OGH 12Os91/23h

OGH12Os91/23h25.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. August 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin FI Mock in der Strafsache gegen * E* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 erster Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 333 HR 149/23s des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zu deren Einbringung und die Grundrechtsbeschwerde des vormals Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 16. Juni 2023, AZ 19 Bs 158/23h, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00091.23H.0825.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

1. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird bewilligt.

2. Die Grundrechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Die Staatsanwaltschaft Wien führte zu AZ 702 St 21/22y (idF: AZ 702 St 8/23p) ein Ermittlungsverfahren gegen * E* wegen „§ 28a Abs 1 vierter, fünfter und sechster Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG“ und weiterer strafbarer Handlungen. Am 25. Mai 2023 brachte die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 72 Hv 51/23f des Landesgerichts für Strafsachen Wien Anklage gegen den Genannten wegen des Verdachts des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 vierter, fünfter und sechster Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen ein (ON 127).

[2] Anlässlich der Haftverhandlung vom 24. Mai 2023 begehrte dieser seine Enthaftung. Mit zugleich gefasstem Beschluss setzte das Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 333 HR 149/23s die Untersuchungshaft (erneut) fort. E* erhob dagegen Beschwerde, die unausgeführt blieb (ON 129, 2).

[3] Mit dem bekämpften Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht am 16. Juni 2023, AZ 19 Bs 158/23h, seiner Beschwerde keine Folge. Dieser Beschluss wurde dem Verteidiger am 20. Juni 2023 zugestellt. Die Frist zur Einbringung einer Grundrechtsbeschwerde endete damit am 4. Juli 2023 (§ 4 Abs 1 GRBG).

Zum Antrag auf Wiedereinsetzung:

[4] Am 2. August 2023 stellte der vormals Beschuldigte den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung der Grundrechtsbeschwerde. Zur Begründung brachte er vor, dass einer in seiner Rechtsanwaltskanzlei beschäftigten Sekretärin insofern ein Fehler unterlaufen sei, als sie die elektronische Absendung der von ihm fristgerecht am 29. Juni 2023 diktierten und am selben Tag freigegebenen Grundrechtsbeschwerde – entgegen der telefonischen Zusicherung gegenüber dem Verteidiger – irrtümlich unterlassen habe. Dies habe er anlässlich einer (elektronischen) Akteneinsicht erst am 31. Juli 2023 bemerkt.

[5] Im Hinblick auf die sonstige Zuverlässigkeit der Sekretärin mit langjähriger Berufserfahrung liege kein Überwachungsverschulden vor.

[6] Die Richtigkeit des Vorbringens ist durch Vorlage eines E-Mails (ON 142.1, 31) im Zusammenhang mit der amtswegig erfolgten Einsicht ins Zugriffsprotokoll in die VJ ausreichend bescheinigt (zur Erforderlichkeit der Glaubhaftmachung und Abgrenzung zur bloßen Behauptung vgl RIS‑Justiz RS0107308; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 11.61; Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 43 f).

Rechtliche Beurteilung

[7] Gemäß § 364 Abs 1 Z 1 StPO ist dem Angeklagten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs (zur Zulässigkeit im Grundrechtsbeschwerdeverfahren RIS‑Justiz RS0061006) zu bewilligen, sofern er nachweist, dass ihm die Einhaltung der Frist durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse ohne sein oder seines Vertreters Verschulden unmöglich war oder ihm oder seinem Vertreter insoweit bloß ein Versehen minderen Grades zur Last zu legen ist.

[8] Das dargestellte Kanzleiversehen der unterbliebenen Einbringung der Grundrechtsbeschwerde erfüllt die Voraussetzungen des § 364 Abs 1 Z 1 StPO, da darin keine Verletzung der von einem ordentlichen Rechtsanwalt zu erwartenden Organisations‑ und Kontrollpflichten zu erblicken ist (RIS‑Justiz RS0101329 [T15], RS0101310 [T8]). Der Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der einem Kanzleiangestellten für einen bestimmten Tag angeordnete, bloß manipulative Vorgang der Postaufgabe eines Schriftstücks tatsächlich erfolgt. Einer weiteren Kontrolle bedarf es nicht. Die Versendung eines Schriftsatzes via Web‑ERV steht der Postaufgabe gleich (RIS‑Justiz RS0122717 [T1]).

[9] Demnach war die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, zumal sie innerhalb von 14 Tagen nach dem Aufhören des Hindernisses (hier: der Erlangung der Kenntnis von der Fehlleistung eines Dritten seitens des Vertreters des Wiedereinsetzungswerbers; RIS‑Justiz RS0101438) beantragt und die versäumte Einbringung der Grundrechtsbeschwerde zugleich mit dem Antrag nachgeholt wurde (§ 364 Abs 1 Z 2 und 3 StPO).

Zur Grundrechtsbeschwerde:

[10] Dieser steht die fehlende Ausschöpfung des horizontalen Instanzenzugs entgegen, da unterlassen wurde, die nunmehr erhobenen Behauptungen im Beschwerdeverfahren zu thematisieren (RIS‑Justiz RS0114487 [T17]; Kier in WK2 GRBG § 1 Rz 43).

[11] Daraus folgt die Zurückweisung der Grundrechtsbeschwerde ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG).

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