OGH 6Nc15/22s

OGH6Nc15/22s7.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S*, geboren am * 2005, *, wegen Genehmigung der Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 Abs 2 JN den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0060NC00015.22S.0607.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Mürzzuschlag vom 22. März 2022, GZ 1 Pu 91/14x‑94, verfügte Übertragung der Zuständigkeit für diese Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Mödling wird nicht genehmigt.

 

Begründung:

[1] S*, geboren am * 2005, G*, geboren am * 2006, und N*, geboren am * 2009, sind die (jüngeren) Kinder von M* und dem am 29. 3. 2022 verstorbenen G*. Die Obsorge über die drei Geschwister (sowie ihre bereits volljährige Schwester M*) wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Mürzzuschlag vom 16. 2. 2015 dem Land Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Bruck‑Mürzzuschlag) übertragen. Die Kinder waren seit Februar 2015 fremduntergebracht.

[2] S* lebt seit 24. 3. 2021 im SOS‑Kinderdorf in * (Sprengel des Bezirksgerichts Mödling); ihre Geschwister G* und N* leben seit 28. 12. 2021 im SOS‑Kinderdorf in * (Sprengel des Bezirksgerichts Graz‑West), wo auch der Hauptwohnsitz der Mutter gemeldet ist.

[3] Die Mutter beantragte mit Schreiben vom 7. 3. 2022 die Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung eines Kostenrückersatzes für S*.

[4] Mit Beschluss vom 22. 3. 2022 übertrug das Bezirksgericht Mürzzuschlag von Amts wegen gemäß § 111 JN die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache betreffend S* an das Bezirksgericht Mödling.

[5] Das Bezirksgericht Mödling lehnte die Übernahme mit Beschluss vom 12. 4. 2022 ab. Es sei sinnvoll, die Pflegschaft hinsichtlich aller drei minderjährigen Kinder in einem Akt zu führen. Dafür spreche auch, dass sich die Mutter in * aufhalte (Sprengel des Bezirksgerichts Graz‑West) und die Bezirkshauptmannschaft Bruck‑Mürzzuschlag weiterhin die Vertreterin aller drei minderjährigen Kinder sei. Es befinde sich nur der Aufenthalt von S* im Sprengel des Bezirksgerichts Mödling. Die Teilung des Akts und Übertragung der Pflegschaft hinsichtlich S* seien daher nicht zweckmäßig.

[6] Beide Beschlüsse wurden den Parteien zugestellt und erwuchsen in Rechtskraft.

[7] Das Bezirksgericht Mürzzuschlag legte den Akt gemäß § 111 Abs 2 JN dem Obersten Gerichtshof vor.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch der dem Pflegebefohlenen zugedachte Schutz voraussichtlich besser verwirklicht werden kann. Diese Voraussetzung liegt in der Regel vor, wenn die Pflegschaftssache jenem Gericht übertragen wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes liegt (vgl nur 7 Nc 2/20h; 6 Ob 1/21f; Fucik in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³ § 111 JN Rz 3; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 § 111 JN Rz 2; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG³ § 111 JN Rz 11). Maßgebend ist immer das Kindeswohl (RS0047074). Es kommt außerdem darauf an, ob durch die Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte an das Gericht, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält, die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich befördert wird (RS0049144 [T2]).

[9] Eine Teilübertragung der Zuständigkeit bei Pflegschaftsverfahren mehrerer Kinder, die aus der selben Ehe oder Lebensgemeinschaft entstammen, wird in der Regel – schon aus praktischen Überlegungen – nicht als zweckmäßig angesehen (RS0129854), weil Informationen aus der einen Pflegschaftssache für die Erledigung der anderen Pflegschaftssache möglicherweise nützlich sein werden (10 Nc 8/16g). Gegen die Zweckmäßigkeit der Übertragung kann darüber hinaus sprechen, dass sich das Pflegschaftsverfahren in der Endphase befindet (Fucik in Fasching/Konecny, Zivilprozessgesetze³, § 111 JN Rz 7; LGZ Wien EFSlg 69.773 [Erreichen der Volljährigkeit]).

[10] Im vorliegenden Fall sind keine Gründe ersichtlich, die eine Teilübertragung der Zuständigkeit für eines (S*) von drei noch minderjährigen Geschwistern zweckmäßig erscheinen lassen, weil das Bezirksgericht Mürzzuschlag bereits seit dem Jahr 2014 mit der Führung der Pflegschaft hinsichtlich aller Geschwister befasst ist, S* in weniger als eineinhalb Jahren die Volljährigkeit erreichen wird und nach wie vor die Bezirkshauptmannschaft Bruck‑Mürzzuschlag mit der Ausübung der Obsorge des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers hinsichtlich aller drei noch minderjährigen Geschwister betraut ist. Auch hinsichtlich des offenen Antrags der Mutter, der sich auf die Tragung der Kosten der Fremdunterbringung des Kindes bezieht, ist eine Beförderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes durch die Zuständigkeitsübertragung nicht erkennbar.

[11] Die Voraussetzungen für die Übertragung der Zuständigkeit hinsichtlich S* an das Bezirksgericht Mödling gemäß § 111 Abs 2 JN liegen daher nicht vor.

[12] 2. Da der Akt dem Obersten Gerichtshof von einer Diplomrechtspflegerin des Bezirksgerichts Mürzzuschlag zur Entscheidung nach § 111 Abs 2 JN vorgelegt wurde, ist der Vollständigkeit halber (neuerlich) darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs gemäß § 16 Abs 2 Z 1 RPflG „Berichte an vorgesetzte Behörden“ auch im Wirkungskreis des Rechtspflegers dem Richter vorbehalten sind und dass darunter nicht nur Vorlageberichte iSv § 179 Geo, sondern auch Ersuchen um Entscheidung eines Kompetenzkonflikts nach § 47 JN (RS0125601; zuletzt 2 Ob 128/21v) und die Vorlage von Akten zur Einholung einer Entscheidung nach § 111 Abs 2 Satz 2 JN (6 Ob 37/16h; Gitschthaler, EF‑Z 2016, 109 [Entscheidungsanmerkung]) fallen. Tatsächlich ergingen die genannten Entscheidungen sämtlich in Fällen, in denen Gerichte durch den jeweils zuständigen Rechtspfleger Akten vorgelegt hatten, in denen Kompetenzkonflikte nach § 47 bzw § 111 JN zu lösen waren. Gerade für solche Fälle kann die Vorlage des Akts durch den Richter anstelle des zuständigen Diplomrechtspflegers zur Vermeidung unnötigen Verfahrensaufwands dienen, etwa weil die Anrufung des gemeinsam übergeordneten Gerichtshofs in einem negativen Kompetenzkonflikt grundsätzlich voraussetzt, dass (rechtskräftige) konkurrierende Beschlüsse vorliegen (vgl insb 2 Nc 23/15b EF‑Z 2016/53 [Gitschthaler]; 6 Ob 37/16h); der Richtervorbehalt dient außerdem dazu, die Rechtsauffassung des Diplomrechtspflegers noch vor der Vorlage an höhere Gerichte einer ersten Prüfung zu unterziehen (4 Nc 24/09f) und dadurch unnötige Verfahrensschritte zu vermeiden (2 Ob 128/21v). Da allerdings hier zum einen die konkurrierenden Beschlüsse bereits in Rechtskraft erwachsen und damit die formellen Voraussetzungen einer Vorlage an den Obersten Gerichtshof gegeben waren und zum anderen ein Kompetenzkonflikt vor dem Hintergrund der zu § 111 JN ergangenen Rechtsprechung zu beurteilen war, hätte eine nunmehrige Rückstellung des Akts an das Erstgericht lediglich zur Unterfertigung des Vorlageberichts durch den Richter einen „leeren Formalismus“ dargestellt (vgl 6 Ob 37/16h; 6 Ob 107/16b).

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