersonal eventuell der Fall sein kann. Aufgrund ihrer Tätigkeit in einem der in Spalte 3 der Nr 38 der Anlage 1 genannten Unternehmen genießt sie daher entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts grundsätzlich Versicherungsschutz.

[30] 6. Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist jedoch, dass ihre Erkrankung auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist (RS0084375 [T1]). Ob das der Fall ist, kann derzeit aber nicht beurteilt werden, weil die Frage der Kausalität noch nicht definitiv geklärt ist.

[31] Die Revision ist daher im Sinn der hilfsweise begehrten Aufhebung berechtigt. Da das Berufungsgericht die Mängelrüge der Klägerin bereits als prinzipiell berechtigt erkannt hat, hat die Aufhebung in die erste Instanz zu erfolgen.

[32] Im fortzusetzenden Verfahren werden daher der Zeuge K* einzuvernehmen sowie das beantragtevirologische Sachverständigengutachten einzuholen und auf dieser Grundlage entsprechende Feststellungen zur Kausalität, somit zur Frage zu treffen sein, ob die Erkrankung auf betriebliche Einwirkungen zurückzuführen ist. Sofern das Erstgericht dies bejahen sollte, wird der Klägerin jedenfalls die Möglichkeit zu geben sein, nicht nur ein Vorbringen zur Erkrankung an COVID‑19, sondern auch zu den dadurch erlittenen, eine Versehrtenrente rechtfertigenden Folgen zu erstatten.

[33] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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