OGH 14Os109/12d

OGH14Os109/12d5.12.2012

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. Dezember 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Meier als Schriftführerin in der Strafsache gegen Avni I***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 063 Hv 132/12k des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerden der Angeklagten Avni I***** und Bekim R***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 3. Oktober 2012, AZ 22 Bs 380/12m (ON 189 der Hv-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Avni I***** und Bekim R***** wurden im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerden werden abgewiesen.

Text

Gründe:

Soweit im Verfahren über die Grundrechtsbeschwerden relevant wurden Avni I***** und Bekim R***** sowie vier weitere Personen am 9. März 2012 festgenommen und wurde über sie am 12. März 2012 die Untersuchungshaft wegen sämtlicher in § 173 Abs 2 StPO genannter Haftgründe verhängt (ON 62 ff).

Mit Anklageschrift vom 7. August 2012 (ON 148) legt die Staatsanwaltschaft unter anderem Avni I***** ein den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2 und Abs 4 Z 3 SMG (A/III/3) und den Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall SMG (A/IV) sowie nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (A/V) und Bekim R***** ein den Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 2 SMG (A/I/1), sowie nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter und dritter Fall, Abs 2 Z 2, Abs 4 Z 3 SMG (A/III/3), weiters den Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG (A/V), des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB (B), der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 und Abs 2 Z 4 StGB (C) und des Besitzes falscher oder verfälschter besonders geschützter Urkunden nach § 224a StGB (D) subsumiertes Verhalten zur Last (vgl zur richtigen Subsumtion nach § 28a Abs 1 und 2 SMG: RIS-Justiz RS0117464 und zu § 28a Abs 1 und Abs 4 Z 3 SMG: RIS-Justiz RS0117463).

Danach haben in Wien und anderen Orten

(A) vorschriftswidrig Suchtgift als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung

I) in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen überlassen und zwar

1) Bekim R***** dem Arbrim D***** im Jänner 2012 150 Gramm Heroin und Bernd B***** im Frühjahr 2011 10 Gramm Heroin,

III)3) Avni I***** und Bekim R***** zu Straftaten des Enver A*****, der als Mitglied einer kriminellen Vereinigung drei in der Anklage namentlich Genannte zur Ausfuhr von Suchtgift (Heroin und Kokain) aus Belgien und Einfuhr nach Österreich in einer das 25-fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) weit übersteigenden, in der Anklage angeführten Menge bestimmte und zu bestimmen versuchte (A/III/2/a), beigetragen, indem sie sich vor Durchführung der Schmuggelfahrten bereit erklärten, das Suchtgift in Wien zu übernehmen und abzupacken;

IV) Avni I***** drei in der Anklage genannten Personen zwischen Herbst 2011 und Ende 2011 Kokain und Speed überlassen;

V) Avni I***** und Bekim R***** ab einem festzustellenden Zeitpunkt bis 9. März 2012 Heroin und Kokain zum Eigenkonsum erworben und besessen;

(B) Bekim R***** am 9. März 2012 Beamte mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Festnahme zu hindern versucht, indem er drei in der Anklage genannten Polizeibeamten Schläge und Tritte versetzte und versuchte, sich aus einem Festhaltegriff loszureißen, um zu flüchten;

(C) Bekim R***** zwei in der Anklage genannte Polizeibeamte während der Vollziehung ihrer Aufgaben, nämlich der in Punkt B beschriebenen Amtshandlung vorsätzlich am Körper verletzt (Abschürfungen);

(D) Bekim R***** ab einem festzustellenden Zeitpunkt bis 9. März 2012 eine falsche besonders geschützte Urkunde (§ 224 StGB), nämlich einen in der Anklage bezeichneten total gefälschten tschechischen Führerschein mit dem Vorsatz, dass er im Rechtsverkehr zum Beweis einer Tatsache, nämlich der Personalidentität gebraucht werde, durch Aufbewahren in seiner Geldbörse besessen.

Die Ladungen zur Hauptverhandlung wurden den Angeklagten zufolge Verzögerungen (Ausschreibung der Hauptverhandlung am 3. September 2012 nach Kündigung der Verteidigervollmacht durch Bekim R***** am 30. August 2012) erst am 7. September 2012 zugestellt, weshalb der für 12. September 2012 geplanten Hauptverhandlung § 221 Abs 2 erster Satz StPO entgegenstand. Mit Beschluss vom 12. September 2012 (ON 172) hob der Vorsitzende des Schöffensenats die Untersuchungshaft unter anderem bei Avni I***** und Bekim R***** auf (ON 172). Besondere Schwierigkeiten oder ein besonderer Umfang der Ermittlungen (§ 178 Abs 2 StPO) lägen nach seiner Ansicht nicht vor und die Staatsanwaltschaft wäre zur Trennung des Verfahrens und Anklageerhebung gegen die in Haft befindlichen Beschuldigten ungeachtet ausständiger umfangreicher Ermittlungen gegen andere an der Tat Beteiligte verpflichtet gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 183) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 3. Oktober 2012, AZ 22 Bs 380/12m (ON 189), hinsichtlich der Angeklagten Avni I***** und Bekim R***** Folge und trug dem Erstgericht die Verhängung der Untersuchungshaft über die Genannten aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und 3 lit a und b [bei Letzterem auch lit c] StPO auf. Es bejahte jeweils mängelfrei den dringenden Tatverdacht sowie die genannten Haftgründe und verneinte deren Substituierbarkeit angesichts deren Intensität und eine Unverhältnismäßigkeit der Haft angesichts der Schwere der Tatvorwürfe.

Hinsichtlich des Verfahrens gegen Avni I***** und Bekim R***** bejahte es zudem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 178 Abs 2 StPO. Rückblickend betrachtet möge zwar der Großteil der Erhebungen längstens mit Einlangen des Untersuchungsberichts des Bundeskriminalamts am 7. Mai 2012 beim Landeskriminalamt abgeschlossen gewesen sein, es müsse jedoch den Ermittlungsbehörden zugestanden werden, dass sie vom Zeitpunkt der Festnahme der vermeintlich einer größeren kosovarischen Tätergruppe angehörenden Angeklagten, die mit „übergroßen“ Suchtgiftmengen handelten oder diese ein- und ausführten, (vom Zeitpunkt der Festnahme am 9. März 2012 an) bis zum Einlangen des Abschlussberichts am 11. Juli 2012 bei der Staatsanwaltschaft Wien (ON 120) vier Monate lang ermittelten. Wenngleich die Verschriftungen und Übersetzungen der Überwachungsprotokolle zum Festnahmezeitpunkt (zumindest überwiegend) vorgelegen seien, dürfe nicht übersehen werden, dass die ermittelnden Kriminalbeamten nach Festnahme das sichergestellte Suchtmittel zur quantitativen Untersuchung weitergeleitet und die sichergestellten Mobiltelefone sowie das Navigationsgerät einer Auswertung zugeführt hätten und die Erhebungen auf von den Beschuldigten genannte Personen konzentriert werden sollten. Weiters seien Vernehmungen von vermutlichen Suchtgiftabnehmern von Bekim R***** und Avni I***** und die Abklärung der aus den sichergestellten Mobiltelefonen gewonnenen Telefondaten unter anderem im Wege von Europol angekündigt worden (ON 96 S 3). Diese Erhebungen seien auch aufgrund der leugnenden Verantwortung und deshalb erforderlich gewesen, weil Avni I***** und Bekim R***** von ihrem Recht Gebrauch gemacht hätten, keine Angaben zu tätigen; die Tatsache, dass letztlich keine weiteren Abnehmer ausgeforscht werden konnten, dürfe nicht zum Vorteil der Genannten ausschlagen. Die Aufrechterhaltung der Haft sei angesichts des Gewichts des Haftgrundes unvermeidbar.

Dagegen richten sich die überwiegend wortgleichen Grundrechtsbeschwerden des Avni I***** und des Bekim R*****, die einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot behaupten und die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus kritisieren, weil das „Verfahren wesentlich schneller abgeführt hätte werden können, wenn eine Trennung des Verfahrens erfolgt wäre und entsprechend rasch eine Anklageerhebung“ erfolgt wäre.

Die - zulässigen (Kier in WK² § 1 GRBG Rz 8, 45) - Grundrechtsbeschwerden sind nicht berechtigt.

Zu den umfassenden Anfechtungserklärungen („zur Gänze“) fehlt die prozessordnungskonforme Ausführung (Kier in WK² § 2 GRBG Rz 26, 28, 33, 50; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170 bis 189 Rz 24b). Im Übrigen ist hier die Annahme von dringendem Tatverdacht allein in Betreff der Suchtmitteldelinquenz - weil hafttragend - ausreichend (vgl Kier in WK² § 2 GRBG Rz 38).

Dem Erfordernis, die behauptete Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen durch eine im Strafverfahren tätige Behörde, Einrichtung oder Person genau zu bezeichnen (Kier, WK-StPO § 9 Rz 54; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 177 Rz 3) wird mit pauschalem Verweis auf mögliche frühere Anklageerhebung im Fall einer Trennung der Verfahren nicht entsprochen.

Die Bejahung oder Verneinung der Voraussetzungen für eine Fristüberschreitung nach § 178 Abs 2 StPO fällt in den Bereich gebundenen Ermessens. § 2 Abs 1 GRBG bezeichnet nur unrichtige Gesetzesanwendung als Grundrechtsverletzung und führt dabei „insbesondere“ einzelne gravierende Fälle namentlich an. Ermessensausübung innerhalb der gesetzlichen Grenzen kann zwar durch eigenes Ermessen des Rechtsmittelgerichts ersetzt, nicht aber als unrichtig charakterisiert werden (14 Os 120/10v; RIS-Justiz RS0121605).

Die vom Beschwerdegericht für die Zulässigkeit der Fristüberschreitung fallbezogen angeführten konkreten Umstände (grenzüberschreitendes Organisationsgeflecht im Bereich schwerster Drogenkriminalität, Vielzahl der involvierten Personen, besonderer Aufwand beim Abgleich von Datenmaterial, Auswertung sichergestellter Mobiltelefone und eines Navigationsgerätes, Untersuchung sichergestellten Suchtgifts sowie Ausforschen von Suchtgiftabnehmern der leugnenden Beschwerdeführer, deren Vernehmung im Übrigen zur Überprüfung der Richtigkeit ihrer Angaben im Sinn einer amtswegigen sorgfältigen und vollständigen materiellen Wahrheitsfindung und umfassenden Prüfung des Beweismaterials abzuwarten waren; vgl auch Kier, WK-StPO § 9 Rz 29) bewegen sich innerhalb dieser Grenzen vertretbarer Ermessensabwägung.

Dagegen spricht auch nicht, dass letztlich keine weiteren Abnehmer ausgeforscht werden konnten, weil jene zum Ausnahmetatbestand des § 178 Abs 2 StPO führenden Ermittlungen, um den in Rede stehenden Tatbestand zu verwirklichen, zum Zeitpunkt des Fristablaufs nicht fortdauern müssen (14 Os 120/10v).

Bleibt im Übrigen anzumerken, dass hier auch die - mit dem qualitativen und quantitativen Verfahrensumfang zusammenhängende - vom Vorsitzenden zur Vorbereitung der für den 12. September 2012 anberaumt gewesenen (ON 164, 169) Hauptverhandlung benötigte Zeitdauer von rund einem Monat sowie die Schwierigkeiten, die zur Verlegung der Hauptverhandlung führten, entsprechend zu berücksichtigen sind (vgl 14 Os 120/10v) und nach Lage des Falles auch das Einbringen der Anklage rund fünf Wochen nach Einlangen des Abschlussberichts der Kriminalpolizei bei der Staatsanwaltschaft nicht zu beanstanden ist (vgl 14 Os 167/11g).

Avni I***** und Bekim R***** wurden demnach im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb die Beschwerden - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur - ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen waren.

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