European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090OB00012.22P.0324.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
1. Das Verfahren wird fortgesetzt.
2. Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
[1] Der Kläger begehrt die Scheidung der am 9. 11. 2011 mit der Beklagten in Dublin, Irland, geschlossenen Ehe. Zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bringt er vor, er sei italienischer Staatsbürger, die Beklagte sei deutsche Staatsbürgerin. Der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt habe sich in Irland befunden. Er sei im Mai 2018 aus der Ehewohnung in Irland ausgezogen und lebe seit August 2019 und damit zum Zeitpunkt der Einbringung der Klage (28. 2. 2020) seit über sechs Monaten in Österreich.
[2] Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ergebe sich aus Art 3 lit a Spiegelstrich 5 und 6 der VO (EG) Nr 2201/2003 des Rates vom 27. 11. 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr 1347/2000 (Brüssel IIa-VO). Diese Bestimmungen sähen vor, dass für Staatsangehörige des Forumsstaates bereits bei sechsmonatigem Aufenthalt im Forumsstaat eine Zuständigkeit für Scheidungsverfahren begründet werde, während für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten ein mindestens einjähriger Aufenthalt gefordert werde. Das stelle eine Ungleichbehandlung allein aufgrund der Staatsangehörigkeit dar und verstoße daher gegen Art 18 AEUV. Bei unionsrechtskonformer Auslegung sei die im Zweifel günstigere Norm heranzuziehen, weshalb sich der Kläger auch als Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats als des Forumsstaats schon bei nur sechsmonatigem Aufenthalt auf den Gerichtsstand seines gewöhnlichen Aufenthalts in Österreich berufen könne.
[3] Das Erstgericht wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit a limine zurück. Durch die Differenzierung nach der Staatsbürgerschaft in Art 3 lit a Spiegelstrich 5 und 6 der Brüssel IIa-VO solle verhindert werden, dass sich eine Partei die Zuständigkeit der Gerichte eines bestimmten Staats erschleiche. Da es für die Zuständigkeit auf die Dauer des Aufenthalts bei Antragstellung ankomme, genüge es auch nicht, dass die Wartefrist während der Anhängigkeit des Verfahrens ablaufe.
[4] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Klägers gegen diesen Beschluss nicht Folge und schloss sich der Rechtsauffassung des Erstgerichts an, dass hier keine Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft vorliege.
[5] Der ordentliche Revisionsrekurs wurde vom Rekursgericht zugelassen, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung des Art 3 lit a Spiegelstrich 5 und 6 der Brüssel IIa-VO vorliege.
[6] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Klägers erkennbar mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass der Zurückweisungsbeschluss ersatzlos behoben wird und dem Erstgericht die Fortführung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen wird.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs ist aus den vom Rekursgericht genannten Gründen zulässig, aber nicht berechtigt.
[8] 1. Aus Anlass des Rechtsmittelverfahrens legte der Oberste Gerichtshof zunächst dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor und setzte das Verfahren mit Beschluss vom 29. 9. 2020 bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus (9 Ob 43/20v). Da die Entscheidung des EuGH nunmehr vorliegt, war das Revisionsrekursverfahren fortzusetzen.
[9] 2. Nach dem Vorbringen des Klägers ist er italienischer Staatsbürger, die Beklagte ist deutsche Staatsbürgerin. Der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt befand sich in Irland. Nach nationalem Recht besteht daher keine inländische Gerichtsbarkeit (vgl § 76 Abs 2 JN).
[10] 3. Es ist daher weiters zu prüfen, ob sich die inländische Gerichtsbarkeit aus unionsrechtlichen Normen ableiten lässt. In allen Mitgliedstaaten der EU – ausgenommen Dänemark – gilt mit Wirkung vom 1. 8. 2004 die VO (EG) Nr 2201/2003 des Rates vom 27. 11. 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr 1347/2000 (Brüssel IIa-VO). Die inländische Gerichtsbarkeit wäre demnach zu bejahen, wenn sie nach den Bestimmungen dieser Verordnung gegeben wäre.
[11] Die für Ehescheidungen relevante Bestimmung ist Art 3 Brüssel IIa-VO. Diese lautet:
„Allgemeine Zuständigkeit
(1) Für Entscheidungen über die Ehescheidung, die Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder die Ungültigerklärung einer Ehe, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig,
a) in dessen Hoheitsgebiet
- beide Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben oder
- die Ehegatten zuletzt beide ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, sofern einer von ihnen dort noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
- der Antragsgegner seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
- im Fall eines gemeinsamen Antrags einer der Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
- der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens einem Jahr unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat, oder
- der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und entweder Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, dort sein 'domicile' hat;
b) dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten besitzen, oder, im Fall des Vereinigten Königreichs und Irlands, in dem sie ihr gemeinsames 'domicile' haben.
(2) Der Begriff 'domicile' im Sinne dieser Verordnung bestimmt sich nach dem Recht des Vereinigten Königreichs und Irlands.“
[12] Demnach setzen aber die im vorliegenden Fall einzig in Betracht kommenden Tatbestände in Art 3 lit a Spiegelstrich 5 und 6 Brüssel IIa-VO einen Aufenthalt von bestimmter Dauer voraus. Dabei differenzieren Art 3 Abs 1 lit a Spiegelstrich 5 und 6 Brüssel IIa-VO die Dauer des vorausgesetzten Aufenthalts nach der Staatsbürgerschaft des Antragstellers.
[13] 4. Der Kläger wiederholt auch im Revisionsrekurs seine Rechtsauffassung, dass diese Differenzierung nach der Staatsbürgerschaft gegen Art 18 AEUV verstößt. Mit Urteil vom 10. 2. 2022, C‑522/20 , hat der EuGH dazu Stellung genommen und die Vorlagefragen des erkennenden Gerichtshofs wie folgt beantwortet:
„Das in Art. 18 AEUV verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist dahin auszulegen, dass es dem nicht entgegensteht, dass die Zuständigkeit des Gerichts des Aufenthaltsmitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 eine Mindestdauer des Aufenthalts des Antragstellers unmittelbar vor der Antragstellung voraussetzt, die sechs Monate kürzer ist als die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter Gedankenstrich dieser Verordnung vorgesehene, und zwar deshalb, weil der Antragsteller Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist.“
[14] 5. Daraus ergibt sich für die Beurteilung des konkreten Falles Folgendes:
[15] Da der Kläger nicht über die österreichische Staatsangehörigkeit verfügt, beträgt die Frist des vorausgesetzten Aufenthalts zur Begründung der Zuständigkeit der Gerichte des Aufenthaltsorts des Klägers ein Jahr (Spiegelstrich 5). Der maßgebliche Zeitpunkt für die Bemessung der Aufenthaltsdauer ist nach dem Wortlaut des Art 3 Abs 1 lit a Spiegelstrich 5 und 6 Brüssel IIa-VO der Zeitpunkt der Antragstellung. Diese Voraussetzung hat der Kläger bei Erhebung der Klage nicht erfüllt.
[16] 6. Darauf, ob diese Voraussetzung zum Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung erfüllt ist, kommt es nicht an. Dem Neuerungsverbot unterliegen zwar nicht Tatsachen und Beweismittel, die jederzeit von Amts wegen zu beachtende Umstände betreffen. Gemäß § 42 Abs 1 JN ist jedoch nur auf jene Tatsachen von Amts wegen Bedacht zu nehmen, aus denen das Fehlen der dort genannten Prozessvoraussetzungen, hier der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit, hervorgeht. Für das (positive) Vorliegen dieser Prozessvoraussetzungen fehlt hingegen eine entsprechende Vorschrift, weshalb nach ständiger Rechtsprechung Tatsachen, die im Rechtsmittelverfahren gegen eine Zurückweisung der Klage vorgebracht werden, dem Neuerungsverbot unterliegen (10 ObS 87/18v; 9 Ob 75/16v mwN; RS0053062).
[17] Dass daher während des Rechtsmittelverfahrens auch die zwölfmonatige Frist abgelaufen ist, ist nicht zu berücksichtigen.
[18] 7. Zu Recht haben daher die Vorinstanzen die Klage zurückgewiesen. Dem Revisionsrekurs war daher nicht Folge zu geben.
[19] 8. Der Kläger hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
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