OGH 10Ob27/22a

OGH10Ob27/22a13.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Kindes A*, geboren * 2005, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirk 22, 1220 Wien, Simone‑de‑Beauvoir‑Platz 6), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. März 2022, GZ 43 R 84/22d‑42, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 17. Jänner 2022, GZ 1 Pu 166/18g‑36, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00027.22A.0913.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Das Erstgericht verpflichtete den Vater mit Beschluss vom 17. 10. 2018 (ON 8), ab 1. 4. 2018 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 360 EUR an das Kind zu leisten.

[2] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 21. 6. 2021 (ON 25) wurden dem Kind Unterhaltsvorschüsse in Höhe von 300 EUR von 1. 4. 2021 bis 30. 9. 2021 gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG gewährt.

[3] Am 11. 10. 2021 beantragte das Kind die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von monatlich 300 EUR unter Berufung auf bereits beantragte exekutive Maßnahmen nach § 295 EO (ON 27).

[4] Nach längeren Erhebungen über den Aufenthaltsort des Vaters bewilligte das Erstgericht mit Beschluss vom 17. 1. 2022 (ON 36) Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von 300 EUR monatlich für den Zeitraum von 1. 1. 2022 bis 31. 5. 2023. In diesem Umfang erwuchs sein Beschluss unangefochten in Rechtskraft. Den Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen für den Zeitraum von 1. 10. 2021 bis 31. 12. 2021 wies das Erstgericht hingegen ab. Das Kind habe den Exekutionsantrag gegen den Unterhaltsschuldner bei einem unzuständigen Bezirksgericht eingebracht.

[5] Der Exekutionsantrag langte – nach zweimaliger Überweisung gemäß § 44 Abs 1 JN – erst im Jänner 2022 beim zuständigen Bezirksgericht ein. Dieses bewilligte die Exekution mit Beschluss vom 13. 1. 2022.

[6] Der Exekutionsantrag gelte erst mit Einlangen beim – ex ante betrachtet – zuständigen Exekutionsgericht als im Sinn des § 3 Z 2 UVG eingebracht. Sei der Grund dafür, dass der Exekutionsantrag beim unzuständigen Gericht eingebracht wurde, dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe zuzurechnen, sei der Vorschussantrag abzuweisen, sodass Vorschüsse erst ab 1. 1. 2022 bewilligt werden konnten.

[7] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes, der sich nur gegen die Abweisung des Antrags auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen auch für den Zeitraum von 1. 10. 2021 bis 31. 12. 2021 richtete, nicht Folge. Das Rekursgericht billigte die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts und führte ergänzend aus, dass der Antrag des Kindes im Sinn einer raschen Sicherung seines Unterhalts hier auch als Antrag auf Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG verstanden werden könne. Diesfalls schadete dem Kind die Einbringung des Exekutionsantrags beim unzuständigen Gericht nicht. Allerdings könnten solche Vorschüsse nur für längstens ein halbes Jahr gewährt werden, was hier im Hinblick auf die bereits rechtskräftige Bevorschussung ab 1. 1. 2022 nicht mehr möglich sei. Der Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob eine Vorschussgewährung gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG in einer Situation wie der vorliegenden möglich sei.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der von keiner der anderen Parteien beantwortete Revisionsrekurs des Kindes.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

[10] Das Kind bezieht sich im Revisionsrekurs erstmals auf die Möglichkeit der Gewährung von COVID‑19‑Vorschüssen (oder Titelvorschüssen ohne Bescheinigung der Exekutionsführung in den ersten sechs Monaten) und macht zusammengefasst geltend, dass es im Hinblick auf die rasche Sicherung seines Unterhalts „stimmig“ sei, die Bevorschussung gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG für den Zeitraum vor Einlangen des Exekutionsantrags beim zuständigen Gericht auch dann zu bewilligen, wenn dem nicht auf diese Bestimmung gestützten Antrag auf Zuerkennung von Unterhaltsvorschüssen über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten bereits rechtskräftig stattgegeben wurde. Erkennbar macht das Kind damit geltend, dass vor diesem Hintergrund auch für gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG beantragte Vorschüsse das Exekutionserfordernis für sechs Monate relativiert sei.

Diesem Standpunkt steht Folgendes entgegen:

[11] 1. Gemäß § 3 UVG sind Unterhaltsvorschüsse zu gewähren, wenn ein im Inland vollstreckbarer Exekutionstitel besteht (Z 1), der Unterhaltsschuldner den laufenden Unterhaltsbeitrag nicht zur Gänze leistet und das Kind glaubhaft macht, einen Exekutionsantrag nach § 294a EO (nun: § 295 EO) oder, sofern der Unterhaltsschuldner offenbar keine Gehaltsforderungen oder keine andere in fortlaufenden Bezügen bestehende Forderung hat, einen Exekutionsantrag auf bewegliche körperliche Sachen eingebracht zu haben (Z 2). Dass diese Voraussetzungen für den hier noch strittigen Zeitraum von 1. 10. 2021 bis 31. 12. 2021 nicht gegeben sind, wird im Revisionsrekurs nicht mehr bezweifelt.

[12] 2.1 Gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG, BGBl I 2020/16, sind Titelvorschüsse nach § 3 UVG auch dann zu gewähren, wenn das Kind keinen entsprechenden Exekutionsantrag bei Gericht eingebracht hat. Abweichend von § 8 UVG sind solche Vorschüsse längstens für ein halbes Jahr zu gewähren. Der hier zu behandelnde Antrag fällt in den zeitlichen Anwendungsbereich des § 7 1. COVID‑19‑JuBG (Art 3 Z 2 BGBl I 2021/106). In 10 Ob 43/20a hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass diese Bestimmung auch dann anwendbar ist, wenn der Unterhaltsschuldner nicht mehr erwerbstätig ist, sondern – im damaligen Fall – eine Erwerbsunfähigkeitspension bezog.

[13] 2.2 In weiterer Folge hat der Oberste Gerichtshof präzisiert, dass COVID‑19‑Vorschüsse zwar grundsätzlich vergleichbar mit Titelvorschüssen nach § 4 Z 1 UVG sind, bei denen eine Exekutionsführung wegen Aussichtslosigkeit unterbleiben kann. Damit handelt es sich um eine Variante von Titelvorschüssen. Das Kind soll vorübergehend nicht zur Exekutionsführung gezwungen werden. Eine völlige Gleichstellung mit Titelvorschüssen nach §§ 3, 4 Z 1 UVG hat der Gesetzgeber allerdings durch den wesentlich kürzeren Gewährungszeitraum von nur sechs Monaten (anstelle von fünf Jahren) effektiv ausgeschlossen. Er wollte eine befristete Maßnahme für die Dauer der „Coronakrise“ und kein Dauerrecht schaffen (10 Ob 5/21i, 10 Ob 8/21f, 10 Ob 9/21b).

[14] 2.3 Eine Weitergewährung von COVID‑19-Vorschüssen auf fünf Jahre im Sinn des § 18 UVG kommt daher nicht in Betracht. Zulässig ist allenfalls eine Neugewährung solcher Vorschüsse. Allerdings ist – um Umgehungen zu vermeiden – die neuerliche Antragstellung vor Ablauf der Periode, für die solche Vorschüsse gewährt wurden nicht zulässig. Ein Neuantrag kann erst in dem Monat gestellt werden, dessen Monatserster den Leistungsbeginn nach § 8 Abs 1 UVG markiert (10 Ob 16/21g; RS0133602 [T1; T2]).

[15] 3.1 Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus: Die dem Kind gewährten COVID‑19-Vorschüsse wurden bis 30. 9. 2021 bewilligt. Nach Ablauf dieser Periode, am 11. 10. 2021, beantragte das Kind die Zuerkennung von Titelvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG. Zu diesem Zeitpunkt hätte das Kind zwar auch einen neuen Antrag auf Gewährung von COVID‑19-Vorschüssen stellen können. Es hat allerdings keinen solchen Antrag gestellt, sondern sich ausdrücklich auf die Exekutionsführung bezogen.

[16] 3.2 Unterhaltsvorschüsse sind gemäß § 11 Abs 1 UVG nur auf Antrag zu gewähren. Im Hinblick auf die Dispositionsfreiheit des Antragstellers ist das Gericht weder berechtigt, höhere als die begehrten Vorschüsse zuzusprechen, noch einen anderen Vorschussgrund als beantragt für den Zuspruch heranzuziehen. Denn die Anspruchsgrundlage ist im Antrag zu individualisieren, es gibt keinen Unterhaltsvorschuss „an sich“ (1 Ob 643, 644/94; RS0076537).

[17] 3.3 Diese Grundsätze haben auch im vorliegenden Fall Anwendung zu finden: Der Antrag des Kindes auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen wurde auf den Vorschussgrund der §§ 3, 4 Z 1 UVG gestützt und nicht auf § 7 1. COVID‑19‑JuBG. Eine Umdeutung des Antrags ist nicht möglich, weil Vorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1 UVG und nach § 7 1. COVID‑19‑JuBG durch verschiedene Anspruchsvoraussetzungen charakterisiert sind (vgl 1 Ob 643, 644/94).

[18] Der Umstand, dass Titelvorschüsse hier erst ab 1. 1. 2022 bewilligt werden konnten, ist, worauf das Rekursgericht hingewiesen hat, dem Vertreter des Kindes im Zusammenhang mit der Exekutionsführung zuzurechnen.

[19] Das Gesetz steht der Geltendmachung mehrerer Vorschussgründe in einem Antrag nicht entgegen, sodass es möglich wäre, in einem Antrag etwa Vorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG und eventualiter Vorschüsse gemäß § 7 1. COVID‑19‑JuBG zu beantragen (Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 11 UVG Rz 2). Darauf muss hier jedoch nicht weiter eingegangen werden, weil das Kind seinen Antrag nicht auf mehrere Vorschussgründe gestützt hat.

[20] 3.4 Die Einführung der COVID‑19-Vorschüsse bildet keinen Grund, die Voraussetzungen für Titelvorschüsse nach §§ 3, 4 Z 1 UVG in Bezug auf das Erfordernis der Exekutionsführung zu relativieren. Der Gesetzgeber hat bei „normalen“ Titelvorschüssen keine Änderung der Voraussetzungen vorgenommen.

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