European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00060.21H.0420.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der in Salzburg geborene Minderjährige ist das uneheliche Kind seiner slowakischen Mutter und seines tschechischen Vaters. Der Minderjährige ist slowakischer und tschechischer Staatsbürger. Die Mutter hält sich seit einigen Jahren in Österreich, derzeit in Wien, auf. Der Vater lebt in Tschechien. Das Kind besucht seit 2018 eine Schule in Tschechien und lebt seit Jahren jeweils für zwei Wochen bei einem der Elternteile. In der Tschechischen Republik ist das Obsorgeverfahren anhängig.
[2] Vor dem Erstgericht begehrte die Mutter den Beschluss, dass die Obsorge ihr allein zukomme; weiters solle der hauptsächliche Aufenthalt des Kindes im Haushalt der Mutter festgelegt werden, in eventu möge der Besuch einer bestimmten Schule in Wien durch das Kind angeordnet werden. Die Zurückweisung des hilfsweise gestellten Antrags, eine Entscheidung des tschechischen Gerichts in Trebic (Okresni soud) zu AZ 10 P 37/2015 für vollstreckbar zu erklären, wird im drittinstanzlichen Verfahren nicht mehr bekämpft.
[3] Das Erstgericht setzte die Entscheidung über die Anträge nach Art 19 Verordnung (EG) Nr 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) (im Folgenden nur: Brüssel IIa‑VO) aus. Es verwies auf das bereits in Tschechien anhängige Obsorgeverfahren. Das später angerufene Gericht habe demnach sein Verfahren bis zur Klärung der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts auszusetzen. Die Führung eines Personensorgeverfahrens vor den österreichischen Gerichten würde den Nachweis voraussetzen, dass die bisher befassten tschechischen Gerichte ihre internationale Unzuständigkeit erklären.
[4] Das Rekursgericht wies aus Anlass des Rekurses der Mutter deren Anträge wegen fehlender internationaler Zuständigkeit zurück und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
[5] Es wies darauf hin, dass ein Vorgehen nach Art 19 Brüssel IIa‑VO nur in Frage komme, wenn das später angerufene Gericht nach den Grundsätzen der EuEheVO 2003 überhaupt zuständig sein könne. Mangels gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Österreich liege keine internationale Zuständigkeit Österreichs vor. Auch eine Entscheidungskompetenz nach Art 20 Brüssel IIa‑VO für einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen liege nicht vor.
Rechtliche Beurteilung
[6] Der gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.
[7] 1. Im AußStrG gibt es keine dem § 519 Abs 1 Z 1 ZPO vergleichbare Regelung, sodass auch Beschlüsse, die einen Antrag ohne Sachentscheidung aus rein formalen Gründen zurückweisen, nur bei Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage anfechtbar sind (RIS‑Justiz RS0120974). Entgegen der Auffassung der Mutter ist der angefochtene Beschluss im Rahmen des Rekursverfahrens ergangen, wobei das Rekursgericht funktionell nicht als Erstgericht gehandelt hat (vgl jüngst 1 Ob 128/19h zu einem vergleichbaren Fall [Anfechtbarkeit nach § 62 AußStrG]).
[8] 2. Die Mutter stützt die Zulässigkeit ihres Rechtsmittels lediglich „aus advokatorischer Vorsicht“ auf Fragen zu Art 20 Brüssel IIa‑VO und zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes.
[9] 3.1 Sie macht im Zusammenhang mit Art 20 Brüssel IIa‑VO das Fehlen von Rechtsprechung geltend, ob auch eine überlange Verfahrensdauer bzw Untätigkeit eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats die Zuständigkeit nach dieser Bestimmung eröffne und die Zuständigkeit in der Hauptsache auf einen anderen Mitgliedstaat übergehe, wenn das ursprünglich zuständige Gericht den Kindeswillen nicht beachte und das Verfahren schlicht nicht beende, obwohl sich das Kind bereits für einen Verbleib im anderen Staat (hier: Österreich) ausgesprochen habe.
[10] 3.2.1 Art 20 Abs 1 Brüssel IIa‑VO sieht vor, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögens‑gegenstände auch dann anordnen können, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.
[11] 3.2.2 Diese Bestimmung begründet keine eigene Zuständigkeit, sondern ermöglicht die Inanspruchnahme von (Eil- bzw Schutz-)Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, auch wenn in der Hauptsache die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats ausschließlich zuständig sind (2 Ob 228/11k).
[12] 3.2.3 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH C‑523/07, A., Rn 47; EuGH C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia Rz 39 ff; EuGH C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rn 77) müssen für die Anwendbarkeit des Art 20 Brüssel IIa‑VO drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein: Die betreffende Maßnahme muss dringend sein, sie muss in Bezug auf Personen getroffen werden, die sich in dem betreffenden Mitgliedstaat befinden, und sie muss vorübergehender Art sein.
[13] 3.2.4 Das Zuständigkeitssystem der Brüssel IIa‑VO wird durch deren Art 20 jedoch nicht verdrängt (RS0127837). Als Ausnahme von der durch die Verordnung geschaffenen Zuständigkeitsregelung legt der Europäische Gerichtshof Art 20 Brüssel IIa‑VO restriktiv aus: Dem EuGH zufolge müssen sich nicht nur das Kind, sondern auch beide Elternteile im Gerichtsstaat „befinden“, weil die einstweilige Maßnahme auch „in Bezug“ auf diese Personen erlassen wird (EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rn 38). Der Gerichtshof erachtete diese Voraussetzung im damaligen Anlassfall als nicht gegeben, weil der Vater in einem anderen Mitgliedstaat wohnte und nichts darauf hindeutete, dass er sich in dem Mitgliedstaat aufhielt, dessen Gericht die Zuständigkeit nach Art 20 Brüssel IIa‑VO in Anspruch nahm (Rn 52).
[14] 3.3 Die von der Mutter aufgeworfene Frage, ob auf diese Bestimmung ein Übergang der Zuständigkeit in der Hauptsache aus Gründen des Kindeswohls bzw der überlangen Verfahrensdauer im Staat des zuerst angerufenen Gerichts (Tschechien) gestützt werden kann, ist bereits aufgrund der referierten Rechtsprechung und des insoweit klaren Wortlauts der Art 20 Brüssel IIa‑VO zu verneinen. Die Entscheidung des Rekursgerichts bedarf diesbezüglich damit keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung. Es ist in der Judikatur bereits hinreichend geklärt, dass Art 20 Brüssel IIa‑VO weder die Zuständigkeitstatbestände der Brüssel IIa‑VO verdrängt, noch eine eigene Zuständigkeit begründet. Die Mutter strebt keine einstweiligen Maßnahmen, sondern endgültige Entscheidungen an. Schließlich widerspräche die Bejahung des Art 20 Brüssel IIa‑VO im Anlassfall auch der restriktiven Auslegung des EuGH in der Entscheidung C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia (Rn 38).
[15] 4. Auch die Ausführungen zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (Art 8 Brüssel IIa‑VO) können die Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht stützen.
[16] 4.1 Ob ein solcher vorliegt, hängt stark von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls ab und erfüllt damit regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 63 Abs 1 AußStrG (vgl 10 ObS 74/14a; 6 Ob 152/17x).
[17] 4.2 Abgesehen davon, dass die mit der Betreuung des Kindes und seinem Schulbesuch in Tschechien begründete Bejahung des gewöhnlichen Aufenthalts (nur) in Tschechien jedenfalls nicht unvertretbar ist, wurden die identen Anträge der Mutter, ihr die Obsorge zuzusprechen, hilfsweise den Schulbesuch ihres Sohnes in einer bestimmten Schule in Wien anzuordnen, in einem vorangegangenen (noch vom Bezirksgericht Salzburg geführten) Verfahren mangels internationaler Zuständigkeit zurückgewiesen. Das Bezirksgericht Salzburg begründete dies mit dem gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen zum Zeitpunkt der Antragstellung in Tschechien, weshalb die tschechischen Gerichte für die Führung des Obsorgeverfahrens zuständig seien; Österreichische Gerichte könnten daher nicht für zuständig erklärt werden. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft (vgl die Rekursentscheidung des Landesgerichts Salzburg vom 29. Jänner 2020 zu 21 R 306/19z).
[18] Im Hinblick auf die Rechtskraft dieser Entscheidung (und den in Art 8 Brüssel IIa‑vo festgelegten Grundsatz der perpetuatio fori, vgl 3 Ob 213/07f) werfen auch die Ausführungen der Mutter, dass das Bezirksgericht Salzburg den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (wegen dessen Geburtsurkunde und seines Meldezettels) in Österreich feststellen hätte müssen (bzw unrichtig verneint habe), sodass die Zuständigkeit in der Hauptsache in Österreich bzw Salzburg verblieben wäre, keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)