OGH 10ObS43/23f

OGH10ObS43/23f22.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Lena Steiger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid-Wilches (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*, vertreten durch Dr. Ingo Riß, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Februar 2023, GZ 9 Rs 12/23 k‑26, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00043.23F.0822.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der 1965 geborene Kläger war von März 1996 bis zum Stichtag (1. Februar 2022) in seinem erlernten Beruf als bautechnischer Zeichner (entspricht der Beschäftigungsgruppe D bis E des Kollektivvertrags für Handelsangestellte) tätig. Er leidet unter anderem an einer sekundär progredienten Multiplen Sklerose.

[2] Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Februar 2022 gerichtete Klagebegehren ab. Es sprach außerdem aus, dass mangels einer vorübergehenden Berufsunfähigkeit kein Anspruch auf medizinische Maßnahme der Rehabilitation oder auf Zahlung von Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe und Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig seien. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen sei der Kläger (weiterhin) in der Lage, Angestelltentätigkeiten der Beschäftigungsgruppe D des Kollektivvertrags, wie insbesondere als Angestellter im Vermessungswesen oder als bautechnischer Zeichner ohne Außenarbeiten (Tätigkeiten vor Ort), auszuüben. Die Voraussetzungen des § 255 Abs 3a bis Abs 4 ASVG lägen nicht vor.

[3] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[5] 1. Dem Vorbringen des Klägers, das Berufungsgericht sei seiner Beweisrüge in Bezug auf die Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte zu Unrecht nicht gefolgt,steht entgegen, dass der Oberste Gerichtshof keine Tatsacheninstanz ist (RIS-Justiz RS0042903 [T7]). In dritter Instanz kann die Beweiswürdigung daher nicht mehr bekämpft werden (RS0043371). Diese Rechtsmittelbeschränkung kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein unerwünschtes Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge als Mangel des Berufungsverfahrens releviert wird (RS0043371 [T28]). Hat das Berufungsgericht über eine Beweisrüge – wie hier – nachvollziehbare Überlegungen angestellt und im Berufungsurteil festgehalten, ist die Entscheidung mängelfrei (RS0043150).

[6] 2. In den nicht revisiblen Tatsachenbereich fällt auch, ob ein Sachverständigengutachten vollständig und schlüssig ist (RS0043320 [T12]) und ob es die getroffenen Feststellungen rechtfertigt (RS0043163). Ob nun das schriftliche Gutachten eines Sachverständigen oder seine Ausführungen im Rahmen der Gutachtenserörterung „vorrangige Gültigkeit“ haben und den Feststellungen zugrunde zu legen sind, kann daher vom Obersten Gerichtshof nicht mehr geprüft werden.

[7] 3.1. Es trifft zwar zu, dass in widersprüchlichen Feststellungen, die eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ermöglichen, ein (rechtlicher) Feststellungsmangel liegt, dem erhebliche Bedeutung zukommt (vgl RS0042744). Der festgestellte Umstand, dass der Anmarschweg beim Kläger nicht eingeschränkt ist, steht allerdings nicht im Widerspruch zur Feststellung, dass ihm das zusätzliche Zurücklegen einer Wegstrecke von mehr als 200 Meter während der Arbeitszeit nicht möglich ist.

[8] 3.2. Ob ein Versicherter in der Lage ist, den sogenannten Anmarschweg zurückzulegen, ist eine Rechtsfrage, die ausgehend von den körperlichen und geistigen Einschränkungen des Versicherten zu klären ist (RS0085098 [T1]). Die Auslegung der dazu getroffenen Feststellungen wirft in der Regel keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nach § 502 Abs 1 ZPO auf (10 ObS 137/21a).

[9] Im Anlassfall hat das Erstgericht auf Basis des (schriftlichen) neurologischen Sachverständigengutachtens festgestellt, dass der Anmarschweg für den Kläger nicht eingeschränkt ist. Die Ansicht des Berufungsgerichts, diese Feststellung sei im Sinn der ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen im Rahmen der Gutachtenserörterung zu verstehen, wonach der Kläger eine Wegstrecke von 500 Metern zu einem öffentlichen Verkehrsmittel und 500 Metern zum Arbeitsplatz in angemessener Zeit bewältigen kann, bedarf keiner Korrektur im Einzelfall. Vertretbar ist auch die weitere Ansicht des Berufungsgerichts, der solcherart vom Sachverständigen erläuterte Anmarschweg erfasse nicht nur den Weg zur Arbeit, sondern auch den Rückweg (vgl Wehringer, Berufskundliche Begriffe in ärztlichen Gutachten, DAG 2017/22, 46). Dass er auf dieser Grundlage nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist (vgl RS0085049), bestreitet der Kläger nicht.

[10] 4. Da die außerordentliche Revision insgesamt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt, ist sie zurückzuweisen.

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