OGH 2Ob116/22f

OGH2Ob116/22f6.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger in den verbundenen Rechtssachen der klagenden Parteien 1. P*, (führendes Verfahren: AZ 62 Cg 71/19p) und 2. A* (verbundenes Verfahren: AZ 62 Cg 52/20w), beide vertreten durch Dr. Helwig Keber, Rechtsanwalt in Graz, gegen die jeweils beklagte Partei D*, vertreten durch Mag. Kurt Kulac, Rechtsanwalt in Graz, wegen zuletzt 63.297,08 EUR sA (AZ 62 Cg 71/19p) und 16.400,73 EUR sA (AZ 62 Cg 52/20w), über die Revision der klagenden Partei im führenden Verfahren (Revisionsinteresse: 11.072,74 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 2. März 2022, GZ 4 R 232/21a‑64, mit dem einer Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 6. September 2021, GZ 62 Cg 71/19p‑60, nicht Folge gegeben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00116.22F.0906.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das Erstgericht zu entscheiden.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte ist die Tochter der 2017 verstorbenen Erblasserin und ihre testamentarische Alleinerbin. Die Klägerin des führenden Verfahrens, das Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, ist die Tochter eines vorverstorbenen Sohnes der Erblasserin. In ihrem Testament vom 14. 5. 2008 enterbte die Erblasserin die Klägerin, weil sie sich aufgrund eines Streits zwischen ihrem Schwiegersohn und der Klägerin im Zuge des Ablebens ihres vorverstorbenen Sohnes im März 2008 auch persönlich gekränkt fühlte. Bei der Auseinandersetzung ging es darum, ob der Schwiegersohn der Erblasserin, die ihren Sohn vor seinem Tod noch einmal sehen wollte, auf die Intensivstation vorgelassen werden sollte. Die Erblasserin hielt der Klägerin vor, ihr Verhalten sei nicht in Ordnung und bat sie, nicht böse auf sie zu sein. Die Klägerin erwiderte, die Erblasserin sei eine böse Frau. Aufgrund dieses Vorfalls hatte die Erblasserin bis zu ihrem Tod keinen weiteren Kontakt zur Klägerin.

[2] Auch in den Jahren davor (ab 1999 oder 2000) traf die Klägerin mit der Erblasserin aber lediglich bei Familienfeiern zusammen. Zu persönlichen Gesprächen kam es nicht. Weder die Klägerin noch die Erblasserin bemühten sich um ein Gespräch oder die Aufnahme weitergehenden Kontakts. Teils kam es über mehrere Jahre hinweg aufgrund von Zerwürfnissen der Erblasserin mit ihrem vorverstorbenen Sohn auch zu überhaupt keinen Kontakten.

[3] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob das Recht der Erblasserin, den Pflichtteil zu mindern, gemäß § 776 Abs 2 ABGB ausgeschlossen ist.

[4] Die Klägerin, die mit ihrer Pflichtteilsklage zuletzt die Zahlung von 63.297,08 EUR sA begehrt, bringt in diesem Zusammenhang vor, in den letzten 20 Jahren vor dem Tod der Erblasserin hätten gelegentliche Kontakte bei Familienfeiern stattgefunden. Die Erblasserin habe aber keinerlei Interesse am Kontakt mit der um Kontaktaufnahme bemühten Klägerin gehabt.

[5] Die Beklagte wendet im Wesentlichen ein, die Enterbung sei – sofern kein Enterbungsgrund vorliege – in eine Pflichtteilsminderung gemäß § 776 Abs 1 ABGB umzudeuten. Regelmäßiger Kontakt habe – insbesondere aufgrund des Verhaltens des Vaters der Klägerin – nicht bestanden. Die Klägerin sei auch nicht beim Begräbnis gewesen.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im führenden Verfahren im Umfang von 4.676,64 EUR sA statt und wies das Mehrbegehren ab. Die Enterbung sei mangels Vorliegens eines Enterbungsgrundes nicht wirksam, aber in eine Pflichtteilsminderung umzudeuten. Ein Naheverhältnis zwischen der Klägerin und der Erblasserin wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich bestehe, habe über einen längeren Zeitraum vor dem Tod nichtmehr bestanden (§ 776 Abs 1 ABGB). Mangels Kontaktaufnahmeversuchs durch die Klägerin sei das Pflichtteilsminderungsrecht gemäß § 776 Abs 2 ABGB auch nicht ausgeschlossen.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Ein Kontaktaufnahmeversuch des Pflichtteilsberechtigten sei nach der Neuregelung des § 776 Abs 2 ABGB für den Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung nicht mehr erforderlich. Maßgeblich sei, warum die Kontakte nicht stattgefunden hätten und wessen Verhalten dafür ursächlich gewesen sei. Habe der Erblasser den Kontakt gemieden, schließe dies unabhängig von Kontaktversuchen die Pflichtteilsminderung aus. Im vorliegenden Fall hätten sich weder die Klägerin noch die Erblasserin um einen über das Zusammentreffen bei Familienfeiern hinausgehenden Kontakt bemüht. Sowohl das Verhalten der Erblasserin als auch das der Klägerin sei daher für den mangelnden Kontakt kausal gewesen. Ein berechtigter Anlass für die Ablehnung des Kontakts habe nicht bestanden. Vielmehr habe das fehlende wechselseitige Interesse zum nicht vorhandenen Naheverhältnis geführt. Die von § 776 Abs 2 ABGB geforderten Voraussetzungen für den Ausschluss der Pflichtteilsminderung lägen daher nicht vor. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Pflichtteilsminderung gemäß § 776 Abs 2 ABGB ausgeschlossen sei, wenn das Verhalten des Erblassers und des Pflichtteilsberechtigten gleichermaßen für den fehlenden Kontakt ursächlich gewesen sei und es von beiden Seiten keine Kontaktaufnahmeversuche gegeben habe.

[8] Gegen dieses Urteil richtet sich die ordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, ihr weitere 11.072,74 EUR sA zuzusprechen.

[9] Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die ordentliche Revision ist zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Auslegung des § 776 Abs 2 ABGB idF des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) noch nicht vorliegt. Sie ist aber nicht berechtigt.

[11] Die Klägerin argumentiert, die Erblasserin habe sich nicht um den Kontakt mit ihr bemüht und diesen (dadurch) grundlos gemieden. Dass auch die Klägerin nicht um eine Kontaktaufnahme bemüht gewesen sei, sei für den Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung nicht entscheidend. Vielmehr sei das Verhalten der Erblasserin für den fehlenden Kontakt (mit‑)ursächlich gewesen. Eine Pflichtteilsminderung sei daher ausgeschlossen.

Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:

[12] 1. Da die Erblasserin nach dem 31. 12. 2016 verstorben ist, ist § 776 ABGB in der Fassung des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) anzuwenden (§ 1503 Abs 7 Z 1 und 2 ABGB). Auf den Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung kommt es nicht an (Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 776 ABGB Rz 1).

[13] Im Revisionsverfahren ist unstrittig, dass die Klägerin und die Erblasserin über einen längeren Zeitraum (vgl dazu ausführlich: 2 Ob 83/21a Pkt 2. [Eltern-Kind-Verhältnis: im Regelfall mindestens zwanzig Jahre]) vor deren Tod nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

[14] Zu prüfen ist, ob das Recht auf Pflichtteilsminderung gemäß § 776 Abs 2 ABGB ausgeschlossen ist.

2. Rechtslage vor Inkrafttreten des ErbRÄG 2015

2.1 Das Recht der Pflichtteilsminderung und dessen Ausschluss war in § 773a Abs 1 und 3 ABGB geregelt. Die Bestimmung lautete wie folgt:

„Standen der Erblasser und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit in einem Naheverhältnis, wie es in der Familie zwischen solchen Verwandten gewöhnlich besteht, so kann der Erblasser den Pflichtteil auf die Hälfte mindern (Abs 1).

Das Recht auf Pflichtteilsminderung steht nicht zu, wenn der Erblasser die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte mit dem Pflichtteilsberechtigten grundlos abgelehnt hat (Abs 3).“

[15] 2.2 Die Rechtsprechung behandelte beimAusschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung – mag die Regelung nach ihrem Wortlaut („Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte“) und dem Willen des Gesetzgebers (ErläutRV 296 BlgNR 21. GP  82) auch primär auf die Stärkung des Rechts des minderjährigen Kindes auf persönlichen Verkehr mit seinen Eltern abgezielt haben – minderjährige und volljährigen Noterben gleich (4 Ob 98/11g Pkt 12; auch 6 Ob 226/14z Pkt 1.4.) und forderte für die „Ablehnung“ des Rechts auf persönliche Kontakte zumindest einen Versuch der Kontaktaufnahme durch das jeweilige Gegenüber. Der Kontaktversuch musste aktiv abgelehnt werden. Das Unterlassen eines Kontaktaufnahmeversuchs fiel dem Pflichtteilsberechtigten aber dann nicht zur Last, wenn ihm ein solcher aufgrund des Verhaltens des Erblassers nicht zumutbar war (zuletzt 6 Ob 226/14z Pkt 1.5.2.).

3. Die nun in § 776 ABGB enthaltene Regelung zur Pflichtteilsminderung lautet wie folgt:

„Der Verfügende kann den Pflichtteil letztwillig auf die Hälfte mindern, wenn er und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod des Verfügenden nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht (Abs 1).

Das Recht auf Pflichtteilsminderung steht nicht zu, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat (Abs 2).“

[16] 4. Die Materialien (ErläutRV 688 BlgNR 25. GP 30 f) führen zusammengefasst aus, nach bisherigem Recht sei die Pflichtteilsminderung nur möglich gewesen, wenn zwischen dem Verstorbenen und dem Pflichtteilsberechtigten niemals ein Naheverhältnis bestanden habe, wie es zwischen solche Verwandten üblich wäre. Diese Reduktionsmöglichkeit erscheine heute zu restriktiv. Mit der Neuregelung solle die Pflichtteilsminderung auch dann ermöglicht werden, wenn das gemeinsame Familienleben bereits seit längerer Zeit vor dem Tod des Verstorbenen geendet habe. Die Erweiterung der Möglichkeit der Pflichtteilsminderung bringe die Notwendigkeit mit sich, das in Abs 2 enthaltene Korrektiv anzupassen. Da es dann vermehrt auf das Verhältnis zwischen erwachsenen Personen ankomme, könne nicht nur ausschließlich darauf abgestellt werden, ob der Verstorbene das „Recht auf persönlichen Verkehr“ verletzt habe, das wohl auf minderjährige Kinder zugeschnitten sei. Vorgeschlagen werde, dass allgemein nicht mehr auf das vom Verstorbenen grundlos abgelehnte Recht auf persönlichen Kontakt mit dem Pflichtteilsberechtigten abgestellt werde. Vielmehr solle das Recht auf Pflichtteilsminderung dann nicht zustehen, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder er berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben habe. Entscheidend sei, warum die Kontakte nicht stattgefunden hätten und wessen Verhalten letztlich dafür ursächlich gewesen sei.

5. In der Literatur werden zur Neuregelung folgende Ansichten vertreten:

[17] 5.1 Musger (in KBB 6 § 776 ABGB Rz 4) deutet die Bezugnahme auf das grundlose Meiden des Kontakts in der Neuregelung als Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung. Ein Kontaktversuch des Pflichtteilsberechtigten sei nicht mehr erforderlich. Dafür spreche auch die Formulierung der Materialien, wonach entscheidend sei, warum die Kontakte nicht stattgefunden hätten und wessen Verhalten letztlich dafür ursächlich gewesen sei. Habe der Verstorbene den Kontakt gemieden, schließe dies unabhängig von Kontaktversuchen des Berechtigten die Pflichtteilsminderung in der Regel aus. Anderes würde nur gelten, wenn das Meiden auf einem dem Pflichtteilsberechtigten zurechenbaren Grund beruhte. Habe der Erblasser den Kontakt erfolglos gesucht, könne er den Pflichtteil mindern, außer er hätte selbst berechtigten Anlass für die Ablehnung des Kontakts durch den Pflichtteilsberechtigten gegeben.

[18] 5.2 Nemeth (in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 776 Rz 9) gibt zunächst den Gesetzestext wieder und führt aus, die Vorgängerbestimmung habe eine Pflichtteilsminderung nur vorgesehen, wenn der Erblasser sein Recht auf persönlichen Kontakt grundlos verweigert habe und sei daher auf Minderjährige zugeschnitten gewesen. Die Rechtsprechung (4 Ob 98/11g) habe aber bereits die alte Rechtslage im Sinn der Neuregelung verstanden.

[19] 5.3 Kogler (in Klang³ § 776 ABGB Rz 25 f) vertritt die Ansicht, die Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung seien weiterhin anzuwenden, weil sich aus den Materialien insoweit kein Abgehen vom bisherigen Recht ergebe. Auch die Formulierung der Materialien, es sei entscheidend, warum die Kontakte nicht stattgefunden hätten und wessen Verhalten letztlich dafür ursächlich gewesen sei, passe zur bisherigen Rechtsprechung, die nicht pauschal auf das Unterbleiben des Kontaktversuchs durch den Pflichtteilsberechtigten abgestellt habe. Habe sich der Pflichtteilsberechtigte passiv verhalten, ohne dass der ebenfalls passive Erblasser dazu Anlass gegeben habe, könne man (immer) noch davon ausgehen, dass eine Pflichtteilsminderung zustehe. Der Verstorbene habe den Kontakt genauso viel oder genauso wenig grundlos gemieden wie der Pflichtteilsberechtigte. Für diese Ansicht spreche auch, dass der Gesetzgeber des ErbRÄG 2015 an sich die Pflichtteilsminderung erleichtern und erweitern habe wollen. Dem würde aber zuwiderlaufen, nunmehr bei passivem Verhalten beider – wobei keiner der beiden dem anderen Anlass zum fehlenden Kontakt gegeben habe – eine Pflichtteilsminderung auszuschließen, obwohl dies im alten Recht nicht der Fall gewesen sei.

[20] 5.4 Nach Welser (Erbrechts-Kommentar § 776 ABGB Rz 9 f) solle verhindert werden, dass der Erblasser durch sein Verhalten ein Naheverhältnis vermeide und so die Voraussetzungen einer Pflichtteilsminderung schaffe oder aufrecht halte. Minderjährige und erwachsene Pflichtteilsberechtigte seien gleich zu behandeln. Es komme daher nicht mehr darauf an, ob der Erblasser sein „Recht auf persönliche Kontakte“ verletzt habe. Wer trotz bestehender gesetzlicher Verpflichtung und entgegen dem Wunsch des eigenen Kindes keinen Umgang mit ihm haben wolle, brauche eine besondere Rechtfertigung, um das Minderungsrecht zu behalten.

[21] 5.5 Bittner/Hawel (in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 776 Rz 3) führen aus, der Pflichtteil könne nicht gemindert werden, wenn das Fehlen des Kontakts dem Verstorbenen zurechenbar sei, dh er entweder den Kontakt grundlos verweigere, allenfalls auch sich diesem (auf welche Weise immer) sonst entzogen habe, oder durch sein Verhalten berechtigten Anlass für die Ablehnung des Kontakts durch den Pflichtteilsberechtigten gegeben habe. Grundlos meide den Kontakt etwa, wer – obwohl der Pflichtteilsberechtigte dafür keinen nachvollziehbaren Anlass gegeben habe – auf Versuche der Kontaktaufnahme nicht reagiere. Meidung des Kontakts erfordere aber zumindest den Versuch einer Kontaktaufnahme durch das jeweilige Gegenüber. Der Gesetzgeber habe aber erkannt, dass es nicht auf die Ablehnung des „Rechts auf persönliche Kontakte“ ankommen könne, weil diese Form des Beziehungsaufbaus nur auf das Verhältnis zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern oder Großeltern anwendbar sei. Ob daher unter Erwachsenen eine Pflicht zur Kontaktaufnahme bestehe, das heißt bloßes Passivbleiben beider Seiten schon ausreiche, um die Pflichtteilsminderung auszuschalten, dürfe bezweifelt werden. Zwischen Volljährigen bestehe nämlich grundsätzlich weder ein Recht noch eine Pflicht zur Kontaktaufnahme. Erfolge der erste Kontaktaufnahmeversuch erst nach Volljährigkeit, schließe die Verweigerung daher die Pflichtteilsminderung nicht prinzipiell aus.

[22] 5.6 Nach Binder/Giller (in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge² § 9 Rz 62) werde durch die Neuregelung die Pflichtteilsminderung weiter erschwert. Unproblematisch seien nun nur noch jene Fälle, in denen beiderseits kein Interesse an persönlichem Kontakt bestehe und dem Erblasser kein gravierendes Fehlverhalten vorzuwerfen sei. Sobald aber einer der beiden (regelmäßig der Pflichtteilsberechtigte) an den anderen mit dem Wunsch auf Kontaktaufnahme herantrete, sei es schnell um das Recht auf Pflichtteilsminderung geschehen. Immerhin solle es aber nach der ersten Alternative des § 776 Abs 2 ABGB („Kontakt grundlos gemieden“) auf die Gründe für die Ablehnung des Kontakts ankommen. Mit der zweiten Alternative („berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben“) versuche der Gesetzgeber jene Fälle in den Griff zu bekommen, in denen weder eine versuchte Kontaktaufnahme einerseits noch eine Kontaktablehnung andererseits erfolgte und somit der Tatbestand des § 773a ABGB aF gar nicht erfüllt gewesen sei.

[23] 5.7 Eccher/Umlauft (Erbrecht² Rz 11/25) fordern unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung den Versuch einer Kontaktaufnahme, um das Minderungsrecht auszuschließen.

[24] 5.8 Barth (in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts, 190) gibt im Wesentlichen die Materialien wieder.

6. Stellungnahme des Senats

[25] 6.1 § 776 Abs 2 ABGB schließt das Recht auf Pflichtteilsminderung aus, wenn der Erblasser den Kontakt grundlos gemieden (erster Fall) oder Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat (zweiter Fall). Anhaltspunkte dafür, dass die Erblasserin (berechtigten) Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hätte, sind dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Das Pflichtteilsminderungsrecht könnte daher nur dann ausgeschlossen sein, wenn sie den Kontakt grundlos gemieden hätte.

[26] 6.2 Zunächst ist festzuhalten, dass – wie aus den Materialien eindeutig ersichtlich – der Gesetzgeber eine Neureglung des Ausschlusses der Pflichtteilsminderung gerade deshalb anstrebte, weil es durch die Ausdehnung des Pflichtteilsminderungsrechts vermehrt auf das Verhältnis zwischen erwachsenen Personen ankommt und die bisherige Regelung – mag sie von der Rechtsprechung unter Hinweis auf die Textierung und den erbrechtlichen Charakter der Norm auch auf volljährige Pflichtteilsberechtigte angewendet worden sein (vgl oben Pkt 2.2) – auf minderjährige Kinder zugeschnitten war. Es wird daher allgemein nicht mehr auf das vom Verstorbenen grundlos abgelehnte „Recht“ auf Ausübung persönlicher Kontakte mit dem Pflichtteilsberechtigten, sondern auf die grundlose Meidung des Kontakts abgestellt.

[27] Damit ist aber zunächst der Wille des Gesetzgebers klar (arg: „allgemein“), eine einheitliche, sowohl für minderjährige als auch volljährige Pflichtteilsberechtigte gleichermaßen geltende Regelung zu schaffen (so auch Welser aaO Rz 10).

[28] 6.3 Dass der Gesetzgeber nicht nur eine auch an das Verhältnis zwischen erwachsenen Pflichtteilsberechtigten angepasste Formulierung und im Ergebnis eine Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung zum Erfordernis eines Kontaktaufnahmeversuchs, sondern vielmehr eine inhaltliche Neuregelung vornehmen wollte, geht schon daraus hervor, dass andernfalls bloß eine Übernahme des auf die „grundlose Ablehnung des Kontakts“ eingeschränkten Wortlauts der bisherigen Regelung zu erwarten gewesen wäre. Der Gesetzgeber hat sich aber dazu entschlossen, davon abweichend auf das „grundlose Meiden des Kontakts“ abzustellen.

[29] Überdies hat der Gesetzgeber gerade aus der Möglichkeit, nun auch bei Fehlen eines Naheverhältnisses über einen längeren Zeitraum eine Pflichtteilsminderung letztwillig zu verfügen, die Notwendigkeit abgeleitet, das „Korrektiv“ des Ausschlusses „anzupassen“. Dies spricht dafür, für den Ausschluss des Minderungsrechts (zu Gunsten des Pflichtteilsberechtigten) keinen Kontaktaufnahmeversuch durch den Berechtigten (mehr) zu fordern. Dadurch wird ein gewisser Ausgleich („Korrektiv“) zwischen den Interessen des Erblassers an der erweiterten Möglichkeit, den Pflichtteil zu mindern, und jenen des Pflichtteilsberechtigten am Erhalt des ungeminderten Pflichtteils geschaffen.

[30] Eine Kontaktmeidung setzt keinen vorangehenden Kontaktaufnahmeversuch voraus. Auch Bittner/Hawel (aaO) führen – obwohl sie grundsätzlich einen Kontaktaufnahmeversuch für den Ausschluss des Minderungsrechts fordern – aus, das Minderungsrecht stehe auch dann nicht zu, wenn sich der Erblasser dem Kontakt (auf welche Weise immer) sonst entzogen habe.

Als (erstes) Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:

[31] Der Ausschluss der Pflichteilsminderung nach § 776 Abs 2 erster Fall ABGB setzt keinen vorangehenden Kontaktaufnahmeversuch des Pflichtteilsberechtigten voraus.

[32] Trotz unterbliebenen Kontaktaufnahmeversuchs der klagenden Pflichtteilsberechtigten könnte daher die Pflichtteilsminderung ausgeschlossen sein.

[33] 6.4 Zu prüfen bleibt, ob der Umstand, dass sich (auch) die Erblasserin weder um persönliche Gespräche im Zuge der sporadischen Zusammentreffen bei Familienfeiern noch sonst um weitergehenden Kontakt bemühte, bereits eine „Meidung“ des Kontakts iSd § 776 Abs 2 ABGB darstellt.

[34] Dass die Klägerin der Erblasserin dafür einen Grund gegeben hätte und daher schon deshalb das Pflichtteilsminderungsrecht nicht ausgeschlossen wäre, ist den Feststellungen nicht zu entnehmen. Der Vorfall im März 2008 ändert daran nichts, weil bereits zuvor kein Naheverhältnis bestand, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.

[35] „Meiden“ bedeutet nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (vgl www.duden.de ), jemandem aus dem Weg gehen bzw sich von jemandem fernhalten.

[36] Wie Bittner/Hawel (aaO) zutreffend ausführen, muss sich daher der Erblasser dem Kontakt (auf welche Weise immer) entziehen. Dies kann beispielsweise auch dadurch geschehen, dass er auf allfällige – entgegen den genannten Autoren aber nicht mehr erforderliche – Versuche der Kontaktaufnahme nicht reagiert. Einer bisher für den Ausschluss des Minderungsrechts geforderten aktiven Ablehnung eines Kontaktversuchs (vgl zur Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015: 6 Ob 226/14z Pkt 1.5.2.), bedarf es nach § 776 Abs 2 ABGB nicht (mehr). Dennoch muss ein gewisses (sanktionsbedürftiges) Verhalten des Erblassers vorliegen, das es rechtfertigt, ihm die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung zu verwehren.

Als (zweites) Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:

[37] Hat der Erblasser (wie auch der erwachsene Pflichtteilsberechtigte) lediglich kein Kontaktinteresse, verhält sich also bloß passiv und bemüht sich schlicht nicht um Kontakt – wobei weder er noch der Pflichtteilsberechtigte dem anderen Anlass bzw Grund für den fehlenden Kontakt gegeben haben –, stellt dies (noch) kein „Meiden“ des Kontakts iSd § 776 Abs 2 ABGB dar, das zum Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung führt.

[38] Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass das Recht auf Pflichtteilsminderung nicht ausgeschlossen und der Revision daher nicht Folge zu geben ist.

[39] 7. Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 3 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte