OGH 1Ob3/23g

OGH1Ob3/23g27.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. P*, vertreten durch Mag. Eduard Aschauer, Rechtsanwalt in Steyr, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 6.105,05 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 14. November 2022, GZ 14 R 149/22t‑17, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 2. Juni 2022, GZ 33 Cg 46/21h‑11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00003.23G.0127.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, derbeklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 522,10 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Das Landesgericht Steyr fasste, nachdem die zuständige Staatsanwaltschaft dort in einer Jugendstrafsache Anklage eingebracht hatte, am 5. 1. 2021 den Beschluss „auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers für [den Angeklagten] – ohne Kosten – gem § 61 (3) 2. F. StPO iVm § 39 (1) JGG“. Mit Bescheid der oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer vom selben Tag wurde für diese Strafsache gemäß § 45 RAO die Klägerin „zum Verfahrenshelfer gemäß § 61 Abs 3, 2. Fall StPO im Rahmen der Beigebung“ bestellt.

[2] Die Klägerin begehrte aus dem Titel der Amtshaftung Schadenersatz in Höhe eines Honorars für ihre Vertretungstätigkeit im Strafverfahren. Bei pflichtgemäßer Überprüfung der Vermögensverhältnisse des Angeklagten im Zeitpunkt der Beschlussfassung hätte das Landesgericht Steyr jedenfalls zu dem Ergebnis kommen müssen, dass der Angeklagte seit Juli 2020 knapp 2.000 EUR monatlich ins Verdienen bringe und die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Verfahrenshilfe nicht vorliegen.

[3] Die Beklagte wandte insbesondere ein, dass Organe des Bundes weder rechtswidrig noch schuldhaft gehandelt hätten.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Vertretbarkeit des Organhandelns ab.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu.

[6] Die in § 61 Abs 2 und Abs 3 StPO „implizit“ enthaltene Verpflichtung des Gerichts, die Einkommens- und Vermögenssituation des Angeklagten zu überprüfen, stehe nicht im Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem von der Klägerin geltend gemachten Schaden (Verdienstentgang). Die ordentliche Revision sei zulässig, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des Schutzzwecks der Pflicht des Gerichts zur Überprüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse im Zusammenhang mit einer(Weiter‑)Gewährung von Verfahrenshilfe bestehe.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die dagegen von der Klägerin erhobene – von der Beklagten beantwortete – Revision ist zur Klarstellungzulässig, aber im Ergebnis nicht berechtigt.

[8] 1. Nach ständiger Rechtsprechung ist im Amtshaftungsprozess zu prüfen, ob die Entscheidung bzw das Verhalten auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung beruhte (RS0049955 [T22]). Sind Gesetzesbestimmungen nicht vollkommen eindeutig, enthalten sie Unklarheiten über die Tragweite ihres Wortlauts und steht zudem keine höchstgerichtliche Rechtsprechung als Entscheidungshilfe zur Verfügung, kommt es allein darauf an, ob bei pflichtgemäßer Überlegung aller Umstände die getroffene Entscheidung als vertretbar bezeichnet werden kann (RS0049955 [T13]).

[9] 2. Nach § 61 Abs 3 zweiter Satz StPO hat in den Fällen notwendiger Verteidigung (hier: § 61 Abs 1 Z 4 StPO) die zwingende Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers von Amts wegen zu erfolgen, wenn der Beschuldigte bzw sein gesetzlicher Vertreter trotz Aufforderung weder einen Wahlverteidiger bevollmächtigt noch die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragt hat, jedoch wirtschaftliche Bedürftigkeit im Sinn des § 61 Abs 2 erster Satz StPO zu bejahen ist (Soyer/Schumann in Fuchs/Ratz, WK StPO § 61 Rz 73). Wirtschaftliche Bedürftigkeit liegt nach dieser Bestimmung vor, wenn der Beschuldigte außerstande ist, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie, für deren Unterhalt er zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts die gesamten Kosten der Verteidigung zu tragen.

[10] Die Klägerin wirft dem Strafgericht vor, diese Voraussetzung vor Beschlussfassung nicht (ausreichend) überprüft, sondern die Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren herangezogen zu haben.

[11] 3. Ob und in welcher Form eine Überprüfung der Angaben des Angeklagten zu geschehen hat, lässt das Gesetz allerdings offen. Höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu gibt es nicht. Auch das Berufungsgericht spricht nur von einer in § 61 StPO „implizit“ enthaltenen Verpflichtung, die Einkommens- und Vermögenssituation zu überprüfen, ohne diese Annahme weiter zu begründen. In der Lehre wird dazu Folgendes ausgeführt:

[12] 3.1. Bertel (in Bertel/Venier, Komm StPO § 61 Rz 8) hält dazu fest, dass dann, wenn in Fällen notwendiger Verteidigung aus den Akten ersichtlich ist, dass die Voraussetzungen der Verfahrenshilfe vorliegen, das Gericht gleich beschließe, dem Beschuldigten einen Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben. Wenn die Voraussetzungen für die Verfahrenshilfe nicht vorlägen, beschließe das Gericht, dem Beschuldigten einen Amtsverteidiger beizugeben.

[13] 3.2. Soyer/Schumann (in Fuchs/Ratz, WK StPO § 61 Rz 53 mwN) führen aus, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu bescheinigen seien. Angaben dazu würden meist im Stammdatenblatt der Polizei oder anlässlich der Erstvernehmung festgehalten. Zur Überprüfung bestehe keine gesetzliche Verpflichtung („weitgehendes Ermessen“). Dabei stützen sie sich auch auf zwei Literaturstellen (zur insofern vergleichbaren Vorgängerbestimmung des § 61 Abs 2 StPO): Barazon (ÖJZ 1977, 658) bemerkt, dass nicht [im Gesetz] stehe, auf welche Art und Weise der Strafrichter die Behauptung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit überprüfen solle oder könne oder überhaupt müsse. Murschetz (ÖJZ 2001, 836 [838]) wiederum verweist darauf, dass im Strafverfahren anders als im Zivilverfahren kein Vermögensbekenntnis verlangt werde; die Überprüfung der im Stammdatenblatt des Betroffenen festgehaltenen Angaben sei gesetzlich nicht vorgesehen und bleibe im Ermessen des Richters.

[14] 4. Im vorliegenden Fall hatte der spätere Angeklagte in den beiden Beschuldigtenvernehmungen vor der Polizei im Mai 2020 sein Nettoeinkommen mit 900 EUR [Arbeitslosenunterstützung] angegeben. Diese Angaben lagen auch der Anklageschrift vom [richtig] 4. 1. 2021 zugrunde. Erst mit der [nach Fassung des Beigebungsbeschlusses] am 26. 1. 2021 eingebrachten Äußerung zur Anklageschrift erklärte die Klägerin für den Angeklagten unter Vorlage eines Arbeitsvertrags, dem sich ein Monatslohn von ca 1.800 EUR netto entnehmen ließ, dass dieser seit 2. 7. 2020 beschäftigt sei.

[15] 5. Ausgehend von der dargestellten Rechtslage und den zitierten Literaturmeinungen war die amtswegige Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers durch Beschluss des Strafgerichts vom 5. 1. 2021 auf Basis der damaligen Aktenlage – also der Angaben des späteren Angeklagten im Ermittlungsverfahren – jedenfalls vertretbar, auch ohne dass eine weitere Überprüfung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse stattfand.

[16] Da dem Strafrichter somit keine Verletzung einer im Zusammenhang mit der Bestimmung des § 61 Abs 2 und Abs 3 StPO stehenden Pflicht zum Vorwurf gemacht werden kann, stellt sich die vom Berufungsgericht und von der Revision (ausschließlich) angesprochene Frage nach dem Normzweck einer solchen Pflicht nicht.

[17] 6. Vielmehr erweist sich die Abweisung des Klagebegehrens mangels eines schuldhaften Organhandelns im Ergebnis als berechtigt, sodass der Revision nicht Folge zu geben war.

[18] 7. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 41 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO.

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