OGH 7Ob18/22f

OGH7Ob18/22f16.2.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Unterbringungssache der Kranken T* Z*, geboren am * 1982, *, vertreten durch den Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Patientenanwältin Mag. C* P*), *, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Abteilungsleiterin Prim. Dr. B* W*, wegen Unterbringung, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 9. Dezember 2021, GZ 43 R 474/21f‑15, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Donaustadt vom 25. November 2021, GZ 34 Ub 209/21y‑4, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00018.22F.0216.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Die Kranke leidet an einer akut polymorphen Psychose. Sie wurde am 22. 11. 2021 in der Psychiatrischen Abteilung der Klinik * aufgenommen und ohne eigenes Verlangen untergebracht.

[2] Das Erstgericht zog der Erstanhörung am 25. 11. 2021 einen Facharzt für Psychiatrie und Neurologie bei und erklärte – unter anderem aufgrund dessen Einschätzung – die Unterbringung mangels Vorliegens von Selbst‑und Fremdgefährdung für unzulässig.

[3] Dem dagegen erhobenen Rekurs der Abteilungsleiterin erkannte das Erstgericht aufschiebende Wirkung zu. Es bestellte den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie zum Sachverständigen und beraumte die mündliche Verhandlung für den 9. 12. 2021, 11:15 Uhr an.

[4] Nach neuerlicher Befundung am 1. 12. 2021 erstattete der Sachverständige sein schriftliches Gutachten und bejahte nunmehr – abweichend von seiner ursprünglichen Beurteilung – eine Selbstgefährdung der Kranken.

[5] Am 9. 12. 2021, 10:00 Uhr, wurde die Unterbringung durch die Abteilungsleiterin beendet.

[6] Am gleichen Tag – aber nach bereits erfolgter Aufhebung der Unterbringung – änderte das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluss dahin ab, dass die vorläufige Unterbringung der Kranken gemäß § 20 Abs 1 UbG zulässig war. Es bestehe kein Neuerungsverbot. Fremdgefährdung liege nach wie vor nicht vor. Nach dem nunmehrigen Sachverständigengutachten und dem persönlichen Eindruck, den sich der Berichterstatter von der Kranken verschafft habe, stehe aber eine erhebliche und ernstliche Selbstgefährdung der Kranken im Sinn von Suizidalität fest. Diese sei bereits bei der Aufnahme – und der Erstanhörung – vorgelegen, damals aber nicht erkannt worden. Aufgrund der nunmehr festgestellten erheblichen Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Kranken im Zeitpunkt der Beschlussfassung erster Instanz, sei auszusprechen, dass die Unterbringung vorläufig zulässig war.

[7] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Es bestehe keine Rechtsprechung zum Verhältnis von Unterbringungsvoraussetzungen und den Möglichkeiten des Schutzes von minderjährigen Kindern im Rahmen eines Obsorgeverfahrens. Auch erscheine die Rechtsprechung zur Frage, ob bei einem Rekurs gegen einen Beschluss nach § 20 Abs 2 UbG Neuerungen zu berücksichtigen seien, nicht einheitlich.

[8] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs der Kranken mit einem Abänderungsantrag.

[9] Im Fall einer zwischen Erstanhörung und der Entscheidung nach § 26 Abs 1 UbG erfolgten Entlassung der Kranken kann der Beschluss, mit dem die Zulässigkeit der vorläufigen Unterbringung bejaht wurde, selbständig angefochten werden (vgl RS0128581, 7 Ob 27/15v).

[10] Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch im Sinn des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[11] 1. Gelangt das Erstgericht bei der Erstanhörung – wie hier – zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen der Unterbringung nicht vorliegen, so hat es diese für unzulässig zu erklären. In einem solchen Fall ist die Unterbringung sogleich aufzuheben, es sei denn, der Abteilungsleiter erklärt, gegen den Beschluss Rekurs zu erheben und das Gericht erkennt diesem Rekurs sogleich aufschiebende Wirkung zu (§ 20 Abs 2 UbG). Wird dem Rekurs aufschiebende Wirkung zuerkannt, ist sodann eine mündliche Verhandlung im Sinn des § 22 UbG anzuberaumen. In Analogie zu § 20 Abs 1 UbG ist das Verfahren fortzusetzen, weil der gerichtliche Unzulässigkeitsbeschluss vorläufig keine rechtlichen Wirkungen erlangt (Ganner in Gitschthaler/Höllwerth, Kommentar zum AußStrG II [2017] § 20 UbG Rz 12). Gemäß § 26 Abs 1 erster Satz UbG hat das Gericht am Schluss der mündlichen Verhandlung über die Zulässigkeit der Unterbringung zu entscheiden.

[12] 2.1 Nach § 29 Abs 1 UbG hat das Gericht zweiter Instanz, sofern der Kranke noch untergebracht ist, innerhalb von 14 Tagen nach Einlangen der Akten zu entscheiden.  Gemäß § 29 Abs 2 UbG hat das Gericht zweiter Instanz dabei das Verfahren selbst zu ergänzen oder neu durchzuführen, soweit es das für erforderlich hält. Einen persönlichen Eindruck vom Kranken darf es sich auch durch ein Mitglied des Senats verschaffen. Weil das Rekursgericht selbst eine Sachentscheidung zu treffen hat, besteht insoweit auch kein Neuerungsverbot (Ganner aaO § 29 UbG Rz 11, Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts3 Rz 429f, Halmich aaO  232). Das Rekursgericht muss also alle, somit auch die neu ermittelten oder bekannt gewordenen Fakten bezüglich der Unterbringungsvoraussetzungen in die Entscheidung einfließen lassen.

[13] 2.2 Aus dem Kontext der Bestimmung wird einhellig geschlossen, dass die Neuerungserlaubnisnur bei noch aufrechter Unterbringung zur Anwendung gelangt. In diesem Fall ist der Sachverhalt zum Zeitpunkt der Entscheidung der zweiten Instanz ausschlaggebend (vgl 7 Ob 553/93 = RS0009304; Halmich,Unterbringungsgesetz 232, Kopetzki aaO Rz 431; Ganner aaO § 29 UbG Rz 11). Ist die Unterbringung hingegen bereits beendet, kommt zwangsläufig nur mehr eine rein retrospektive Beurteilung im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung in Betracht, spätere Umstände sind daher unerheblich (vgl 7 Ob 553/93; Kopetzki aaO Rz 431, Halmich aaO 232; Ganner aaO § 29 Rz 11 Anm 20).

[14] 3.1 Auf das Verfahren über einen Rekurs gegen eine Entscheidung über die vorläufige Unterbringung ist § 29 UbG analog anzuwenden (Ganner aaO § 20 UbG Rz 13, HalmichaaO 190, Schweighofer, Unterbringungsgesetz [2019] § 20 UbG Rz 13).

[15] 3.2 Aus dieser analogen Anwendung folgt auch für den Fall, in dem die vorläufige Unterbringung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rekursgerichts bereits beendet war, dass die Entscheidung im Verfahren über den Rekurs des Abteilungsleiters gegen die Entscheidung in der Erstanhörung auf jener Grundlage zu fällen ist, die das Gesetz für die vorläufige Entscheidung nach § 20 UbG vorsieht (Schweighofer aaO § 20 UbG Rz 13). Das Rekursgericht kann nur feststellen, ob die Voraussetzungen der Unterbringung gegeben waren (vgl 7 Ob 585/91; Kopetzki aaO Rz 431; Schweighofer aaO § 20 UbG Rz 13; Hopf/Aigner, Unterbringungsgesetz [1993] § 20 UbG Anm 16), sodass in diesem Rekursverfahren grundsätzlich Neuerungsverbot (Schweighofer aaO § 20 UbG Rz 13) besteht.

[16] 3.3 Im vorliegenden Fall ist daher das Verfahren des Rekursgerichts, das gegen das Neuerungsverbot verstieß und insoweit eine vom Erstgericht abweichende Sachverhaltsgrundlage schuf, mangelhaft geblieben. Die Rekursentscheidung ist daher aufzuheben und dem Rekursgericht eine neuerliche Entscheidung ohne Berücksichtigung der Neuerungen aufzutragen.

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