OGH 10ObS132/22t

OGH10ObS132/22t22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andreas Deimbacher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Hauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Mag. Christoph Arnold, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 28. September 2022, GZ 23 Rs 30/22 s‑13, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00132.22T.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 29. März 2022 sprach die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass die Erkrankung der Klägerin (Infektionskrankheit COVID‑19) vom März 2020 nicht als Berufskrankheit anerkannt wird und kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung besteht.

[2] Die Vorinstanzen wiesen das auf Feststellung, dass es sich bei der Erkrankung um eine Berufskrankheit gemäß § 177 ASVG (iVm Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG) handle, und auf Leistung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 20 % der Vollrente in gesetzlicher Höhe gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass es – auch unter Bedachtnahme auf den Anscheinsbeweis – schon an einem für die Zurechnung als Berufskrankheit ausreichenden Kausalzusammenhang zwischen der Exposition in einem allenfalls von der Gefährdungslage vergleichbaren Betrieb und einer Exposition mit SARS‑CoV‑2 in diesem Betrieb im krankheitsauslösenden Ausmaß mangle. Darüber hinaus sei die Tätigkeit der Klägerin auch nicht in einem in der Spalte 3 der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Unternehmen ausgeübt worden und es sei auch nach § 177 Abs 2 ASVG keine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall möglich.

Rechtliche Beurteilung

[3] In der außerordentlichen Revision macht die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO geltend.

[4] 1.1. Nach § 177 Abs 1 ASVG gelten die in der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen nur dann als Berufskrankheiten, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht sind. Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist daher, dass die Erkrankung des Versicherten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist (RIS‑Justiz RS0084375 [T1]). Die objektive Beweislast dafür trifft den Versicherten (RS0043249).

[5] 1.2. Um Härten eines unzumutbaren Beweisnotstands für den Versicherten zu vermeiden, sind nach ständiger Rechtsprechung besonders im Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des sogenannten Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden (RS0110571). Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher und nicht ein atypischer Ablauf gegeben ist (RS0040266).

[6] 1.3. Der Oberste Gerichtshof darf im Rahmen der rechtlichen Beurteilung nur zu prüfen, ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist. Ob er erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Revisionsgericht nicht mehr überprüfbare Beweisfrage (RS0086050 [T2, T11]; RS0022624). Die Entkräftung des Anscheinsbeweises geschieht durch den Beweis, dass der typisch formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern dass die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs besteht. In Sozialrechtssachen ist der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet, wenn dem atypischen Geschehensablauf zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt (10 ObS 88/17i; RS0040266 [T9]).

[7] 1.4. Das Berufungsgericht ging ohnedies von einem Fall der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises aus, wogegen sich die Klägerin in der Revision nicht wendet. Die Klägerin behauptet auch nicht, dass das Berufungsgericht die dargestellten Grundsätze sonst missachtet hätte. Sie wendet sich vielmehr gegen das Ergebnis der Anwendung dieser Grundsätze, wenn sie meint, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass die Erkrankung ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen wäre. Dies ist allerdings eine vom Obersten Gerichtshof nach den dargestellten Grundsätzen nicht mehr überprüfbare Beweiswürdigungsfrage.

[8] 1.5. Andere Gründe, die das vom Berufungsgericht auf Tatsachenebene erzielte Ergebnis in Zweifel ziehen könnten, macht die Klägerin in der Revision nicht geltend. Der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, ist somit an die Verneinung eines Kausalzusammenhangs durch das Berufungsgericht gebunden.

[9] 2. Ausgehend davon ist die Frage, ob das Unternehmen, in dem die Klägerin ihre Tätigkeit ausübte, einem in der Spalte 3 der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten entsprach, nicht entscheidend, sodass darauf nicht einzugehen ist. Mit der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass auch eine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall iSd § 177 Abs 2 ASVG ausgeschlossen sei, weil es bei Viruserkrankungen wie der Corona‑Infektion an dem in § 177 Abs 2 ASVG angeführten Erfordernis fehle, dass die Infektion „durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen“ eingetreten sei, setzt sich die Klägerin in der Revision nicht nachvollziehbar auseinander (RS0043603 [T9]; RS0043312 [T13]).

[10] 3. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision somit zurückzuweisen.

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