OGH 10ObS37/22x

OGH10ObS37/22x29.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Arno Sauberer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Charlotte Böhm, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Februar 2022, GZ 10 Rs 102/21 z‑41, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00037.22X.0329.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

 

Begründung:

[1] Das Berufungsgericht sprach dem 1963 geborenen Kläger die Invaliditätspension für 24 Monate (1. 4. 2020 bis 31. 3. 2022) zu und wies das Begehren auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab 1. 4. 2022 ab.

[2] Durch das Einsetzen und Verwenden eines Cochlea‑Implantats würde sich der Gesundheitszustand des Klägers kalkülsrelevant verbessern.

[3] Im Revisionsverfahren ist die Frage zu beantworten, ob dem Kläger diese Operation zumutbar ist. Die Vorinstanzen bejahten die Zumutbarkeit.

Rechtliche Beurteilung

[4] Die außerordentliche Revision des Klägers zeigt keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) auf.

[5] 1. Auf den Pensionsanspruch des Klägers, der das 50. Lebensjahr vor dem 1. 1. 2014 vollendete, ist § 256 ASVG idF vor dem SRÄG 2012 (weiter) anzuwenden. Der Kläger wendet sich nicht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Besserungsfähigkeit des Gesundheitszustands der Gewährung einer unbefristeten Pension entgegensteht. Er steht auf dem Standpunkt, das Einsetzen und Verwenden eines Cochlea‑Implantats sei ihm vor allem im Hinblick auf sein Alter nicht zumutbar.

[6] 2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer unbefristeten Invaliditätspension nach § 256 ASVG in der hier anzuwendenden Fassung liegen nicht vor, wenn – auch nur geringe – Chancen auf die Besserung des Leidenszustands bestehen (RS0115354 [T6]). Ist eine Operation zur Besserung des Gesundheitszustands zwar möglich, dem Versicherten aber nicht zumutbar, ist das Leistungskalkül als nicht besserungsfähig anzusehen und von einer dauernden Invalidität iSd § 256 Abs 2 ASVG auszugehen (RS0115354 [T9]). Die Unzumutbarkeit der gegenständlichen Operation ist daher Voraussetzung für die vom Kläger begehrte unbefristete Pensionsleistung. Der in § 256 Abs 3 ASVG vorgesehene Ausschluss der Klagsmöglichkeit gegen den Ausspruch einer befristeten Gewährung der Leistung in einem Bescheid hindert die Überprüfung der Frage der Befristung im (gerichtlichen) Rechtsmittelverfahren nicht (RS0103990).

[7] 2.1. Ob sich der Versicherte einer der Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit dienenden Operation unterziehen muss, ist allerdings nach den Umständen des Einzelfalls – nicht generell, sondern immer individuell für den Betroffenen (RS0084353 [T12]) – zu beurteilen (RS0084353). Dabei ist zum einen auf objektive (auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten, die Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- oder Folgebehandlungen und die damit verbundenen Schmerzen bzw Beeinträchtigungen; RS0084353) und zum anderen auf subjektive (wie körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse; RS0084353 [T16]) Zumutbarkeitskriterien abzustellen. Als wichtiger Grund, der die Behandlung unzumutbar macht, kommen auch die Willensbildung bestimmende Umstände in Betracht, die die Weigerung entschuldigen und sie als berechtigt erscheinen lassen (10 ObS 21/21t; 10 ObS 4/16k DRdA 2017/11, 109 [Födermayr] = SSV‑NF 30/33). Je gravierender der durch die in Frage stehende Heilbehandlung oder Operation bedingte Eingriff ist, umso mehr wird dabei das Recht des Versicherten auf körperliche Integrität in den Vordergrund treten und letztlich die Obliegenheit zur Duldung von Eingriffen beschränken (RS0008992). Im Sinn dieser Rechtsprechung wurden vom Obersten Gerichtshofs im Einzelfall etwa bereits antidepressive (RS0084876 [T1]), psychotherapeutische (RS0084876 [T2]) oder (auch stationäre) psychiatrische Behandlungen (10 ObS 213/00x SSV‑NF 14/100), Bandscheibenoperationen (RS0084876 [T3]), Sprunggelenksversteifungen (RS0084353 [T1]), Schieloperationen (RS0084353 [T2]) oder (auch neuerliche) Gefäßoperationen (RS0084876 [T4]) als zumutbar erachtet.

[8] 2.2. Die Beurteilung der Vorinstanzen steht mit diesen in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätzen im Einklang. Nach dem von den Vorinstanzen festgestellten Sachverhalt stellt das Einsetzen von Cochlea‑Implantaten eine Routineoperation dar, an die ein stationärer Aufenthalt von bis zu einer Woche und – nach Aktivierung des Sprachprozessors vier Wochen später – eine Rehabilitationszeit von sechs Monaten bis ein Jahr anschließen. Soweit der Kläger in der außerordentlichen Revision besondere Risiken und einen ungewissen Ausgang der Behandlung behauptet, geht er nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, wonach ein über das allgemeine Operationsrisiko hinausgehendes Risiko nicht besteht und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs 70 % beträgt. Dass mit dieser Behandlung auch in bisher unversehrte Bereiche eingegriffen wird, ist für Operationen nicht untypisch. Warum die Besonderheit des Einsatzes eines Implantats – wie der Kläger vertritt – eine andere Beurteilung rechtfertigen soll, ist nicht ersichtlich. Es mag sein, dass der Eingriff – über die anschließende Schulung hinaus – mit der Implantation des Geräts hinter dem Ohr und der Wartung des Geräts verbunden ist. Welche Beeinträchtigungen damit einher gingen, die den Kläger so belasten, dass die geschilderte Abwägung zu seinen Gunsten ausschlagen müsste, legt er nicht offen. Längerfristige Behandlungen stehen der Zumutbarkeit ebenso wenig grundsätzlich entgegen wie das (höhere) Alter des Versicherten.

[9] Die außerordentliche Revision zeigt somit eine Überschreitung des dem Berufungsgericht bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Operation zukommenden Ermessensspielraum nicht auf.

[10] 2.3. Soweit der Kläger darüber hinaus die Erfolgsaussichten der Behandlung aufgrund seiner mangelnden Bereitschaft zur Mitwirkung in Abrede stellt, weil deswegen der „Misserfolg vorprogrammiert“ sei, ist dies keine Frage der Zumutbarkeit der Behandlung, sondern eine solche der Verletzung der Mitwirkungspflicht, die sich in diesem Stadium aber noch nicht stellt. Die Verweigerung einer möglichen und zumutbaren medizinischen oder beruflichen Rehabilitation, die dem Versicherten wieder eine Berufsausübung ermöglichen und damit zu einem Wegfall des Risikos der geminderten Arbeitsfähigkeit führen würde, hat den Anspruchsverlust zur Folge, weil es der Versicherte eben nicht in der Hand haben soll, durch Verweigerung einer zumutbaren Therapie (oder einer Untersuchung seines Gesundheitszustands zur Feststellung des Therapieerfolgs) den (Weiter-)Bezug der Pension zu erreichen (RS0113671). Umso weniger kann die frühzeitige oder vorsorgliche Einnahme einer die (zumutbare) Behandlung grundsätzlich ablehnenden Haltung durch den Kläger zum Entfall seiner Mitwirkungspflicht führen.

[11] 3. Die Revision ist daher mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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