European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090OB00075.22B.1020.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs der beklagten Partei wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPOzurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Beklagte ist eine Gesellschaft nach dem Recht von Gibraltar mit Sitz in Gibraltar, die über das Internet Dienstleistungen im Bereich des Internet‑Glücksspiels anbietet.
[2] Der im Sprengel des angerufenen Landesgerichts Linz wohnhafte Kläger begehrt mit seiner Klage die Rückzahlung seiner Spielverluste in Höhe des Klagsbetrags aus dem Titel der Bereicherung. Der mit der Beklagten abgeschlossene Glücksspielvertrag sei nichtig, weil die Beklagte über keine österreichische Konzession nach dem Glücksspielgesetz verfüge. Als Verbraucher könne er gemäß Art 18 EuGVVO 2012 unabhängig vom Sitz der Beklagten an seinem Wohnsitzgericht klagen, weshalb das angerufene Gericht zuständig sei. Seine bereicherungsrechtlichen Rückforderungsansprüche nach § 877 ABGB stünden in einem inneren Zusammenhang mit dem (nichtigen) Glücksspielvertrag. Der Vertragsbegriff des Art 17 EuGVVO 2012 umfasse auch Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung als Folge eines nichtigen oder unwirksamen Vertragsverhältnisses. In eventu berufe sich der Kläger auch auf den Deliktsgerichtsstand gemäß Art 7 Nr 2 EuGVVO 2012, weil der Schaden (die Glücksspielverluste) in Österreich eingetreten sei.
[3] Das Erstgericht wies die Klage über Antrag der Beklagten wegen internationaler Unzuständigkeit des Landesgerichts Linz zurück.
[4] Mit dem angefochtenen Beschluss änderte das Rekursgericht diese Entscheidung dahin ab, dass es die von der Beklagten erhobene Einrede der fehlenden inländischen Gerichtsbarkeit verwarf.
[5] Dazu führte es zusammengefasst aus, dass das Vereinigte Königreich mit Ablauf des 31. 12. 2020 die Europäische Union verlassen habe. Seit 1. 1. 2021 sei das Vereinigte Königreich und damit auch Gibraltar als Drittstaat zu behandeln. Nach Art 17 Abs 1 lit c EuGVVO 2012 liege eine Verbrauchersache, die den Klägergerichtsstand nach Art 18 Abs 1 EuGVVO 2012 eröffne, vor, wenn – soweit hier strittig – ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag eines Verbrauchers den Gegenstand des Verfahrens bildeten.
[6] Ob ein „Verbrauchervertrag" vorliege, sei gemeinschaftsrechtlich autonom auszulegen, wobei in erster Linie die Systematik und Zielsetzung der Verordnung zu berücksichtigen seien. Die im 4. Abschnitt der EuGVVO 2012 enthaltenen Sonderregeln dienten dem Verbraucherschutz. Der Verbraucher solle als die typischerweise schwächere und rechtlich wenig erfahrene Partei kompetenzrechtlich privilegiert werden und die Möglichkeit erhalten, vor dem Heimatforum zu klagen, sofern der Sachverhalt einen hinreichenden Auslandsbezug aufweise.
[7] Nach Rechtsprechung und Lehre umfasse der 4. Abschnitt, Kapitel 2 der EuGVVO 2012 Streitigkeiten über das Zustandekommen eines Vertrags sowie vertragliche (Rückabwicklungs‑)Ansprüche, wobei der äußere Tatbestand eines Vertragsschlusses mit einem Verbraucher gegeben sein müsse. Ob der Vertrag nach der (von dem im Gerichtsstaat geltenden internationalen Privatrecht bestimmten) lex causae wirksam sei, sei unerheblich. Die Art 17 ff EuGVVO 2012 kämen daher auch dann zur Anwendung, wenn die Wirksamkeit des Verbrauchervertrags an einem (nach der maßgeblichen Rechtsordnung relevanten) Willensmangel oder an einem Verbotsgesetz scheitere. Ausgehend davon komme der Verbrauchergerichtsstand auch bei bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsansprüchen des Verbrauchers aus einem verbotenen und damit im Sinn des § 879 Abs 1 ABGB nichtigen Glücksspielvertrags zur Anwendung. Da sich die Rechtsfolgen des nichtigen Glücksspielvertrags ebenfalls nach dem Verbraucherstatut und damit nach österreichischem Recht richteten, wäre auch die Kohärenz von anwendbarem Recht und Gerichtsstand gegeben.
[8] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu, weil die Entscheidung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängig sei.
[9] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Beklagten mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss wegen Nichtigkeit aufzuheben und das Rekursverfahren für nichtig zu erklären, sowie einem auf Verwerfung der Einrede der fehlenden inländischen Gerichtsbarkeit gerichteten Abänderungsantrag.
Rechtliche Beurteilung
[10] Der Revisionsrekurs ist nicht zulässig. Er zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 528 Abs 1 ZPO auf.
[11] 1. Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund des § 477 Abs 1 Z 3 ZPO liegt dann vor, wenn das Urteil von einem Gericht gefällt wurde, obwohl der Umstand nicht geheilt ist, dass die inländische Gerichtsbarkeit fehlt oder das Gericht auch nicht durch ausdrückliche Vereinbarung der Parteien für die betreffende Rechtssache sachlich oder örtlich zuständig gemacht werden konnte (§ 104 Abs 3 bis 5 JN). Dies ist hier nicht der Fall.
[12] 2. Das Fehlen von Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer Frage des Unionsrechts begründet für sich allein noch keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung. Bei unbestimmten Gesetzesbegriffen reicht es aus, wenn sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Leitlinien zu deren Auslegung ergeben. Die Anwendung dieser Leitlinien auf den Einzelfall kann in weiterer Folge – wie auch in rein nationalen Fällen, in denen die Leitfunktion dem Obersten Gerichtshof zukommt – nur dann eine erhebliche Rechtsfrage begründen, wenn das Gericht zweiter Instanz seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat, also eine gravierende Fehlbeurteilung vorliegt (RS0117100 [inbes T12]).
3. Solche Leitlinien sind im vorliegenden Fall der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entnehmen:
[13] 3.1. Der Begriff Vertrag setzt nicht die Geltendmachung eines vertraglichen Anspruchs im engeren Sinn voraus, vielmehr liegen bei autonomer Auslegung vertragliche Ansprüche ua dann vor, wenn eine Partei gegenüber der anderen freiwillig eine Verpflichtung eingegangen ist (EuGH C‑27/02 , Engler, Rn 51). Der EuGH hat auch bereits ausgesprochen, dass im Verbrauchergerichtsstand Ansprüche geltend gemacht werden können, welche untrennbar mit einem Verbrauchervertrag verbunden sind (EuGH C‑96/00 , Gabriel, Rn 56–58; EuGH C‑500/18 , AU/Reliantco Investments LTD, Rn 64, 73).
[14] 3.2. Von den Regelungen der Art 17 ff EuGVVO 2012 sind daher auch Streitigkeiten über das Zustandekommen eines Vertrags sowie vertragliche (Rückabwicklungs‑)Ansprüche erfasst (vgl etwa Simotta in Fasching/Konecny 2 Art 15 EuGVVO Rz 9; Klauser in Fucik/Klauser/Kloiber, ZPO12 Art 17 EuGVVO 2012; RS0108679). Untrennbar mit einem Verbrauchervertrag sind aber auch die vom Verbraucher der Rückabwicklung eines unwirksamen (nichtigen) Vertrags dienenden bereicherungsrechtlichen Ansprüche verbunden. Sie unterfallen daher ebenfalls den Art 17ff EuGVVO 2012 (vgl Nemeth in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/Schmaranzer IZVR, Art 15 EuGVVO Rz 23; Paulus in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen Art 17 EuGVVO Rz 35; Gottwald in MüKoZPO4 Art 17 EuGVVO Rz 5 mwN; vgl Simotta in Fasching/Konecny 2 Art 5 EuGVVO Rz 50 mwN). Damit ist auch die vom EuGH in der Entscheidung C‑500/18 , AU/Reliantco Investments LTD, Rn 72, betonte notwendige Kohärenz von anwendbarem Recht (vgl 3 Ob 44/22z Rz 15) und Gerichtsstand gegeben.
[15] 4. Eine Unterbrechung des Revisionsrekursverfahrens bis zur Entscheidung des Vorabentscheidungsersuchens des OLG Stuttgart C‑190/21 ist wegen nicht vergleichbarer Sachlage nicht geboten.
[16] Mangels Darstellung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 528 Abs 1 ZPO war der außerordentliche Revisionsrekurs der Beklagten zurückzuweisen.
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