OGH 10ObS23/21m

OGH10ObS23/21m19.5.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Krachler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*, vertreten durch die gesetzliche Erwachsenenvertreterin G*, vertreten durch Mag. Bernhard Mlynek, Rechtsanwalt in Pressbaum, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Waisenpension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 18. Dezember 2020, GZ 9 Rs 45/20 h‑38, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 19. Dezember 2019, GZ 7 Cgs 92/17m‑33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131980

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Im Revisionsverfahren ist der Anspruch des Klägers auf Waisenpension nach seinem am 19. 7. 2016 verstorbenen Vaters strittig.

[2] Der am 15. 7. 1976 geborene Kläger hatte bis zum Jahr 1998 keine sichtbaren psychotischen Symptome. Die ersten produktiven Symptome einer paranoiden Schizophrenie traten in den Jahren 1999/2000 auf. Aufgrund von schwerwiegenden psychotischen Symptomen musste er seine in den Jahren 2002 und 2003 ausgeübte Berufstätigkeit als Barista aufgeben. Derzeit liegt bei ihm das anhaltende Residualstadium einer paranoiden Schizophrenie vor. Mangels ausreichender Durchhaltefähigkeit und Einordenbarkeit sowie wegen eingeschränkter Flexibilitäts‑ und Umstellungsfähigkeit sind dem Kläger keine Tätigkeiten am Arbeitsmarkt möglich. Eine wesentliche Besserung seines Zustandsbildes ist nicht mehr zu erwarten.

[3] Der Ausbildungs- und Berufsverlauf des Klägers lässt sich wie folgt zusammenfassen:

[4] Bis zu seinem 18. Lebensjahr besuchte er in P* (wo er geboren wurde) die Schule. In den Jahren 1995 bis 1997 arbeitete er im Betrieb seines Vaters in P* als „Manager“ und war als Supervisor Vorgesetzter von zwei bis drei Mitarbeitern. Er erhielt lediglich Taschengeld sowie kostenlose Unterkunft. Bei einem von seinem Vater organisierten Management‑Kurs legte er keine Prüfungen ab. 1998 zog der Kläger nach London, wo er von Februar 1998 bis Juni 1999 in Croydon das Cambridge Tutors College besuchte und Chemie, Mathematik und Physik studierte. Nicht feststellbar ist, ob der Kläger den Hauptkurs für die E-Levels (diese entsprechen der Studienzugangsprüfung) abgeschlossen hat. Von 27. 9. 1999 bis 16. 9. 2000 studierte er an der London Metropolitan University Computerwissenschaften und Informationssysteme. Es kann nicht festgestellt werden, ob und welche Kurse er an der Universität besuchte oder ob er Prüfungen positiv absolvierte bzw ob er mehr als 20 Stunden pro Woche für das Studium aufwendete. Er schloss das Studium nicht ab. Während seiner Studienzeit war er auf die Unterstützung seiner Eltern und seiner Schwester angewiesen. In den Jahren 2002 und 2003 arbeitete der Kläger als (angestellter) Barista und bezog ein Erwerbseinkommen. Im Jahr 2003 begab er sich nach Österreich und befindet sich seither in regelmäßiger nervenärztlicher Behandlung. Im Jahr 2016 kam es zu einem Aggressionsdurchbruch gegenüber einem Exekutivbeamten.

[5] Nach dem Tod seines Vaters am 19. 7. 2016 beantragte der Kläger am 30. 9. 2016 die Zuerkennung einer Waisenpension.

[6] Mit Bescheid vom 12. 4. 2017 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt diesen Antrag ab.

[7] Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung einer Waisenpension im gesetzlichen Ausmaß ab 19. 7. 2016. Seine Kindeseigenschaft habe nach der Vollendung des 18. Lebensjahres weiter bestanden, weil er sich zum Zeitpunkt des Eintritts seiner Erwerbsunfähigkeit noch in einer seine Arbeitskraft überwiegend beanspruchenden Schul‑ und Berufsausbildung befunden habe.

[8] Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage und wendet ein, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG für den Anspruch auf Waisenpension deshalb nicht erfülle, weil seine Erwerbsunfähigkeit erst nach Beendigung der Schul‑ bzw Berufsausbildung eingetreten sei.

[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei der Beschäftigung des Klägers im Unternehmen seines Vaters habe es sich – ungeachtet des geringen Einkommens – um eine Erwerbstätigkeit und nicht um eine Berufsausbildung für den Beruf eines kaufmännischen Angestellten und auch nicht um eine andere übliche und anerkannte Berufsausbildung gehandelt. Die Kindeseigenschaft sei auch nicht durch die Studienzeiten des Klägers in London verlängert worden. Der Kläger habe keine Nachweise darüber erbracht, dass er im Rahmen seiner Studien Kurse besucht oder diese abgeschlossen habe.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass die Tätigkeit des Klägers im Unternehmen seines Vaters als Erwerbstätigkeit anzusehen sei. Die Kindeseigenschaft sei deshalb erloschen und auch durch das im Februar 1998 aufgenommene Studium nicht wieder aufgelebt. Darauf, ob beim Kläger die Erwerbsunfähigkeit noch während seines Studiums und vor seiner Erwerbstätigkeit als Barista eingetreten sei, komme es nicht an. Die Beweisrüge zum Ausmaß der Studientätigkeit des Klägers in London könne mangels rechtlicher Relevanz unerledigt bleiben.

[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Klagestattgebung anstrebt.

[12] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die außerordentliche Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zugeben und das Urteil des Berufungsgerichts zu bestätigen.

[13] Die Revision ist zulässig; sie ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[14] Der Kläger macht in seiner Revision geltend, dass Personen zwischen der Vollendung des 18. und des 27. Lebensjahres „verlängerte Kindeseigenschaft“ besitzen, wenn und solange sie eine die Arbeitskraft überwiegend in Anspruch nehmende Schul‑ oder Berufsausbildung absolvieren. Unerheblich für die Beurteilung der verlängerten Kindeseigenschaft sei, ob vor der Ausbildung andere Tätigkeiten wie etwa ein Praktikum oder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt worden seien. Dass er vor seinem Studium im Betrieb seines Vaters mitgearbeitet habe, stehe seinem Anspruch auf Waisenpension nicht entgegen, sofern seine Erwerbsunfähigkeit während seines Studiums in London eingetreten ist. Dazu fehlten bisher aber Feststellungen.

[15] Dazu ist auszuführen:

[16] 1.1 Anspruch auf Waisenpension kommt nach dem Tod des Versicherten den Kindern iSd § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 und Abs 2 ASVG zu (§ 260 ASVG). Während der Anspruch auf Waisenpension bis zum vollendeten 18. Lebensjahr an keine weiteren Voraussetzungen gebunden ist, setzt er nach Vollendung des 18. Lebensjahres eine besondere Antragstellung voraus (§ 260 Satz 2 ASVG). Es ist zu prüfen, ob die besonderen Voraussetzungen des § 252 Abs 2 ASVG erfüllt sind.

[17] 1.2 Nach § 252 Abs 2 Z 1 ASVG besteht die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres, wenn und solange sich das Kind in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, längstens bis Vollendung des 27. Lebensjahres.

[18] 1.3 Von der Rechtsprechung wird das Wort „einer“ in § 252 Abs 2 Z 1 ASVG nicht als Zahlwort, sondern als unbestimmter Artikel verstanden, sodass es für die Beurteilung der verlängerten (pensionsversicherungsrechtlichen) Kindeseigenschaft unerheblich ist, ob das Kind vor der aktuellen Ausbildung bereits in einer anderen Schul- oder Berufsausbildung oder im Erwerbsleben gestanden ist (10 ObS 111/88 SSV‑NF 2/51; 10 ObS 216/91 SSV‑NF 5/89; Panhölzl in SV-Komm [207. Lfg] § 252 ASVG Rz 46). Selbst ein mehrfacher Ausbildungswechsel lässt für sich allein genommen die Kindeseigenschaft nicht erlöschen (10 ObS 169/91 SSV‑NF 5/77).

[19] 1.4 Ist es für die Beurteilung der verlängerten Kindeseigenschaft unerheblich, ob das Kind vor einer Schul- oder Berufsausbildung bereits erwerbstätig war, folgt daraus, dass die Kindeseigenschaft des Klägers weiterhin bestand, wenn und solange er sich in einer Schul- oder Berufsausbildung befand, die seine Arbeitskraft überwiegend beanspruchte, auch wenn seine zuvor ausgeübte Tätigkeit im Unternehmen seines Vaters in P* eine Erwerbstätigkeit und keine Berufsausbildung war.

[20] 2. Im derzeitigen Verfahrensstadium ist noch nicht beurteilbar, ob der Anspruch des Klägers auf Waisenpension zu bejahen ist:

[21] 2.1 Nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG besteht die Kindeseigenschaft nach der Vollendung des 18. Lebensjahres auch dann weiter, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in § 252 Abs 2 Z 1 ASVG (Schul‑ oder Berufsausbildung) genannten Zeitraums infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist.  Erwerbsunfähig ist, wer infolge Krankheit oder Gebrechens nicht imstande ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (RIS‑Justiz RS0085556; RS0085536 [T2]).

[22] 2.2 Für das Fortbestehen der Kindeseigenschaft iSd § 252 Abs 2 Z 3 ASVG muss die Erwerbsunfähigkeit im hier zu beurteilenden Fall somit entweder bereits vor Vollendung des 18. Lebensjahres oder während der Schul- oder Berufsausbildung eingetreten sein und darüber hinaus andauern.

[23] 2.3 Nach der Absicht des Gesetzgebers sollen Versorgungsansprüche eines Kindes erhalten bleiben, nicht aber Versorgungsansprüche für Personen neu geschaffen werden, die erst später ihre Erwerbsfähigkeit verloren haben. Ein Anspruch auf Waisenpension setzt also voraus, dass im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft noch gegeben war (RS0113891; Panhölzl in SV-Komm § 252 [207. Lfg] Rz 63). Eine später eingetretene Erwerbsunfähigkeit führt zwar zu einem Wiederaufleben eines Unterhaltsanspruchs des Kindes gegenüber den Eltern. Nach deren Tod wird dieser Unterhaltsanspruch jedoch ungeachtet fehlender Selbsterhaltungsfähigkeit nicht durch einen Waisenpensionsanspruch ersetzt (R. Müller, Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der Sozialversicherung DRdA 1995, 465 [473]).

[24] 3.1 Wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird, fehlen ausreichende Feststellungen dazu, wann die Erwerbsunfähigkeit des Klägers eingetreten ist. Bisher steht nur fest, dass sich bei ihm erstmals 1999/2000 produktive Symptome der paranoiden Schizophrenie zeigten und er seine 2002 und 2003 ausgeübte Berufstätigkeit als Barista aufgrund seiner schwerwiegenden psychotischen Symptome beenden musste. Daraus lässt sich nicht ableiten, zu welchem Zeitpunkt die Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist. Diese Feststellung ist aber für den Verfahrensausgang entscheidend:

[25] 3.2 Sollte der Kläger bereits während seiner College- bzw Studienzeiten im Vereinigten Königreich (bis September 2000) erwerbsunfähig iSd § 252 Abs 2 Z 3 ASVG geworden sein, könnte sein Anspruch auf Waisenpension unter der weiteren Voraussetzung zu bejahen sein, dass es sich bei den College- bzw Studienzeiten um Schul- oder Berufsausbildungen gehandelt hat, die seine Kindeseigenschaft über das 18. Lebensjahr hinaus verlängerten (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG). Auch dazu fehlen die erforderlichen Feststellungen:

[26] 4.1 Die Kindeseigenschaft besteht bei einer Schul- bzw Berufsausbildung nur dann weiter, wenn die Arbeitskraft durch die Ausbildung überwiegend beansprucht wird (RS0085184). Dies ist durch den Vergleich der konkreten Auslastung der Arbeitskraft mit der von der geltenden Arbeitsordnung und Sozialordnung, etwa im Arbeitszeitgesetz (AZG) oder in den Kollektivverträgen, für vertretbar gehaltenen Gesamtbelastung zu ermitteln (RS0085184). Richtschnur ist nach der Rechtsprechung ein durchschnittliches wöchentliches Ausmaß von 20 Stunden. Liegt der zeitliche Aufwand darunter, liegt keine Kindeseigenschaft mehr vor (RS0085184 [T5]; 10 ObS 237/01b SSV‑NF 15/127 zu einem zweijährigen Vor‑Staatsexamensprogramm an einer Universität in der Türkei).

[27] 4.2 Nach den bisherigen Feststellungen hat der Kläger von Februar 1998 bis Juni 1999 in Croydon das Cambridge Tutors College besucht. Feststellungen dazu, ob der Besuch dieser Ausbildungseinrichtung seine Arbeitszeit in einem durchschnittlichen Ausmaß von 20 Stunden oder mehr in Anspruch genommen hat, sind nicht vorhanden.

[28] 4.3 Zur anschließenden Studienzeit des Klägers an der London Metropolitan University traf das Erstgericht bisher die Negativfeststellung, es könne nicht festgestellt werden, ob und welche Kurse/Lehrveranstaltungen der Kläger besuchte oder ob er Prüfungen positiv absolvierte bzw mehr als 20 Stunden pro Woche für das Studium aufwendete. Die dazu in der Berufung des Klägers erhobene Beweisrüge hat das Berufungsgericht unerledigt gelassen.

[29] 5. Der vom Revisionswerber zutreffend aufgezeigte rechtliche Feststellungsmangel führt daher zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung.

[30] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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