OGH 14Os123/21a

OGH14Os123/21a22.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Februar 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M. sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Socher in der Strafsache gegen * C* wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 22 U 16/08w des Bezirksgerichts Favoriten, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Oberstaatsanwältin Mag. Ramusch LL.M., LL.M. WU, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00123.21A.0222.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 22 U 16/08w des Bezirksgerichts Favoriten verletzen

1./ die Fortsetzung des Strafverfahrens (in Form der Durchführung der Hauptverhandlung und der Urteilsfällung) am 1. Oktober 2008 ohne vorangegangene Fassung eines Fortsetzungsbeschlusses § 205 Abs 2, § 209 Abs 3 StPO iVm § 199 StPO;

2./ die ohne beidseitigen Verzicht auf die Wiederholung erfolgte Fortsetzung der Hauptverhandlung am 1. Oktober 2008 § 276a zweiter Satz StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO;

3./ die Verlesung des Protokolls über die Vernehmung des Zeugen * U* (ON 2 S 15 f) in der am 1. Oktober 2008 durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Favoriten vom 1. Oktober 2008, GZ 22 U 16/08w‑22, wird aufgehoben und es wird dem Bezirksgericht Favoriten die Durchführung des gesetzmäßigen Verfahrens aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 22 U 16/08w des Bezirksgerichts Favoriten legte die Staatsanwaltschaft Wien * C* mit Strafantrag vom 7. Februar 2008 (ON 5) zwei als Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB beurteilte Taten zur Last.

[2] In der Hauptverhandlung am 9. April 2008, in der sich der Angeklagte zum Anklagevorwurf geständig verantwortete, wurde ein diversionelles Vorgehen in Form der Zahlung eines Geldbetrags (§ 200 StPO iVm § 199 StPO) erörtert und die Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt (ON 11).

[3] Die Mitteilung „gemäß § 199 StPO verbunden mit § 200 Abs 1 StPO“ (inhaltlich § 200 Abs 4 StPO) vom 30. April 2008 (ON 13) wurde dem Angeklagten am 19. Juni 2008 zugestellt (ON 15).

[4] Mangels Zahlung des Geldbetrags (vgl ON 21 S 3) beraumte das Bezirksgericht Favoriten – ohne Fassung eines Beschlusses auf Fortsetzung des Strafverfahrens – eine Hauptverhandlung für den 1. Oktober 2008 an (ON 1 S 4).

[5] In dieser in Abwesenheit des – ordnungsgemäß geladenen (ON 17 bis ON 19) – Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung (§ 427 Abs 1 StPO) verlas der Einzelrichter (unter anderem) „die Strafanzeige ON 2“, die auch das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen * U* enthält (ON 2 S 15 f, ON 21 S 3).

[6] Mit rechtskräftigem (vgl ON 24, 25) Abwesenheitsurteil vom 1. Oktober 2008 (ON 21 S 2 f, ON 22) wurde der Angeklagte – verfehlt (RIS-Justiz RS0114927) – „jeweils“ des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt.

[7] Die verhängte Geldstrafe blieb uneinbringlich (ON 28), die für den Fall deren Uneinbringlichkeit festgesetzte Ersatzfreiheitsstrafe konnte aufgrund unbekannten Aufenthalts des Angeklagten bislang nicht vollzogen werden (ON 41, 61, 65).

Rechtliche Beurteilung

[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren mit dem Gesetz nicht in Einklang:

[9] Voranzustellen ist, dass für das Hauptverfahren vor dem Bezirksgericht die Bestimmungen über das Verfahren vor dem Landesgericht als Schöffengericht gelten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (§§ 447, 458 zweiter Satz StPO).

[10] 1./ Eine Mitteilung nach § 200 Abs 4 StPO iVm § 199 StPO stellt nicht bloß eine prozessleitende, sondern eine Bindungswirkung (§ 205 Abs 3 letzter Satz StPO) entfaltende Verfügung dar (vgl RIS-Justiz RS0119663; Schroll/Kert, WK-StPO § 200 Rz 11/1 mwN und § 205 Rz 1/2).

[11] Die – (hier) infolge nicht vollständiger oder nicht rechtzeitiger Zahlung des Geldbetrags auf § 205 Abs 2 Z 1 StPO iVm § 199 StPO gestützte – Fortsetzung des Verfahrens ist nur zulässig, wenn darüber ein (den Bedingungen des § 86 Abs 1 und 2 StPO entsprechender, anfechtbarer) Fortsetzungsbeschluss gefasst wird (vgl RIS-Justiz RS0131501, RS0128156; Schroll/Kert, WK‑StPO § 200 Rz 13 und § 205 Rz 21; vgl auch § 209 Abs 3 zweiter Satz StPO).

[12] Der Verfahrensfortsetzung in Form der Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung am 1. Oktober 2008 stand daher ein durch die Mitteilung nach § 200 Abs 4 StPO iVm § 199 StPO vom 30. April 2008 (ON 13) eingetretenes, für den Fall der Rechtskraft einer beschlossenen Fortsetzung auflösend bedingtes, Verfolgungshindernis entgegen (vgl erneut RIS‑Justiz RS0128156 [T3]; Schroll/Kert, WK‑StPO § 205 Rz 21). Dieser Vorgang verletzt § 205 Abs 2, § 209 Abs 3 StPO iVm § 199 StPO.

[13] 2./ Gemäß § 276a StPO kann eine vertagte Verhandlung – soweit hier relevant – nur dann fortgesetzt werden, wenn seit der Vertagung nicht mehr als zwei Monate verstrichen sind oder beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung dieser Frist verzichten (Danek/Mann, WK‑StPO § 276a Rz 2, 8). Angesichts der bereits am 9. April 2008 erfolgten Vertagung der Verhandlung (ON 11) und mangels eines – aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung nicht abzuleitenden (RIS‑Justiz RS0117012 [T1 zu 14 Os 56/13m]) – Wiederholungsverzichts lagen die genannten Voraussetzungen in der Hauptverhandlung am 1. Oktober 2008 nicht vor. Eine Wiederholung der Hauptverhandlung ist dem diesbezüglichen Protokoll zufolge (ON 21; vgl dazu RIS‑Justiz RS0099052) jedoch unterblieben. Die Fortsetzung der Hauptverhandlung am 1. Oktober 2008 verletzt daher § 276a zweiter Satz StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO.

[14] 3./ Nach § 252 Abs 1 StPO dürfen – soweit hier von Bedeutung – Protokolle über die Vernehmung von Zeugen nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden. Aus dem Fernbleiben des gesetzeskonform geladenen Angeklagten zur Hauptverhandlung konnte sein Einverständnis zur Verlesung im Sinn der Z 4 des § 252 Abs 1 StPO nicht abgeleitet werden (RIS‑Justiz RS0117012, RS0099242 [T7]; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103 mwN). Da auch keiner der in § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO genannten Fälle vorlag, widersprach die Verlesung (ON 21 S 3) des in der Strafanzeige (ON 2) enthaltenen Protokolls über die Vernehmung des Zeugen * U* (ON 2 S 15 f) in der am 1. Oktober 2008 durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 1 StPO iVm § 458 zweiter Satz StPO.

[15] Es ist nicht auszuschließen, dass sich die angeführten Gesetzesverletzungen zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt haben. Der Oberste Gerichtshof sah sich daher veranlasst, ihre Feststellung wie aus dem Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).

[16] Vom aufgehobenen Urteil rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (RIS‑Justiz RS0100444).

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