Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Josef F***** leidet an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie mit chronisch rezidivierend verlaufendem psychischen Krankheitsbild. Er stand bereits wiederholt in der NÖ Landesnervenklinik Gugging in Behandlung. Nach seinem letzten, drei Monate währenden Aufenthalt in der Anstalt im Sommer 1992 wurde er durch Hausbesuche eines Arztes im Intervall der Depotinjektionen psychiatrisch betreut. Er wohnte wieder bei seiner Mutter, die bereits einen Herzinfarkt erlitten hat. Er lebte mit ihr auf engstem Raum zusammen, verließ Küche und Schlafzimmer so gut wie nie und trug äußere Zeichen der Verwahrlosung. Immer wieder sprach er über sensitives paranoides Erleben, über Allmachtsphantasien etc.
Am 11.2.1993 wurde er erneut in der Anstalt aufgenommen, nachdem er eine Woche hindurch die orale Medikation abgesetzt und nahezu täglich schwere raptusartige Anfälle mit Selbst- und Sachbeschädigung erlitten hatte. Am Tag der Unterbringung lag er in einem katatonen Stupor unter dem Tisch.
Am 12.2.1993, also bereits in der Anstalt, erlitt er abermals einen Raptus und mußte fixiert werden. Nach der Erstanhörung am 15.2.1993, bei der sich der Patient krankheitseinsichtig zeigte und seine Zustimmung zur Behandlung äußerte, erklärte das Erstgericht die vorläufige Unterbringung für zulässig.
In der am 25.2.1993 gemäß § 22 UbG durchgeführten mündlichen Verhandlung äußerte der Patient den Wunsch nach umgehender Entlassung. Der Abteilungsleiter bestätigte, daß der Patient am 12.2.1993 den letzten Anfall erlitten habe, sprach sich jedoch wegen mangelnder Krankheitseinsicht, der familiären Situation und der Befürchtung, daß der Patient trotz seiner Zusage die Medikamente nicht einnehmen werde, gegen eine Entlassung aus.
Mit dem am Schluß der mündlichen Verhandlung verkündeten Beschluß hat das Erstgericht die weitere Unterbringung des Josef F***** für unzulässig erklärt und dem dagegen vom Abteilungsleiter angemeldeten Rekurs aufschiebende Wirkung zuerkannt. Das Erstgericht begründete seinen Beschluß im wesentlichen damit, daß dem Gutachten der Sachverständigen dahin zu folgen sei, daß man sich auf das Versprechen des Patienten, die Medikamente weiter zu nehmen, verlassen könne. Aus der Tatsache, daß er vor der Unterbringung die orale Medikation eigenmächtig abgesetzt habe, könne noch nicht die ernstliche und erhebliche Gefahr abgeleitet werden, daß er dies im Fall der Aufhebung der Unterbringung wieder tun werde. Allein der Umstand, daß er innerhalb von zwei Wochen keinen weiteren Anfall erlitten habe, spreche nicht nur für die gute medikamentöse Einstellung des Patienten, sondern lasse auch erwarten, daß dieses "Erfolgserlebnis" ausreiche, ihn zur Einnahme der Medikamente zu motivieren. Diesen Erwägungen sei zwar die große Gefahr für seine herzkranke Mutter gegenüberzustellen, sollte er die Medikamente doch absetzen und wiederum in seine raptusartigen Zustände verfallen. Dennoch liege eine ernstliche Selbst- und Fremdgefahr nicht vor.
Vor Vorlage des Rekurses des Abteilungsleiters, dem das Erstgericht weiterhin aufschiebende Wirkung zuerkannte, erlitt der Patient am 4.3.1993 einen weiteren Raptus, der nach der Mitteilung des Pflegepersonals durch die bevorstehende Entlassung seines Freundes ausgelöst worden sei.
Die zweite Instanz erklärte nach Verfahrensergänzung die Unterbringung des Josef F***** bis 29.3.1993 für zulässig.
Das Rekursgericht stellte folgenden weiteren Sachverhalt fest:
Die Krankheit des Josef F***** konnte trotz verschiedener medizinischer und sozialtherapeutischer Maßnahmen nicht stabilisiert werden. In den letzten zwei Jahren ist die Tendenz zur Zurückziehung und das Auftreten von raptusartigen Zuständen in den Vordergrund getreten. Diese können trotz ausreichender Therapie nicht beeinflußt werden, denn der Patient hatte nicht nur am 12.2. und am 4.3., sondern auch am 10. und 14.3.1993 raptusartige Zustände, sodaß er jeweils auf die Akutstation verlegt und fixiert werden mußte. Nur so war er vor Selbstbeschädigung zu bewahren. Der Patient spürt zwar einen bevorstehenden Anfall, kann diesen aber nicht beeinflussen. Er empfindet anfangs Angstzustände, wobei er sich zunächst zurückziehen will, bekommt dann aber einen Bewegungsdrang und verletzt sich dabei meist auch selbst. Das Leiden kann nicht beherrscht werden, jedoch die Häufigkeit der Anfälle. Zum Zeitpunkt des persönlichen Eindruckes vom Kranken durch ein Mitglied des Rekurssenates war er medizinisch so eingestellt, daß er Krankheitseinsicht besaß und während seines Aufenthaltes in der Anstalt auch keine Gefährdung vorlag. Er bedarf weiterhin einer intensiven psychiatrischen Therapie. Die Mutter hat sich am 8.3.1993 bereit erklärt, ihren Sohn in drei Wochen wieder nach Hause zu nehmen. Sie hatte aber zuletzt sogar an einer Lungenentzündung gelitten.
Das Rekursgericht führte aus, daß die neuerlichen Anfälle des Patienten nach der erstgerichtlichen Entscheidung dessen Prognose in Frage stellten, weshalb die Verfahrensergänzung gemäß § 29 Abs 2 UbG erforderlich gewesen sei. Da nach § 10 AußStrG im Rekursverfahren kein Neuerungsverbot bestehe, seien auch die nach der angefochtenen Entscheidung entstandenen "nova producta" in die Entscheidung des Rekursgerichtes miteinzubeziehen. Bei nachträglichen Sachverhaltsänderungen sei auf den Zeitpunkt der Rekursentscheidung anzustellen. Die Unterbringung des Patienten sei gerechtfertigt, weil seine Affekt- und Impulsdurchbrüche nicht einmal mit der Medikamentation während der Unterbringung verhindert hätten werden können und daher zwangsläufig mit derartigen Anfällen auch außerhalb der Anstalt gerechnet werden müsse, wobei den Zeitpunkt niemand abschätzen könne. Da Kranke selbst gegen solche Anfälle nichts unternehmen können, brauche er ständige Betreuung, um die für das Anfallsgeschehen erforderliche ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Eine Entlassung setze daher voraus, daß die Mutter die Betreuung übernehmen könne. Nach der mit der Mutter getroffenen Vereinbarung sei dies der 29.3.1993.
Das Rekursgericht sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil die entscheidende Frage, ob der Patient im Zusammenhang mit seiner psychischen Erkrankung sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährde, eine Tatfrage sei.
Rechtliche Beurteilung
Der außerordentliche Revisionsrekurs der Patientenanwältin ist zulässig, weil die Rechtsprechung in jenen Fällen, in denen der Patient nach der erstgerichtlichen Entscheidung aber vor der Entscheidung der zweiten Instanz bereits gemäß § 32 UbG aus der Anstaltspflege entlassen wurde, auf den Zeitpunkt der Entscheidung erster Instanz abstellt und auf den durch die Entlassung dokumentierten Wegfall der Unterbringungsvoraussetzungen nicht Bedacht nimmt. Es liegt jedoch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage vor, ob und inwieweit Neuerungen, die für die weitere Unterbringung eines sich noch in Anstaltspflege befindlichen Patienten sprechen, von der zweiten Instanz zu berücksichtigen sind.
Der Revisionsrekurs ist aber nicht berechtigt.
Der Ansicht Kopecki's (UbG, Rz 485), daß das Rekursgericht bei nachträglichen Änderungen des Sachverhalts auf den Zeitpunkt der Rekursentscheidung abzustellen hat, ist zuzustimmen. Die schon bisher von der Rechtsprechung zu § 10 AußStrG vertretene Ansicht, daß auf nova producta bei Entscheidungen Bedacht zu nehmen ist, bei denen im Interesse des Kindes oder von Pflegebefohlenen geänderten Verhältnissen ehestens Rechnung getragen werden soll (EFSlg 47.073, 47.079; JBl 1961, 232; EvBl 1965/133; 3 Ob 577/89, 8 Ob 511/90), ist wegen gleichartiger Interessenlage auch im Unterbringungsverfahren gerechtfertigt.
Während in jenen Fällen, in denen die Unterbringung bereits aufgehoben wurde, nur eine retrospektive Beurteilung der Berechtigung der Unterbringung im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung in Betracht kommt, stellt sich die Frage anders, wenn der Patient im Zeitpunkt der Entscheidung zweiter Instanz noch untergebracht ist. Gelangt das Rekursgericht zur Ansicht, daß die Voraussetzungen für die Unterbringung im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Beschlußfassung vorhanden waren, nun aber nicht mehr gegeben sind, kann nur eine auf den letzteren Zeitpunkt abgestellte Entscheidung des Rekursgerichtes das Ziel des Gesetzes erreichen, die Unterbringung möglichst umgehend bei Wegfall der Voraussetzungen aufzuheben. Aber auch im umgekehrten Fall wird nur eine auf letzteren Zeitpunkt abstellende Entscheidung des Rekursgerichtes den Intentionen des Gesetzes gerecht, daß möglichst rasch eine gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der Unterbringung ergehen soll, wenn der Patient untergebracht ist. Würde das Rekursgericht seinen Ausspruch darauf beschränken, daß die Unterbringung im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Beschlußfassung nicht zulässig gewesen sei, könnte der Anordnung des Unterbringungsgesetzes über die Erstanhörung und die kurzen Fristen, die dem Gericht zur Entscheidung zur Verfügung stehen, nicht Rechnung getragen werden.
Im vorliegenden Fall kommt dazu, daß die Änderung des Sachverhaltes zwischen der Entscheidung des Erstgerichtes und jener des Gerichtes zweiter Instanz lediglich darin liegt, daß der Patient am 4., 10. und 14.3.1993 - trotz Anstaltsbetreuung - weitere raptusartige Anfälle erlitt. Diesen Umstand konnte die am 25.2.1993 getroffene Entscheidung des Erstgerichtes naturgemäß nicht in seine Erwägungen über die weitere Zulässigkeit der Unterbringung einbeziehen. Das Erstgericht mußte seine Prognose im Sinn des § 3 UbG ohne Kenntnis dieser Entwicklung stellen. Es kann aber auf Grund der Feststellungen des Rekursgerichtes nicht zweifelhaft sein, daß die schwere psychische Erkrankung des Patienten, die ihn zumindest zeitweise außer Stande setzt, der Selbstgefährdung und Gefährdung seiner Mutter durch medikamentöse Eigenversorgung entgegenzuwirken, bereits im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Beschlußfassung und nicht erst im Zeitpunkt der Beschlußfassung zweiter Instanz vorlag.
Die Frage, ob die Mutter des Patienten willens und überhaupt in der Lage war, ihn schon bald nach seiner Einlieferung wieder bei sich aufzunehmen und entsprechend zu betreuen, stellte sich jedenfalls nicht erst während des Rekursverfahrens. Der Anstaltsleiter wies auf dieses Problem sowohl bei der Erstanhörung als auch in der gemäß § 22 UbG durchgeführten Verhandlung hin. Die auf Grund ergänzender Erhebungen des Rekursgerichtes getroffene Feststellung, die Mutter sei (erst) ab 29.3.1993 bereit, ihren Sohn wieder nach Hause zu nehmen, stellt sich damit als notwendige Ergänzung der erstgerichtlichen Feststellungen, nicht aber als eine nachträglich eingetretene Veränderung der entscheidungswesentlichen Prämissen dar.
Warum eine Prognose des Erstgerichtes, die auf unvollständiger Sachverhaltsgrundlage beruhte und zudem durch nachfolgende Ereignisse widerlegt wurde, vom Rekursgericht nicht revidiert werden sollte, ist nicht einsichtig. Entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs liegt hier nicht der Fall vor, daß die Voraussetzungen der Unterbringung im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Entscheidung nicht vorhanden oder weggefallen und erst im Zeitpunkt der Entscheidung zweiter Instanz aufgetreten oder wieder aufgetreten sind. Es ist auch nicht richtig, daß das Rekursgericht davon ausgegangen ist, daß im Zeitpunkt der erstgerichtlichen Entscheidung keine Selbstgefährdung mehr bestanden habe. Das Rekursgericht wies zwar darauf hin, daß die Gefährdung durch die Unterbringung beseitigt worden sei. Wie sich jedoch aus den weiteren Ausführungen ergibt, war dieser Zustand - auch zur Zeit der erstgerichtlichen Entscheidung - nur durch die Unterbringung in der Anstalt zu erreichen, wo eine optimale medikamentöse Einstellung und die Möglichkeit bestand, den Patienten bei Auftreten von Affekt- und Impulsausbrüchen sofort akut zu versorgen. Das Problem, wie vorzugehen ist, wenn die Unterbringungsvoraussetzungen überhaupt erst nach der erstgerichtlichen Entscheidung auftreten, stellt sich somit hier nicht.
Daß das Rekursgericht selbst für eine möglichst umfassende Sachverhaltsgrundlage Sorge zu tragen und somit seine Entscheidung auf Grund des letzten Wissensstandes zu fällen hat, ergibt sich aus der Bestimmung des § 29 Abs 2 UbG, wonach es das Verfahren selbst zu ergänzen oder neu durchzuführen hat, sofern es dies für erforderlich hält. Die Bedachtnahme des Rekursgerichtes auf die nach der erstgerichtlichen Beschlußfassung aufgetretenen Symptome, die massiv auf die - vom Erstgericht verneinte - ernstliche Selbstgefährdung des Patienten außerhalb der Anstalt hinwiesen, trägt auch dem besonderen Schutzgedanken des UbG Rechnung, der in § 1 UbG dem Gesetzeswerk vorangestellt ist.
Dem Revisionsrekurs war daher ein Erfolg zu versagen.
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