European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00099.21D.0805.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und es wird die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Das Erstgericht traf folgende (im Berufungsverfahren nicht angefochtene) Tatsachenfeststellungen:
[2] Am 13. 4. 2018 ereignete sich in Wien 1 auf dem Treppelweg Wolfgang-Schmitz-Promenade in der Nähe der Mündung des Wienflusses in den Donaukanal auf Höhe der Urania ein Unfall, an dem der Kläger als Radfahrer und die Beklagte als Fußgängerin beteiligt waren. Die Wolfgang-Schmitz-Promenade beschreibt in Fahrtrichtung des Klägers in Annäherung an den späteren Unfallort zunächst eine starke Linkskurve mit einem Gefälle von etwa 10 %, das sich bis zur Unfallstelle auf etwa 8 % verringert. Die Fahrbahnbreite beträgt 4,5 m, in Fahrtrichtung des Klägers gesehen befindet sich auf der linken Seite eine Mauer, in die eine von der Uraniastraße herabführende Treppe integriert ist. Am Ende der Treppe befindet sich ein schmaler Gehsteigbereich, der jedoch ausreichend breit ist, um darauf in einer Position zu stehen, von der aus man freie Sicht auch in die Annäherungsrichtung des Klägers hat. Die Wolfgang-Schmitz-Promenade ist sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrer zur Verwendung freigegeben, die höchstzulässige Geschwindigkeit beträgt 50 km/h.
[3] Am Unfalltag waren auf der Wolfgang-Schmitz-Promenade viele Fußgänger unterwegs. Der Kläger fuhr mit seinem Fahrrad mit einer Geschwindigkeit von maximal 15 km/h in Richtung Urania, wobei er seine Fahrlinie mehrfach versetzen musste, um Fußgängern auszuweichen. Kurz vor Erreichen des Fußes der Stiegenanlage hielt er aufgrund eines derartigen Ausweichmanövers gerade eine Fahrlinie rund 1 m vom linken Fahrbahnrand entfernt ein. Zu diesem Zeitpunkt trat die Beklagte, die die stark frequentierte Stiege in Richtung der Wolfgang-Schmitz-Promenade hinuntergegangen war, vom Gehsteig auf die Fahrbahn, ohne sich davor vergewissert zu haben, dass dies ohne Gefährdung allfälliger Radfahrer oder sonstiger Verkehrsteilnehmer möglich wäre. Der Kläger reagierte auf das Erkennen der Beklagten mit einer prompten Vollbremsung und einem versuchten Auslenkmanöver. Obwohl die Bremsung noch wirksam wurde, kam es zu einem Kontakt zwischen dem linken Ende des Lenkers des Fahrrads und der Beklagten im Brustbeinbereich. Der Lenker des Fahrrads verfing sich in der Jacke der Beklagten, wodurch der Kläger stürzte und sich verletzte. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten erhielt der Kläger erst so kurz vor der späteren Kollision Sicht auf die Beklagte, dass ihm ein unfallvermeidendes Reagieren nicht mehr möglich war. Bei Einhaltung einer weiter rechts gelegenen Fahrlinie wäre es unter sonst gleichen Prämissen nicht zur Kollision gekommen, jedoch hielt der Kläger die festgestellte Fahrlinie deswegen ein, weil er den auf dem rechten Teil des Wegs befindlichen Fußgängern auswich. Hätte die Beklagte vor dem Betreten der Fahrbahn einen Blick nach rechts geworfen, so hätte sie den herannahenden Kläger erkennen und durch Zuwarten mit dem Betreten der Fahrbahn den Unfall vermeiden können.
[4] Der Kläger begehrt die (in dritter Instanz der Höhe nach nicht mehr strittige) Zahlung von 13.290 EUR sA (Schmerzengeld, Verdienstentgang, Heilungskosten, Spesen) sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle Unfallfolgen. Der Unfall habe sich auf der Abfahrt von der Uraniastraße kommend Richtung Treppelweg beim Donaukanal ereignet. Die gesamte Breite des Wegs dürfe von Fußgängern, Radfahrern und Autos gleichermaßen genutzt werden. Da reger Verkehr an Fußgängern und Radfahrern geherrscht habe, sei der Kläger sehr langsam (mit rund 10 km/h) ca in der Mitte des Wegs gefahren. Das Verschulden am Unfall treffe die Beklagte, die von einer Treppe aus kommend, ohne auf den Verkehr zu achten, den Weg betreten habe. Im Gegensatz zur Beklagten habe der Kläger keine Möglichkeit gehabt, den Unfall zu vermeiden.
[5] Die Beklagte wendete ein, das Verschulden am Unfall treffe den Kläger selbst, der gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen habe, zu schnell und unaufmerksam gefahren sei und verspätet reagiert habe. Er habe eindeutig gegen § 68 Abs 1 letzter Satz StVO verstoßen, wonach Radfahrer auf Geh‑ und Radwegen Fußgänger nicht gefährden dürften. Die Beklagte habe aufgrund der örtlichen Gegebenheiten keine Möglichkeit gehabt, rechtzeitig Sicht auf den herannahenden Kläger zu erlangen. Sie wandte eine Gegenforderung von 2.700 EUR compensando ein.
[6] Das Erstgericht gab in seinem mehrgliedrigen Spruch dem Klagebegehren statt. Das Verschulden am Unfall treffe die Beklagte, weil sie es unterlassen habe, sich vor dem Betreten der Fahrbahn davon zu vergewissern, dass sie dadurch nicht andere Verkehrsteilnehmer gefährde. Ein ins Gewicht fallendes Mitverschulden des Klägers liege nicht vor.
[7] Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteige und ließ die ordentliche Revision zunächst nicht zu.
[8] Bei der Wolfgang-Schmitz-Promenade handle es sich nach den erstgerichtlichen Feststellungen um einen Geh- und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO, somit um eine Radfahranlage. Die für den Fußgänger‑ und Fahrradverkehr bestimmte Verkehrsfläche sei daher als Fahrbahn zu qualifizieren. Die Beklagte habe gegen § 76 Abs 1 StVO verstoßen, weil sie überraschend diese Fahrbahn betreten habe. Der Kläger habe damit, dem Vertrauensgrundsatz nach § 3 StVO entsprechend, nicht rechnen müssen. Ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot gemäß § 7 Abs 1 StVO falle dem Kläger nicht zur Last, weil er (aus seiner Sicht) rechts gehenden Fußgängern ausgewichen sei. Gegen § 68 Abs 1 letzter Satz StVO, wonach Radfahrer auf Geh‑ und Radwegen Fußgänger nicht gefährden dürften, habe der Kläger ebenfalls nicht verstoßen, weil sich diese Norm auf Fußgänger beziehe, die den Geh‑ und Radweg bereits benützten und nicht erst beträten. Das Alleinverschulden treffe daher die Beklagte.
[9] Das Berufungsgericht ließ nachträglich gemäß § 508 Abs 3 ZPO die Revision doch zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu existiere, ob ein Fußgänger beim Betreten eines Geh- und Radwegs gemäß § 76 Abs 1 StVO gegenüber einem dort fahrenden Radfahrer verpflichtet sei, dies nicht überraschend zu tun, oder ob der Radfahrer diesen Fußgänger gemäß § 68 Abs 1 letzter Satz StVO nicht gefährden dürfe.
[10] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag auf Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinn der Klageabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[11] Der Kläger beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zulässig, weil die bisherigen Tatsachenfeststellungen eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht zulassen; sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.
[13] Die Revisionswerberin vertritt die Ansicht, ein Geh‑ und Radweg sei keine Fahrbahn im Sinn von § 2 Abs 1 Z 2 StVO, weshalb ihr kein Verstoß gegen § 76 Abs 1 StVO vorzuwerfen sei. Vielmehr habe der Kläger gegen § 68 Abs 1 StVO verstoßen. Zumindest sei für den Kläger eine unklare Verkehrssituation vorgelegen.
[14] Hierzu wurde erwogen:
[15] 1. Die bisherige Tatsachengrundlage reicht zur Beurteilung der Verschuldensfrage nicht aus:
[16] 1.1. Nach den Feststellungen hätte sich der Unfall auf dem „Treppelweg“ ereignet. Das Wort „Treppelweg“ bezeichnet keine Tatsachenfeststellung, sondern ist ein Rechtsbegriff (§ 2 Z 26 Schifffahrtsgesetz; § 11.01 Z 1 lit c Wasserstraßen‑Verkehrsordnung). Treppelwege sind als solche durch ein Tafelzeichen zu bezeichnen (§ 50.03 Z 1 Wasserstraßen-Verkehrsordnung); für sie gelten besondere Benützungsvorschriften (vgl §§ 50.01, 50.02 Wasserstraßen-Verkehrsordnung; 2 Ob 66/20z).
[17] Der erkennende Senat ist somit an die „Tatsachenfeststellung“ „Treppelweg“ nicht gebunden: Wie auch aus den im Akt erliegenden, einen integrierten Bestandteil des erstinstanzlichen Urteils bildenden Lichtbildern ersichtlich ist, führt die Wolfgang-Schmitz-Promenade von der Uraniastraße (neben dem Eingang zum Kasperltheater) abwärts Richtung Treppelweg und mündet – allerdings erst nach der Unfallstelle – in diesen ein. Dies hat auch der Kläger vorgebracht (ON 1 und ON 6: „Auf der Abfahrt von der Uraniastraße kommend Richtung Treppelweg beim Donaukanal“). Ebenso sprach der Sachverständige vom „Unfall bei der Zufahrt zum Treppelweg“.
[18] Der Unfall hat sich somit nicht auf einem Treppelweg ereignet, sodass auf die beschriebenen, damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen nicht einzugehen ist.
[19] 1.2. Nach den Feststellungen wäre die Wolfgang-Schmitz-Promenade sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrer zur Verwendung „freigegeben“ gewesen. Auf welche Weise diese „Freigabe“ erfolgt sein soll, steht nicht fest.
[20] Das Berufungsgericht hat – offenbar darauf Bezug nehmend – gefolgert, bei der Promenade (und somit auch der Unfallstelle) handle es sich um einen Geh‑ und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO.
[21] Ein Geh- und Radweg iSd § 2 Abs 1 Z 11a StVO erfordert jedoch nach der Legaldefiniton, dass der Weg als solcher gekennzeichnet ist. Dies erfolgt durch das Gebotszeichen „Geh‑ und Radweg“ gemäß § 52 Z 17a StVO.
[22] Dass für die Verkehrsfläche, auf der die Unfallstelle liegt, dieses Gebotszeichen aufgestellt gewesen wäre, wurde aber nicht festgestellt und ergibt sich auch nicht aus den im Akt befindlichen Lichtbildern. Es kann daher mangels eindeutiger Feststellungen derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, es handle sich um einen Geh‑ und Radweg, zutrifft. Wäre dies zu verneinen, wäre die zweitinstanzliche Zulassungsfrage obsolet.
[23] 1.3. Der Kläger hat vorgebracht, der Weg dürfe auch von „Autos“ (ON 6) befahren werden. Die Beklagte hingegen hat mit ihrer Bezugnahme auf § 68 Abs 1 letzter Satz StVO den Weg als Geh‑ und Radweg qualifiziert (ON 8).
[24] Auf dem Lichtbild 1 der vom Sachverständigen angefertigten Fotodokumentation (Beilage ./I) ist der Beginn der Wolfgang-Schmitz-Promenade bei der Uraniastraße abgebildet. Dort ist ua ein Fahrverbotsschild (§ 52 Z 1 StVO) mit einer Zusatztafel zu sehen, wonach vom Fahrverbot Radfahrer sowie Ladetätigkeit (zu bestimmten Zeiten) ausgenommen sind. Diese Beschilderung spräche dafür, dass die Wolfgang-Schmitz-Promenade (zwischen den beiderseits verlaufenden Randsteinen) als Fahrbahn iSd § 2 Abs 1 Z 2 StVO (und demgemäß nicht als Geh‑ und Radweg) zu qualifizieren ist. Dazu würde die Feststellung passen, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Unfallbereich 50 km/h betrug.
[25] 1.4. Die Feststellungen über die vom Kläger befahrene und von der Beklagten betretene Verkehrsfläche erweisen sich somit als widersprüchlich und erlauben daher noch keine rechtliche Qualifikation. Insofern ist der Sachverhalt ergänzungsbedürftig. Erst nach Klärung dieser Frage wird beurteilt werden können, in welchem Ausmaß die Beklagte ein Verschulden an dem Unfall trifft.
[26] 1.5. Schließlich reichen die Feststellungen auch für die Beurteilung eines allfälligen Mitverschuldens des Klägers noch nicht aus:
[27] Der Kläger hat durch die Wahl seiner nahe dem linken Fahrbahnrand gelegenen Fahrlinie objektiv gegen die Schutznorm des § 7 Abs 1 StVO verstoßen, die auch von links kommende Fußgänger schützen soll (RS0027636). Er hat daher den Beweis zu erbringen, dass ihm der objektive Verstoß nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist (RS0112234).
[28] Dazu steht zwar fest, dass der Kläger die festgestellte Fahrlinie deswegen einhielt, weil er den auf dem rechten Teil des Wegs befindlichen Fußgängern auswich. Es steht aber weder fest, welchen Seitenabstand er zu den Fußgängern eingehalten hat, noch mit welchem Seitenabstand ein gefahrloses Vorbeifahren an diesen Fußgängern bei Einhaltung einer angemessenen Geschwindigkeit objektiv möglich war.
[29] Auch insoweit wird die Tatsachengrundlage zu ergänzen sein. Sollten zu den angesprochenen Fragen nur Negativfeststellungen möglich sein, fiele die verbleibende Unklarheit dem Kläger zur Last.
[30] 2. Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin lag aber keine unklare Verkehrssituation vor, die den Kläger zu besonderer Vorsicht verpflichtet hätte. Denn der Kläger war schon bei erster Sicht auf die Beklagte zu einer sofortigen Abwehrhandlung genötigt.
[31] 3. Aufgrund der dargestellten Feststellungsmängel sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht ist die neuerliche Entscheidung aufzutragen. Ob dafür eine Verfahrensergänzung notwendig ist, obliegt der Beurteilung des Erstgerichts.
[32] 4. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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