European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E132217
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 607 Hv 5/19v (vormals AZ 335 HR 168/18t) des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletztder Beschluss dieses Gerichts vom 4. Februar 2019 (ON 358) § 178 Abs 2 StPO, und zwar durch die in der Begründung vertretene Rechtsansicht, dass ein in Untersuchungshaft befindlicher Beschuldigter bei einem Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach dem Überschreiten der Sechsmonatsfrist des § 178 Abs 2 StPO jedenfalls zu enthaften sei.
Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.
Gründe:
[1] In der Strafsache gegen Boban J* und andere wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 erster Fall, Abs 4 Z 2 und Z 3, Abs 5 SMG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 607 Hv 5/19v (vormals AZ 335 HR 168/18t) des Landesgerichts für Strafsachen Wien,wies der Einzelrichter dieses Gerichts mit Beschluss vom 4. Februar 2019 (ON 358) den Antrag der Staatsanwaltschaft Wien auf Fortsetzung der über Boban J* am 6. Juni 2018 verhängten (und zwischenzeitig mehrfach fortgesetzten) Untersuchungshaft „gemäß § 178 Abs 2 StPO“ ab und enthaftete den Beschuldigten.
[2] Dabei bejahte er das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts eines den Verbrechen der kriminellen Organisation nach § 278a StGB sowie des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 erster Fall, Abs 4 Z 2 und Z 3 SMG subsumierbaren Verhaltens (BS 1 f) und des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO (BS 3 f). Die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft stünde zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis und sei auch durch Anwendung gelinderer Mittel nicht substituierbar (BS 4). Ferner handle es sich mit Blick auf die Komplexität der Ermittlungen um ein besonders umfangreiches Ermittlungsverfahren im Sinn des § 178 Abs 2 StPO (BS 4). Allerdings stehe einer (weiteren) Fortsetzung der Untersuchungshaft die Bestimmung des § 178 Abs 2 StPO entgegen, weil die Sechsmonatsfrist des § 178 Abs 2 StPO überschritten worden sei und mehrere – auf BS 5 bis 8 näher beschriebene – Verstöße gegen das besondere Beschleunigungsgebot (in Haftsachen) vorlägen. Daher sei der Beschuldigte jedenfalls zu enthaften (BS 5).
[3] Mit Beschluss vom 19. März 2019, AZ 21 Bs 56/19t, 21 Bs 57/19i, 21 Bs 58/19m (ON 416), gab das Oberlandesgericht Wien – soweit hier von Relevanz – der von der Staatsanwaltschaft Wien erhobenen Beschwerde gegen den vorbezeichneten Beschluss nicht Folge.
[4] Dabei ging auch das Beschwerdegericht vom Vorliegen eines dringenden Tatverdachts eines den Verbrechen der kriminellen Organisation nach § 278a StGB sowie des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 erster Fall, Abs 4 Z 2 und Z 3 SMG subsumierbaren Verhaltens (BS 6 bis 10), des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit a und lit b StPO (BS 10 f) und der „grundsätzlich anzunehmenden Verhältnismäßigkeit der Anhaltung“ (BS 11) aus.
[5] Zwar sei „zumindest bis Dezember 2018 unvermeidliche Haftdauer wegen besonderen Umfangs des Verfahrens anzunehmen“, doch setze danach „eine andere Beurteilung der Sach‑ und Rechtslage“ ein (BS 14 f):
[6] So würden die laufenden „Finanzermittlungen“ lediglich der Sicherung des (erweiterten) Verfalls dienen und die Aufrechterhaltung der Haft im Sinn des § 178 Abs 2 StPO nicht rechtfertigen. Vielmehr hätte noch vor Abschluss dieser Ermittlungen eine Anklageschrift eingebracht werden können (BS 15 f).
[7] Weiters entspreche die Dauer der Auswertung der in den Hafträumen der Beschuldigten aufgefundenen Mobiltelefone nicht dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen, wobei zudem nicht nachvollziehbar sei, welche im Sinn des § 178 Abs 2 StPO für das Verfahren unmittelbar und konkret relevanten Erkenntnisse diese Auswertungen hätten erbringen sollen (BS 16 f).
[8] Auch im Umstand, dass eine „wirksame Vertretung des zuständigen Polizeibeamten“ während dessen zweiwöchigen Krankenstands nicht stattgefunden habe, liege ein Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen und das Grundrecht auf persönliche Freiheit; dieser hätte zwar hier „wegen des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bei isolierter Betrachtung womöglich noch nicht zwingend zur Freilassung des Beschuldigten“ führen müssen, doch dürften personelle Engpässe, die zu Verfahrensverzögerungen führen, grundsätzlich nicht zu Lasten des Beschuldigten interpretiert werden (BS 17 f).
[9] Schließlich stellte das Oberlandesgericht noch eine aktuelle – durch einen Krankenstand des zuständigen Staatsanwalts mitbedingte – Verzögerung fest, weil noch keine Anklageschrift vorliege, obwohl der Abschlussbericht bereits am 8. Februar 2019 eingelangt sei (BS 18 f).
[10] „Aus all diesen Gründen, die insbesondere in ihrem Zusammenwirken zuletzt tatsächlich vermeidbare, teilweise unverschuldete Verzögerungen bewirkt [...]“ hätten, sei „eine neuerliche Verhaftung des Beschuldigten nach Überschreiten der Sechs-Monats-Frist des § 178 Abs 2 StPO nicht vorzunehmen“ (BS 19).
Rechtliche Beurteilung
[11] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, verletzt der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. Februar 2019 (ON 358) das Gesetz:
[12] §§ 9 Abs 2 und 177 Abs 1 StPO statuieren ein besonderes Beschleunigungsgebot in Haftsachen, wonach alle am Strafverfahren mitwirkenden Behörden auf eine möglichst kurze Dauer der Haft hinzuwirken haben. Eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen ist demnach auch ohne Verletzung des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO grundrechtswidrig im Sinn einer Verletzung der §§ 9 Abs 2 iVm 177 Abs 1 StPO (vgl Kier, WK-StPO § 9 Rz 49 und Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 2, jeweils mwN).
[13] Ein Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen bewirkt aber nicht ohne weiteres den Anspruch auf sofortige Enthaftung. Ein solcher ist vielmehr gemäß § 9 Abs 2 StPO, aber auch nach Art 5 Abs 3 zweiter Satz MRK und Art 5 Abs 1 PersFrG nur bei einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer gegeben (13 Os 77/16x; RIS-Justiz RS0120790 [insbesondere T13 und T15]; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 176 Rz 16, § 177 Rz 4 f; Kier, WK-StPO § 9 Rz 52).
[14] § 178 Abs 2 StPO ordnet an, dass über sechs Monate hinaus (vgl § 178 Abs 1 StPO) die Untersuchungshaft, was den Abschnitt bis zum Beginn der Hauptverhandlung (§§ 239 erster Satz, 304 erster Satz, 447, 488 Abs 1 erster Satz StPO) betrifft, nur dann aufrecht erhalten werden darf, wenn dies wegen besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs der Ermittlungen – bezogen auf jene Tatvorwürfe, hinsichtlich derer die Verdachtslage als dringend (und damit haftbegründend) eingestuft wird (Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 178 Rz 11 f; 13 Os 91/13a) – im Hinblick auf das Gewicht des Haftgrundes unvermeidbar ist.
[15] Solcherart ist der genannten Norm keine Grundlage für den im Beschluss vom 4. Februar 2019 (ON 358) eingenommenen Rechtsstandpunkt zu entnehmen, wonach ein Beschuldigter bei einem Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach dem Überschreiten der Sechsmonatsfrist jedenfalls zu enthaften sei (vgl dazu auch Kier, WK‑StPO § 9 Rz 52 [insbesondere letzter Satz]).
[16] Die Bejahung oder Verneinung der in § 178 Abs 2 StPO normierten Voraussetzungen für eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus fällt in den Bereich des gebundenen Ermessens (14 Os 120/10v; 14 Os 109/12d; 14 Os 53/20f; vgl auch RIS‑Justiz RS0121605). Bei dieser (Ermessens‑)Entscheidung sind die genannten gesetzlichen Kriterien stets unter Beachtung der konkreten Umstände des Einzelfalls (vgl Kier, WK‑StPO § 9 Rz 24, 32) zu gewichten und beim Werturteil der Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit der fristübersteigenden Haftfortsetzung in Anschlag zu bringen.
[17] Ob und gegebenenfalls bis zu welcher Dauer die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus als unvermeidbar – oder mit der Konsequenz der Enthaftung (vgl 14 Os 120/10v; 13 Os 91/13a) als vermeidbar – anzusehen ist, hängt demnach – neben der Voraussetzung des Vorliegens besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs der Ermittlungen – maßgeblich auch vom Gewicht ab, das dem herangezogenen Haftgrund im konkreten Einzelfall beizumessen ist.
[18] Diesem Prüfungsmaßstab entsprichtder dargestellte Beschluss nicht, der bei der für die Ermessensentscheidung nach § 178 Abs 2 StPO gebotenen Gesamtwürdigung aller relevanten gesetzlichen Kriterien die angeordnete Verknüpfung mit dem Gewicht des Haftgrundes nicht vorgenommen hat.Damit verstößt er in unvertretbarer Weise gegen die Bestimmung des § 178 Abs 2 StPO (zum Prüfungsmaßstab bei Ermessensentscheidungen vgl RIS‑Justiz RS0096557 [insbesondere T8, T9]; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 8/1).
[19] Da die angeführte Gesetzesverletzung nicht zum Nachteil des (nunmehr) Angeklagten Boban J* wirkt, hat es mit deren Feststellung sein Bewenden (§ 292 vorletzter Satz StPO).
[20] Soweit die Nichtigkeitsbeschwerde § 178 Abs 2 StPO auch durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 19. März 2019, AZ 21 Bs 56/19t, 21 Bs 57/19i, 21 Bs 58/19m (ON 416) verletzt sieht, weil entgegen der in der genannten Bestimmung für die Ermessensentscheidung angeordneten Gesamtwürdigung aller relevanten gesetzlichen Kriterien die angeordnete Verknüpfung mit dem Gewicht des Haftgrundes außer Acht gelassen worden sei, ist sie hingegen nicht im Recht:
[21] Denn das Oberlandesgericht hat durch die Berücksichtigung (auch) des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft (BS 18 iVm BS 19) zum Ausdruck gebracht, das Gewicht des Haftgrundes ins Kalkül gezogen zu haben. Ein unvertretbarer Verstoß gegen § 178 Abs 2 StPO durch Außerachtlassung der vom Gesetz vorgegebenen Gesamtwürdigung der Beurteilungskriterien im Rahmen der Ermessensausübung liegt solcherart nicht vor (vgl erneut RIS‑Justiz RS0096557 [insbesondere T8, T9]; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 8/1).
[22] Insoweit war die Nichtigkeitsbeschwerde daher zu verwerfen.
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