European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00006.23W.0228.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] Das Rekursgericht gab dem Antrag des Vaters statt, einen der beiden Pässe des minderjährigen Doppelstaatsbürgers dauerhaft verwahren zu dürfen.
[2] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zielt auf die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung ab, dass die Mutter als Domizilelternteil den Reisepass nur bei rechtzeitiger Information über die Details der bevorstehenden Auslandsreise herausgeben und der Vater den Reisepass nach der Auslandsreise der Mutter zurückzustellen habe. Er zeigt jedoch keine erhebliche Rechtsfrage auf und ist daher nicht zulässig.
[3] 1. Der Revisionsrekurs argumentiert, dass der Domizilelternteil gemäß § 177 Abs 4 ABGB mit der gesamten Obsorge betraut sein müsse. Die Rekursentscheidung schränke die Obsorge der Mutter unzulässig ein.
[4] 1.1. Gemäß § 162 Abs 1 ABGB hat der hierzu berechtigte Elternteil auch das Recht, den (konkreten, schlichten) Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Dies umfasst auch Urlaubsreisen oder sonstige kürzere Aufenthalte in das Ausland (RS0111798; RS0111799).
[5] Seit dem KindNamRÄG 2013 steht das Aufenthaltsbestimmungsrecht bei gemeinsamer Obsorge beider Eltern aber nicht mehr primär dem Domizilelternteil zu (Beck, Kindschaftsrecht³ [2021] 894; aA jedoch Beclin, Zusammenspiel von Obsorge, Betreuung und Informationspflicht nach dem KindNamRÄG 2013, in Gitschthaler, Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013 [2013] 195 [204] und Hopf/Höllwerth, KBB6 [2020] § 162 Rz 3). Vielmehr ist es nun nach der Grundregel des § 137 Abs 2 ABGB für die gemeinsame Obsorge soweit tunlich und möglich einvernehmlich wahrzunehmen (8 Ob 146/15a [Pkt 3.2]; Beck, Kindschaftsrecht³ [2021] 238; Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 [2018] § 162 ABGB Rz 2; Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB5 [2018] § 162 Rz 4).
[6] 1.2. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht des obsorgeberechtigten Elternteils schließt nach der Rechtsprechung die Berechtigung mit ein, die Reisedokumente für das Kind innezuhaben (RS0130737; Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB5 [2018] § 162 ABGB Rz 1; Hopf/Höllwerth in KBB6 [2020] § 162 Rz 3).
[7] Bei gemeinsamer Obsorge sind also grundsätzlich beide Elternteile berechtigt, die Reisedokumente des Kindes zu verwahren. Dass typischerweise nur einfach vorhandene Dokumente des Kindes bei getrennt lebenden Eltern rein faktisch nicht in beiden Haushalten zugleich verwahrt werden können, ändert jedoch nichts daran, dass auch der mitobsorgeberechtigte Elternteil mit dem Reisepass des Kindes nur im Einvernahmen mit dem anderen Elternteil darüber bestimmen darf, wo sich das Kind faktisch aufhält, also ob es etwa eine Urlaubsreise antritt.
[8] Eine Einschränkung oder Erweiterung der Obsorge tritt durch die Innehabung von Dokumenten also gerade nicht ein – dies auch dann nicht, wenn sie vom Gericht aufgrund eines Antrags nach § 181 ABGB nicht dem Domizilelternteil gestattet oder aufgetragen wird.
[9] 1.3. Wie das Rekursgericht bereits richtig aufzeigte, resultiert die wechselseitige Informationspflicht bereits aus dem Gebot des Zusammenwirkens beider mitobsorgeberechtigter Elternteile (Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.05 [2018] § 137 Rz 17; Beclin, Zusammenspiel von Obsorge, Betreuung und Informationspflicht nach dem KindNamRÄG 2013, in Gitschthaler, Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013 [2013] 195 [206]).
[10] Ein Einvernehmen über den Aufenthaltsort des Kindes kann nämlich nur erzielt werden, wenn die Eltern einander jene Informationen zur Verfügung stellen, die für die Zustimmung des anderen erforderlich sind. Dazu werden bei einer Auslandsreise typischerweise Informationen über Reiseziel, Reisedaten (einschließlich der verwendeten Transportmittel) und Zweck der Reise gehören.
[11] Dieser Informationsaustausch ist auch zum Schutz des Kindeswohls unerlässlich. Nur so kann jeder Elternteil die Fragen des Kindes zur bevorstehenden Reise beantworten, wenn es sich gerade in seiner Obhut befindet. Auch Reisevorbereitungen wie allenfalls das Beantragen erforderlicher Visa oder erforderliche Reiseimpfungen, aber auch das Packen passender Kleidung und persönlicher Gegenstände für das Kind setzen zumindest diesen Informationsaustausch voraus.
[12] 2.1. Können gemeinsam obsorgeberechtigte Eltern in einer wichtigen Angelegenheit keine einvernehmliche Lösung finden, so kann jeder Elternteil – wie hier – eine Verfügung des Gerichts nach § 181 Abs 2 ABGB beantragen. Eine Kindeswohlgefährdung muss dafür nicht vorliegen (2 Ob 195/07a mit ausführlicher Begründung; Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 [2021] § 182 Rz 11; Hopf/Höllwerth in KBB6 [2020] §§ 181–182 Rz 3; Ondreasova in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 [2022] § 181 Rz 31).
[13] Diese Möglichkeit besteht auch und gerade dann, wenn die Eltern nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben. Entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Ansicht liegt in einer solchen Gerichtsentscheidung kein Verstoß gegen die Bestimmung des § 177 Abs 4 ABGB, laut der ein Domizilelternteil grundsätzlich mit der gesamten Obsorge betraut sein muss.
[14] 2.2. Entscheidungen über die Kindesobsorge stellen, sofern dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde, solche des Einzelfalls dar, denen keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 62 AußStrG zukommt (RS0115719 [T7]).
[15] Dies gilt auch in jenen Fällen, in denen das Gericht wegen fehlenden Einvernehmens der Eltern auf Antrag eines Elternteils eine Verfügung nach § 181 Abs 2 ABGB zu treffen hat.
[16] 2.3. Eine nähere Auseinandersetzung mit der im Revisionsrekurs zitierten Rechtsprechung, wonach die Verwahrung der Dokumente des Kindes beim Domizilelternteil zu erfolgen habe (EFSlg 38.220 = LGZ Wien 1. 10. 1981, 44 R 3342/81 EFSlg 110.752 = LGZ Wien 26. 9. 2005, 45 R 275/05g – beide jedoch zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013; EFSlg 166.595 = LGZ Wien 6. 5. 2021, 48 R 112/21g und EFSlg 162.081 = LGZ Wien 19. 3. 2019, 45 R 132/19y; gegenteilig nur EFSlg 152.775 = LG Salzburg 21. 3. 2017, 21 R 438/16g) kann im vorliegenden Fall unterbleiben. Das Kind besitzt aufgrund seiner Doppelstaatsangehörigkeit ausnahmsweise zwei Reisepässe von EU-Staaten, sodass die Verwahrung bei jeweils einem der Elternteile faktisch möglich ist.
[17] Ein Verstoß gegen das Kindeswohl, der eine Korrektur des Obersten Gerichtshofs im Einzelfall erforderlich machen würde, wird vom Revisionsrekurs nicht aufgezeigt.
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