European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00089.23M.0725.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Erbrecht und Verlassenschaftsverfahren
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts (im Umfang der Klagestattgebung) einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 8.489,88 EUR (darin enthalten 906,48 EUR USt und 3.051 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin wurde am 13. 10. 1962 während aufrechter Ehe ihrer Mutter mit L* (in der Folge: „Erblasser“) geboren, sie ist jedoch nicht dessen leibliche Tochter. Ihre zwei älteren, ebenfalls dieser Ehe entstammenden Brüder sind vorverstorben. Die Ehe der Mutter mit dem Erblasser wurde aus dessen Alleinverschulden 1963 geschieden. Er starb am 8. 8. 2019.
[2] Der Erblasser wusste, dass er der rechtliche Vater der drei der Ehe entstammenden Kinder war. Er bezahlte für die Klägerin bis zu deren 18. Lebensjahr Unterhalt. Er vermutete aber bereits bei der Scheidung, dass die Klägerin nicht seine leibliche Tochter sei.
[3] Nach der Scheidung hatte der Erblasser keinen Kontakt mehr zur Klägerin. Diese sah ihn lediglich einmal im Jahr 1974 aus Anlass eines Besuchs des Erblassers bei der Familie. Auch dabei kam es zu keinem persönlichen Kontakt zwischen der Klägerin und dem Erblasser. Er versuchte zeitlebens zu keinem Zeitpunkt, Kontakt zur Klägerin aufzubauen.
[4] Die Klägerin versuchte im Alter von etwa 30 Jahren, mit dem Erblasser in Kontakt zu treten. Dabei versuchte zunächst einer ihrer Brüder, beim Erblasser „vorzufühlen“, ob dieser an einem Kontakt mit der Klägerin bzw seinen Kindern interessiert sei. Der Erblasser wies den Kontaktversuch mit den Worten zurück, der Bruder der Klägerin solle „sich schleichen“, was er sich einbilde, ihn zu kontaktieren, er habe sein eigenes Leben und darin sei kein Platz für seine Kinder, sie seien Fremde. Angesichts dieser Äußerungen unternahm die Klägerin keine weiteren Versuche, den Erblasser zu kontaktieren.
[5] Mit Testament vom 16. 6. 2009 setzte der Erblasser die Beklagte als seine Alleinerbin ein. Er vermerkte darin, dass er keine Noterben habe. Er hinterließ außer der Klägerin keine weiteren gesetzlichen Erben.
[6] Im von der Verlassenschaft nach dem Erblasser angestrengten Verfahren auf Feststellung der Nichtabstammung der Klägerin vom Erblasser kam zwar hervor, dass die Klägerin nicht die leibliche Tochter des Erblassers sei, dennoch wurde der Antrag wegen Verfristung abgewiesen.
[7] Die Klägerin begehrt – soweit im Revisionsverfahren noch gegenständlich – die Zahlung von 65.814,80 EUR sA von der Beklagten als ihren (nach einer Zahlung durch die Beklagte) restlichen Pflichtteil nach dem Erblasser in Höhe der Hälfte des reinen Nachlasses. Der Erblasser habe nicht – auch nicht stillschweigend durch Übergehung – eine Pflichtteilsminderung verfügt. Wegen seines aus der Zurückweisung ihres Kontaktaufnahmeversuchs ersichtlichen Desinteresses an ihr sei ihr ein Kontakt mit dem Erblasser nicht zumutbar gewesen und könne sich die Beklagte nicht auf eine Pflichtteilsminderung berufen.
[8] Die Beklagte wendete ein, die Klägerin sei die rechtliche, nicht aber die leibliche Tochter des Erblassers. Dieser habe die Klägerin in seinem Testament bewusst und gewollt übergangen, weil er davon ausgegangen sei, dass sie nicht seine leibliche Tochter sei. Durch diese Übergehung sei der Pflichtteilsanspruch der Klägerin stillschweigend auf die Hälfte gemindert worden. Der Kontaktversuch der Klägerin habe mehr als 20 Jahre vor dem Tod des Erblassers stattgefunden und es habe auch keinen direkten Kontaktversuch der Klägerin selbst gegeben. Die ablehnende Haltung des Erblasser gegen die Klägerin sei berechtigt gewesen, weil sie nicht seine leibliche Tochter sei.
[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im (im Revisionsverfahren noch gegenständlichen) Umfang statt. Die Klägerin sei als eheliches Kind des Erblassers geboren worden. Diese rechtliche Vaterschaft sei nie aufgehoben worden. Das Testament sei so auszulegen, dass der Erblasser der Klägerin an sich gar nichts zuwenden habe wollen, woraus zu schließen sei, dass er ihr für den Fall ihrer Pflichtteilsberechtigung nur den geringstmöglichen Anteil zukommen habe lassen wollen. Der Erblasser habe daher den Pflichtteil der Klägerin auf die Hälfte gemindert. Zur Verweigerung des Kontakts zur Klägerin wäre der Erblasser als ihr rechtlicher Vater nur dann berechtigt gewesen, wenn noch andere Umstände hinzugekommen wären, die dies rechtfertigten. Derartige Umstände lägen aber nicht vor. Der Erblasser habe selbst grundlos den Kontakt, der zwischen Vater und Kind gewöhnlich bestehe und der Rechtsordnung nach eigentlich zu bestehen hätte, vermieden, obwohl sich die Klägerin sogar einmal um die Herstellung dieses Kontakts bemüht habe. Dem Erblasser sei somit das Recht zur Minderung des Pflichtteils auf die Hälfte gemäß § 776 ABGB nicht zugekommen.
[10] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Bis zum Kontaktversuch durch die damals etwa 30‑jährige Klägerin liege kein grundloses „Meiden“ des Kontakts durch den Erblasser iSd § 776 Abs 2 ABGB vor, sodass aus diesem Grund sein Recht auf Pflichtteilsminderung nicht ausgeschlossen sei. Zu diesem Kontaktversuch gehe aus den Feststellungen des Erstgerichts lediglich die Reaktion des Erblassers auf den Kontaktversuch des Bruders hervor, nicht aber der sonstige Inhalt des Gesprächs. Es bleibe unklar, ob der Erblasser bei diesem „Vorfühlen“ des Bruders überhaupt erkannt habe oder hätte erkennen können, dass dahinter (auch) der von der Klägerin ausgehende Wunsch nach Kontakt mit ihm gestanden sei und seine ebenso unfreundliche wie emotionale Aussage gegenüber deren Bruder, er solle sich „schleichen“, in seinem Leben sei kein Platz für seine Kinder, sie seien Fremde, sich folglich auch gegen die Klägerin gerichtet habe. Die Klägerin habe damit den ihr obliegenden Beweis nicht erbracht, dass der Erblasser durch seine Reaktion auf den Kontaktversuch ihres Bruders auch ihr gegenüber ihren ihm erkennbaren Wunsch nach Kontakt zurückgewiesen und damit ein sanktionsbedürftiges Verhalten gesetzt habe, das es rechtfertige, ihm die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung zu verwehren. Dies gelte umso mehr, als nach dem Verständnis des Gesetzgebers des ErbRÄG 2015 das „Recht auf persönlichen Verkehr“ (und eine damit korrespondierende Verpflichtung) auf minderjährige Kinder zugeschnitten und damit nicht auf ein Recht „auf persönliche Kontakte“ zwischen erwachsenen Personen abzustellen sei. Zwischen Volljährigen bestehe grundsätzlich weder ein Recht noch eine Pflicht zur Kontaktaufnahme. Erfolge – wie hier – der erste Kontaktaufnahmeversuch erst nach Volljährigkeit des Kindes, schließe die Kontaktverweigerung die Pflichtteilsminderung prinzipiell nicht aus. Die brüske Behandlung des Bruders der Klägerin bei dessen Kontaktversuch sei keine gegen die Klägerin gerichtete Verfehlung des Erblassers gewesen, der keinen berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben habe. Das Recht des Erblassers auf Minderung des Pflichtteils der Klägerin nach § 776 Abs 2 ABGB sei daher nicht ausgeschlossen. Die Beurteilung des Erstgerichts, der Erblasser habe im Testament den Pflichtteil der Klägerin stillschweigend gemindert, sei zutreffend.
[11] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[12] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[13] Die Revision ist zulässig und berechtigt, weil das Berufungsgericht von oberstgerichtlicher Rechtsprechung abgewichen ist.
[14] Die Revisionswerberin führt aus, die Formulierung im Testament, der Erblasser habe keine Noterben, könne keine stillschweigende Pflichtteilsminderung sein, weil der Erblasser – entgegen der tatsächlichen Rechtslage – das Vorhandensein pflichtteilsberechtigter Personen überhaupt negiere. Inder brüsken Ablehnung jeglichen Kontakts auch mit der Klägerin liege ein grundloses Meiden des Kontakts des Erblassers zur Klägerin. Überdies habe er damit auch berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben.
Hierzu wurde erwogen:
[15] 1. Da der Erblasser nach dem 31. 12. 2016 verstorben ist, ist § 776 ABGB idF ErbRÄG 2015 anwendbar (§ 1503 Abs 7 Z 1 und 2 ABGB).
[16] 2. Der Erblasser kann den Pflichtteil nach § 776 Abs 1 ABGB letztwillig auf die Hälfte mindern, wenn er und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod des Verfügenden nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht. Dieses Recht steht ihm nach Abs 2 leg cit nicht zu, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat. Es ist unstrittig, dass die Klägerin und der Erblasser über einen längeren Zeitraum (in der Regel mindestens 20 Jahre im Eltern‑Kindverhältnis: 2 Ob 83/21a) nicht in einem Naheverhältnis standen.
[17] 3. Der erkennende Fachsenat hat in der Entscheidung 2 Ob 116/22f ausgeführt, „Meiden“ iSd § 776 Abs 2 ABGB bedeute nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, jemandem aus dem Weg gehen bzw sich von jemandem fernhalten (Rz 35). Der Erblasser müsse sich daher dem Kontakt (auf welche Weise immer) entziehen. Dies könne beispielsweise auch dadurch geschehen, dass er auf allfällige Versuche der Kontaktaufnahme nicht reagiere. Einer bisher (nach der Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015) für den Ausschluss des Minderungsrechts geforderten aktiven Ablehnung eines Kontaktversuchs bedürfe es nach § 776 Abs 2 ABGB nicht (mehr). Dennoch müsse ein gewisses (sanktionsbedürftiges) Verhalten des Erblassers vorliegen, das es rechtfertige, ihm die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung zu verwehren (Rz 36; vgl RS0134105).
[18] 4. Vor diesem Hintergrund kann dem Berufungsgericht mit seiner sinngemäßen Beurteilung, ein Ausschlussgrund für die Pflichtteilsminderung nach § 776 Abs 2 ABGB liege nicht vor, nicht gefolgt werden: Wenn das (grundlose) Meiden schon vorliegt, wenn der Erblasser auf allfällige Versuche der Kontaktaufnahme nicht reagiert, muss dies umso eher bejaht werden, wenn er den angestrebten Kontakt – wie im vorliegenden Fall – aktiv ablehnt. Wenn nach den Feststellungen der Bruder der Klägerin (auf deren Initiative) beim Erblasser „vorfühlte“, ob dieser an einem Kontakt mit der Klägerin bzw seinen Kindern interessiert sei, kann dies nur so verstanden werden, dass aus diesem „Vorfühlen“ dem Erblasser jedenfalls erkennbar war, dass (zumindest auch) die Klägerin den Kontakt suchte. Wenn der Erblasser darauf ua antwortete, (in seinem Leben) sei kein Platz für seine Kinder, sie seien (Plural: also auch die Klägerin) Fremde, hat er damit auch die Klägerin gemeint und adressiert, zumal er damit rechnen musste, der Bruder werde der Klägerin seine Reaktion mitteilen.
[19] Im Sinn der Entscheidung 2 Ob 116/22f ist somit nach der zutreffenden Zugrundelegung der Vorinstanzen, dass es auf die rechtliche Verwandtschaft und nicht die leibliche ankommt (vgl dazu noch unten 7.3.), sodass der Erblasser als Grund für die Meidung des Kontakts auch nicht die fehlende Blutsverwandtschaft ins Treffen führen hätte können, in seiner Weigerung zur Kontaktaufnahme durchaus ein grundloses Meiden des Kontakts (auch) zur Klägerin zu erblicken.
[20] 5. Überdies hat der Erblasser mit seiner unfreundlichen und harschen Ablehnung jeglichen Kontakts für die Klägerin auch berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt iSd § 776 Abs 2 zweiter Fall ABGB gegeben: Wer wie hier (die Klägerin) so unfreundlich abgewiesen wird, hat einen berechtigten Anlass, zum anderen keinen Kontakt mehr zu suchen.
[21] 6. Da dem Erblasser schon aus den vorstehenden Gründen nach § 776 Abs 2 ABGB das Recht zur Pflichtteilsminderung nicht zustand, muss die Frage, ob der Erblasser – wie von den Vorinstanzen bejaht – in seinem Testament die Pflichtteilsminderung überhaupt vorgenommen hat, nicht beantwortet werden.
[22] 7. Den Argumenten der Revisionsbeantwortung ist noch Folgendes zu entgegnen:
[23] 7.1. Mit der Enterbung hat die Pflichtteilsminderung nichts zu tun: Der Enterbung liegen vom Gesetz missbilligte Verhaltensweisen des an sich Pflichtteilsberechtigten (§ 770 ABGB) zugrunde, während die Pflichtteilsminderung das fehlende Naheverhältnis zwischen Erblasser und Pflichtteilsberechtigtem und das Fehlen vom Gesetz missbilligter Verhaltensweisen des Erblassers (§ 776 Abs 2 ABGB) voraussetzt.
[24] 7.2. Dass die Ehe der Eltern der Klägerin aus dem Alleinverschulden des Erblassers geschieden wurde, ist für die Frage der Pflichtteilsminderung irrelevant und wurde von den Vorinstanzen ohnehin nicht ins Treffen geführt.
[25] 7.3. Die Revisionsgegnerin stützt sich auf die Entscheidungen 3 Ob 96/00i und 2 Ob 183/15y, wonach unter den in § 763 ABGB (vor dem ErbRÄG 2015, iVm § 42 ABGB) genannten ehelichen und unehelichen Kindern, Enkeln und Urenkeln nur die leiblichen sowie die Adoptivkinder zu verstehen sind (RS0114530). Da die Klägerin nicht die leibliche Tochter des Erblassers sei, sei sie überhaupt nicht pflichtteilsberechtigt.
[26] 7.3.1. Nach § 763 erster Halbsatz ABGB (idF vor dem ErbRÄG 2015) wurden unter dem Namen Kinder nach der allgemeinen Regel (§ 42) auch Enkel und Urenkel begriffen.
[27] 7.3.2. Die von der Revisionsgegnerin ins Treffen geführte Aussage aus den zitierten Entscheidungen ist nicht so zu verstehen, es komme – ungeachtet der rechtlich definierten Verwandtschaft – nur auf die Blutsverwandtschaft an. Andernfalls verlören die Normen, die die Vaterschaft und deren Anerkennung und Feststellung regeln (§§ 144 ff ABGB), jeglichen Sinn. Auch die zitierten Entscheidungen gehen davon aus, dass es (nur) auf die rechtlich definierte Verwandtschaft ankommt, wenn neben den leiblichen Kindern auch die Adoptivkinder genannt sind, die (in aller Regel) mit den Adoptiveltern nicht blutsverwandt sind. In der einschlägigen (erbrechtlichen) Rechtsprechung wurde iZm Erbrechten oder Pflichtteilsansprüchen auf die rechtlich definierte (und nicht auf die genetische) Verwandtschaft abgestellt (vgl 2 Ob 87/19m; 2 Ob 134/21a; 2 Ob 175/22g).
[28] 7.3.3. Mit der Rechtslage zur Aufrechnungseinrede mit einer bereits verjährten Forderung (vgl RS0034016) hat die Frage der (rechtlichen) Abstammung der Klägerin vom Erblasser nichts zu tun.
[29] 8. Als Ergebnis wird festgehalten, dass der Klägerin der volle Pflichtteil zusteht, weshalb das erstgerichtliche Urteil in seinem stattgebenden Teil wiederherzustellen war.
[30] 9. Die Kostenentscheidung für das Rechtsmittelverfahren gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.
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