OGH 8ObS8/22t

OGH8ObS8/22t23.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J* S*, vertreten durch Dr. Herbert Marschitz und andere Rechtsanwälte in Kufstein, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, 6020 Innsbruck, Meraner Straße 1, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 34.726 EUR sA (Insolvenzentgelt), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. Oktober 2022, GZ 25 Rs 56/22 d‑34, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 9. Juni 2022, GZ 44 Cgs 43/21m‑27, samt dem ihm vorangegangenen Verfahren für nichtig erklärt und die Klage zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:008OBS00008.22T.0223.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Berufung aufgetragen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.766,16 EUR (darin 294,36 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Das Landesgericht Innsbruck eröffnete mit Beschluss vom 24. 2. 2020 über das Vermögen der in F* (Deutschland) ansässigen A* GmbH (in der Folge: Schuldnerin) das Konkursverfahren und sprach nach § 220 IO aus, dass es sich um ein Partikularverfahren handelt.

[2] In der Folge beantragte der Kläger bei der Beklagten Insolvenzentgelt mit dem Vorbringen, bei der Schuldnerin von 1. 5. 2019 bis 17. 3. 2020 als Angestellter beschäftigt gewesen zu sein und seit Juli 2019 keine Zahlungen erhalten zu haben.

[3] Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 11. 1. 2021 die Zahlung von Insolvenzentgelt ab.

[4] Der Kläger begehrt mit seiner Klage von der Beklagten den ihm bescheidmäßig verweigerten Betrag von 34.726 EUR sA an Ansprüchen für den Zeitraum ab 1. 7. 2019 bis zu seinem Austritt. Dabei bringt er nunmehr vor, ab dem 1. 2. 2019 bei der Beklagten beschäftigt gewesen zu sein und für sie zuvor bereits von 1. 9. 2002 bis 31. 12. 2017 gearbeitet zu haben.

[5] Die Beklagte beantragte die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Klage. Ersteres begründete sie damit, dass sich durch die unterschiedliche Beschäftigungszeit der anspruchsbegründende Sachverhalt wesentlich verändert habe und über diesen die Beklagte nie entschieden habe.

[6] Das Erstgericht wies die Klage ab. Nach dem festgestellten Sachverhalt habe der Kläger über acht Monate Entgelt stehen gelassen und dieses nie vehement geltend gemacht, weshalb er sich mit der Überwälzung des Finanzrisikos auf die Beklagte abgefunden habe und die Geltendmachung von Insolvenzausfallgeld missbräuchlich sei. Den Antrag der Beklagten auf Zurückweisung der Klage ließ das Erstgericht unbehandelt.

[7] Das Berufungsgericht erklärte aus Anlass der vom Kläger erhobenen Berufung die angefochtene Entscheidung und das ihr zugrundeliegende Verfahren inklusive der Klagezustellung für nichtig und wies die Klage zurück. Das Erstgericht habe die Frage der Zulässigkeit des Rechtswegs nicht thematisiert, weshalb das Berufungsgericht diese erstmals zu behandeln habe. Aufgrund der (Fremdvergleichs-)Judikatur sei von Relevanz, wie lange das Dienstverhältnis bereits gedauert habe. Über Ansprüche aus einem 15 Jahre lang bestehenden Dienstverhältnis habe die Beklagte nicht entschieden. Derartige nachträgliche Änderungen müssten zunächst bei ihr geltend gemacht werden. Weil dies nicht geschehen sei, müsse nach § 73 ASGG vorgegangen werden.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der von der Beklagten beantwortete Rekurs des Klägers, mit dem er beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Verfahren an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom ausgesprochenen Zurückweisungsgrund zurückzuverweisen, ist zulässig und berechtigt.

[9] 1. Die Zulässigkeit des Rechtswegs ist eine absolute Prozessvoraussetzung, die in jeder Lage des Verfahrens bis zur Rechtskraft der Entscheidung auch von Amts wegen wahrzunehmen ist (RIS‑Justiz RS0046249 [T4]). Da sich das Berufungsgericht mit dem zur Klagezurückweisung führenden Nichtigkeitsgrund erstmals auseinandergesetzt hat, steht dem Kläger der (Voll-)Rekurs nach § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zu. Sein Rechtsmittel unterliegt damit nicht den Beschränkungen des § 528 ZPO (RS0116348; RS0043861).

[10] 2. Gemäß § 67 Abs 1 ASGG darf in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 4 und 6 bis 8 (hier: Z 7) ASGG sowie über die Kostenersatzpflicht eines Versicherungsträgers nach § 65 Abs 1 Z 5 ASGG – vorbehaltlich des § 68 ASGG – vom Versicherten eine Klage nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb der in § 67 Abs 1 Z 2 ASGG genannten Fristen erlassen hat.

[11] Außerhalb von Säumnisfällen setzt jede Klage einen Bescheid voraus, der „darüber“, das heißt über den der betreffenden Leistungssache zugrundeliegenden Anspruch des Versicherten ergangen sein muss (RS0085867). Der Streitgegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens muss mit jenem des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens identisch sein, da ansonsten eine „darüber“ ergangene Entscheidung des Versicherungsträgers fehlt (10 ObS 141/22s [Rz 15]; vgl auch RS0124349). Wird hiergegen verstoßen, so ist nach § 73 ASGG (Klagezurückweisung) und gegebenenfalls auch § 477 Abs 1 Z 6 ZPO (Nichtigerklärung) vorzugehen.

[12] 3. Zweck des IESG ist eine sozialversicherungsrechtliche Sicherung von Entgeltansprüchen und sonstigen aus dem Arbeitsverhältnis erwachsenden Ansprüchen von Arbeitnehmern im Falle der Insolvenz ihres Arbeitgebers. Versichertes Risiko ist im Kernbereich die Gefahr des gänzlichen oder teilweisen Verlusts ihrer Entgeltansprüche, auf die sie typischerweise zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts sowie des Lebensunterhalts ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen angewiesen sind (8 ObS 4/22d [Rz 1] mwN).

[13] Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, die zu einer bewussten Überwälzung des Finanzierungsrisikos des Arbeitgebers auf den Insolvenzentgeltfonds führen, begründen nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Allgemeinen Rechtsmissbrauch (8 ObS 4/13s mwN).

[14] Das „Stehenlassen“ laufender Entgelte wird als ein gewichtiges Indiz für die Absicht des (säumigen) Arbeitnehmers angesehen, er wolle die anfallenden Entgeltansprüche auf den Insolvenzentgeltfonds überwälzen bzw nehme er solches zumindest (billigend) in Kauf. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats kann zwar regelmäßig allein aus der zeitlichen Komponente des „Stehenlassens“ von Entgeltansprüchen nicht darauf geschlossen werden, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich das Finanzierungsrisiko auf den Insolvenzentgeltfonds überwälzen wolle. Allerdings kann im Einzelfall dann, wenn zum „Stehenlassen“ von Entgelt weitere Umstände hinzutreten, die konkret auf den Vorsatz des Arbeitnehmers schließen lassen, das Finanzierungsrisiko auf den Fonds zu überwälzen, die Geltendmachung eines Anspruchs auf Insolvenzausfallgeld missbräuchlich sein (8 ObS 4/20a [Pkt 1.2] mwN).

[15] Ob aus dem „Stehenlassen“ der Entgelte in Verbindung mit den Umständen des Einzelfalls der zumindest bedingte Vorsatz der Verlagerung des Finanzierungsrisikos geschlossen werden kann, ist im Rahmen des „Fremdvergleichs“ zu beurteilen. Dieser besteht im Wesentlichen darin, dass aus typischerweise bekannten Tatsachen anhand des einem „fremden“ Arbeitnehmer (bei dem also der Interessengegensatz und das Bewusstsein des Risikos des Entgeltverlusts voll ausgeprägt ist) bei den konkreten Umständen zu unterstellenden Verhaltens auf den im Ergebnis relevanten „inneren“ – zumindest bedingten – Vorsatz geschlossen wird. Ergibt sich aus dem Fremdvergleich der Schluss, dass zumindest der bedingte Vorsatz einer Überwälzung des Finanzierungsrisikos anzunehmen ist, so kann dieser nicht durch einen Beweis über die konkreten Absichten des Arbeitnehmers widerlegt werden (8 ObS 4/20a [Pkt 1.4] mwN).

[16] Der Fremdvergleich hat sämtliche objektiven Anhaltspunkte heranzuziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Entgeltrückstände entstanden sind, aber auch, wann und in welcher Höhe diese entstanden sind und in welchem Ausmaß in diesem Zeitraum vom Arbeitgeber Nachzahlungen auf den Rückstand geleistet wurden. Es ist auch auf die Beschäftigungsdauer Rücksicht zu nehmen. Umso mehr der Arbeitgeber (nahezu) von Anfang an das Entgelt nicht ausgezahlt hat, desto schneller wäre ein typischer Arbeitnehmer aufgrund der regelmäßig zur Dauer der Beschäftigung proportionalen und damit bei kurzer Beschäftigung geringen Betriebstreue ausgetreten (vgl RS0114470 samt insb T1, T2, T3, T9, T19, T22).

[17] 4. Seit wann der Arbeitnehmer beim Schuldner beschäftigt war und ob dem Beschäftigungsverhältnis allenfalls andere beim selben Arbeitgeber vorangingen, ist damit für den Fremdvergleich von Bedeutung.

[18] Im vorliegenden Fall brachte der Kläger im Verwaltungsverfahren vor, seit 1. 5. 2019 bis 17. 3. 2020 bei der Schuldnerin beschäftigt gewesen zu sein und seit Juli 2019 keine Zahlungen erhalten zu haben. Demgegenüber brachte er im sozialgerichtlichen Verfahren vor, dass das Dienstverhältnis bereits am 1. 2. 2019 begonnen habe und dass er zuvor bereits vom 1. 9. 2002 bis 31. 12. 2017 –  also viele Jahre  – für die Schuldnerin gearbeitet habe. Diese Modifikation des Vorbringens könnte für den Ausgang des Fremdvergleichs von Relevanz sein.

[19] 5. Es ist aber zu berücksichtigen, dass der Fremdvergleich allein dazu dient, zu prüfen, ob das Insolvenzentgelt vom Arbeitnehmer rechtsmissbräuchlich beansprucht wird (siehe oben Pkt 3.).

[20] Rechtsmissbrauch ist ein rechtsvernichtender Umstand (5 Ob 119/19i [Pkt 3.3.]). Dementsprechend wurde auch bereits vom Obersten Gerichtshof entschieden, dass der Versicherungsträger, der sich auf einen Rechtsmissbrauch des Versicherten beruft, diesen nach der auch in Sozialrechtssachen geltenden Grundregel beweisen muss (RS0037797 [T14]).

[21] Vorbringen, das zur Untermauerung eines Rechtsmissbrauchs oder zu dessen Widerlegung erstattet wird, betrifft damit nicht den Anspruch. Bringt der Arbeitnehmer Umstände vor, die für den Fremdvergleich insofern von Interesse sind, als dass in ihrem Lichte sein Verhalten nicht rechtsmissbräuchlich erscheinen könnte, so ändert er damit nicht den Streitgegenstand (siehe oben Punkt 2.). Dies ergibt sich auch daraus, dass es grundsätzlich Aufgabe der Beklagten ist, von Amts wegen den Sachverhalt (einschließlich eines allfälligen, den Arbeitnehmer anzulastenden Rechtsmissbrauchs) zu ermitteln (§ 14 IEF‑Service-GmbH-Gesetz iVm § 37 AVG). So wie die Ermittlung eines Sachverhalts, der für oder gegen einen Rechtsmissbrauch des Arbeitnehmers spricht, den Streitgegenstand nicht zu ändern vermag, vermag es auch am Streitgegenstand nichts zu ändern, wenn der Arbeitnehmer erst vor Gericht Umstände vorbringt, die gegen einen Rechtsmissbrauch durch ihn sprechen.

[22] Die Beurteilung des Berufungsgerichts, es liege Unzulässigkeit des Rechtswegs vor, weil die Beklagte nur über ein seit 1. 5. 2019 bestehendes Dienstverhältnis entschieden habe, und somit nicht über ein solches, wie es nunmehr vom Kläger behauptet wurde, erweist sich demnach als korrekturbedürftig. Die angenommene Unzulässigkeit des Rechtswegs liegt nicht vor. In Stattgebung des Rekurses war der angefochtene Beschluss ersatzlos zu beheben und dem Berufungsgericht die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens über die Berufung aufzutragen.

[23] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Das Rekursgericht fasste den angefochtenen Beschluss von Amts wegen, sodass an sich kein echter Zwischenstreit vorliegen würde. Die Beklagte ist in der Rekursbeantwortung aber dem Rekurs des Klägers entgegengetreten, wodurch sie im Rechtsmittelverfahren einen echten Zwischenstreit auslöste (8 ObA 17/20p [Pkt 3.] mwN). Da sie in diesem unterlag, hat sie die Kosten des Rechtsmittelverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof zu tragen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte