OGH 2Ob228/11k

OGH2Ob228/11k15.5.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder P***** P*****, geboren am ***** 2006, und H***** P*****, geboren am ***** 2008, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters D***** P*****, (nunmehr) vertreten durch Mag. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 19. Oktober 2011, 16 R 281/11d‑30, womit infolge Rekurses des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichts Mödling vom 10. Juni 2011, GZ 13 Ps 81/11d‑10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Der Antrag auf Zuspruch der Kosten des Revisionsrekurses wird abgewiesen.

Text

Begründung

Die beiden Kinder stammen aus der im Dezember 2005 geschlossenen Ehe des D***** P***** und der Mag. B***** P*****. Der Vater ist belgischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Luxemburg, wo er auch berufstätig ist. Die Mutter ist österreichische Staatsbürgerin mit Wohnsitz in G*****, Niederösterreich; sie übt ihren Beruf in Österreich aus. Die Kinder besitzen die belgisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaft. Beiden Elternteilen kommt die Obsorge über die Kinder zu. Die Ehe ist noch aufrecht.

Am 6. 6. 2011 brachte die Mutter beim Erstgericht einen auf das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) gestützten Antrag auf „Rückgabe“ der Kinder ein. Der Vater habe die Kinder am 30. 5. 2011 gegen ihren Willen von ihrem gewöhnlichen Aufenthalt in G***** zuerst nach Luxemburg und dann nach Belgien zu Verwandten „verbracht“.

Am 7. 6. 2011 langte der Antrag der Mutter, die Obsorge über die Kinder dem Vater zu entziehen und sie ihr allein zu übertragen, beim Erstgericht ein. Gleichzeitig beantragte sie, ihr die alleinige Obsorge bis zum Abschluss des Verfahrens vorläufig zu übertragen.

Sie brachte vor, die Kinder hätten seit ihrer Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Mit ihrem Ehemann, dem Vater der Kinder, habe sie aufgrund der räumlichen Distanz eine Wochenendbeziehung gepflegt. Während der ersten Ehejahre sei der Vater von Luxemburg nach G***** gependelt, während ihrer Karenzzeit sei sie dann mit den Kindern nach Luxemburg gereist. Seit April 2009 habe sie etwas mehr als die Hälfte des Jahres in Österreich verbracht, die restliche Zeit in Luxemburg. Der Lebensmittelpunkt von Mutter und Kindern liege aber nach wie vor in Österreich. Mit Ende der Karenzzeit der Mutter im Jänner 2011 hätte wieder der Vater nach Österreich pendeln sollen. Aufgrund dieser sich abzeichnenden Veränderung sei die Ehe seit geraumer Zeit nicht mehr harmonisch verlaufen. Dennoch habe der Vater die Kinder am 18. 4. 2011 vereinbarungsgemäß nach Österreich gebracht, wo sich die Mutter aus beruflichen Gründen bereits seit einigen Tagen aufgehalten habe. Am 30. 5. 2011 sei die Situation eskaliert. Während eines Krankenhausaufenthalts der Mutter habe der Vater die Kinder heimlich und gegen den Willen der Mutter mit all ihren Sachen zuerst nach Luxemburg und anschließend nach Belgien zu seinen dort lebenden Verwandten gebracht. Die Mutter sei am 4. 6. 2011 nach Belgien gereist. Nach einer vom Vater veranlassten polizeilichen Intervention und ergebnislosen Gesprächen sei es ihr mit Hilfe eines ständigen Vertreters der österreichischen Botschaft in Belgien gelungen, gemeinsam mit den Kindern in ein Frauenhaus zu flüchten. Die Kinder befänden sich seither in ihrer Obhut. Sie dürfe die Kinder jedoch nicht außer Landes bringen, um sich nicht einer „Rückentführung“ schuldig zu machen.

Das Erstgericht hielt mit Amtsvermerk vom 7. 6. 2011 den Inhalt eines Telefonats mit der Rechtsanwältin der Mutter fest, wonach diese mit den Kindern schon auf dem Weg nach Österreich sei. Noch am selben Tag teilte die Mutter mit Schriftsatz mit, dass sie sich mit den Kindern nun wieder in G***** aufhalte. Am 8. 6. 2011 zog sie den auf das HKÜ gestützten Rückführungsantrag zurück.

In der Folge stellte der Vater seinerseits einen Rückführungsantrag nach dem HKÜ, den er im Rahmen eines am 7. 7. 2011 vor dem Bezirksgericht Wiener Neustadt abgeschlossenen Vergleichs über das Besuchsrecht ebenfalls wieder zurückzog.

Das Erstgericht gab dem Provisorialantrag der Mutter ohne Durchführung eines weiteren Verfahrens statt, wobei es ihren Antragsbehauptungen folgte. Die Entscheidung über die endgültige Obsorgezuteilung behielt es weiteren Erhebungen vor.

Das Rekursgericht bestätigte den erstinstanzlichen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Zur internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts verwies das Rekursgericht auf die Brüssel IIa‑VO, nach deren Art 8 sich die allgemeine Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung bestimme. Daneben ermögliche Art 20 der VO die Inanspruchnahme von Eil‑ bzw Schutzzuständigkeiten eines Mitgliedstaats für einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen, selbst wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ausschließlich zuständig sei.

Unterstelle man zu Gunsten des Vaters ungeprüft die Richtigkeit des von ihm in seinem Rekurs ‑ als zulässige Neuerung ‑ umfangreich erstatteten Vorbringens, wonach die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Österreich, sondern in Luxemburg gehabt hätten, so ändere dies nichts an der internationalen Zuständigkeit österreichischer Gerichte gemäß Art 20 Brüssel IIa‑VO, weil sich die Kinder bereits in Österreich befunden hätten. Die Dringlichkeit der Maßnahme werde vom Vater nicht in Frage gestellt. Der geltend gemachte Nichtigkeitsgrund liege daher nicht vor.

Die sachliche Zuständigkeit des Erstgerichts ergebe sich aus § 104a JN iVm §§ 104 ff AußStrG, die örtliche Zuständigkeit aus § 109 JN. Die vorläufige Einräumung der Obsorge gemäß § 107 Abs 2 AußStrG stelle eine einstweilige Maßnahme iSd Art 20 Brüssel IIa‑VO dar.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass der Provisorialantrag der Mutter wegen (internationaler) Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts zurückgewiesen wird. Hilfsweise werden Aufhebungs- und Zurückverweisungsanträge gestellt.

Die Mutter beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil dem Rekursgericht bei der Prüfung der internationalen Zuständigkeit eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist. Er ist im Sinne des (ersten) Eventualantrags auch berechtigt.

Der Vater macht geltend, das Rekursgericht habe die Zuständigkeit des Erstgerichts zu Unrecht auf Art 20 Brüssel IIa‑VO gestützt. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung hätten sich die Kinder noch nicht in Österreich, sondern in Belgien befunden. In den letzten Jahren habe die Familie in Luxemburg gelebt. Die Mutter habe die Kinder aus Belgien nach Österreich entführt. Der (auch) den Rückführungsantrag erledigende Vergleich sei ausschließlich zum Wohle der Kinder abgeschlossen worden.

Hierzu wurde erwogen:

1. Nach neuerer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG bezeichneten Verfahrensmängel, also bestimmte Fälle der „Nichtigkeit“ des Verfahrens, auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint worden sind (RIS‑Justiz RS0121265). Dazu gehört auch der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit (§ 56 Abs 1 AußStrG; 5 Ob 173/09s; 1 Ob 44/11v). Es ist daher auf den im Revisionsrekurs inhaltlich abermals relevierten Einwand der internationalen Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte für die nur noch unter diesem Gesichtspunkt angefochtene vorläufige Regelung der Obsorge einzugehen.

2. Gemäß Art 8 Brüssel IIa‑VO (auch EuEheKindVO) sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dies gilt vorbehaltlich der Art 9, 10 und 12.

2.1 Art 9 Brüssel IIa‑VO betrifft die Zuständigkeit für die Änderung einer vor einem rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen ergangenen Umgangsregelung und ist hier nicht relevant.

2.2 Art 10 Brüssel IIa‑VO regelt die Zuständigkeit für Pflegschaftsverfahren in Fällen von Kindesentführung. Dabei gilt als Grundsatz, dass bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes die Gerichte jenes Mitgliedstaats zuständig bleiben, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und zwar so lange, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat. Letzterer Zuständigkeitstatbestand hängt allerdings von mehreren im Detail geregelten Voraussetzungen ab (vgl 1 Ob 104/08p; 5 Ob 173/09s). Ob eine Kindesentführung (Art 2 Z 11 Brüssel IIa‑VO) vorliegt, ist unabhängig von einem allfälligen Rückführungsverfahren zunächst als Vorfrage zu prüfen. Wird sie bejaht, hat sich das im Aufnahmestaat nach Art 8 Brüssel IIa‑VO angerufene Gericht für unzuständig zu erklären (Pesendorfer in Fasching/Konecny² V/2 Art 8 EuEheKindVO Rz 64; Kaller‑Pröll in Fasching/Konecny² V/2 Art 10 EuEheKindVO Rz 4).

2.3 Die Annexzuständigkeit nach Art 12 Brüssel IIa‑VO fordert neben weiteren Voraussetzungen die Anerkennung der Zuständigkeit des betreffenden Gerichts durch die Träger der elterlichen Verantwortung (vgl 5 Ob 173/09s). Diese hat „ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise“ zu erfolgen und liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Elternteil bereits bei einem anderen Gericht einen Antrag gestellt hat (vgl 2 Ob 272/05x [Art 3 Abs 2 Brüssel II‑VO]; Traar in Fasching/Konecny² V/2 Art 12 EuEheKindVO Rz 22 ff).

3. Art 20 Abs 1 Brüssel IIa‑VO sieht vor, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen können, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

3.1 Diese Bestimmung begründet keine eigene Zuständigkeit, sondern ermöglicht die Inanspruchnahme von (Eil‑ bzw Schutz‑)Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, auch wenn in der Hauptsache die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats ausschließlich zuständig sind (Nademleinsky/Neumayr, Internationales Familienrecht Rz 08.38; Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR Art 20 Brüssel IIa‑VO Rn 17; vgl auch Simotta in Fasching/Konecny² V/2 Art 20 EuEheKindVO Rz 22). In Österreich ergibt sich eine solche Zuständigkeit (mittelbar) aus Art 11 Abs 1 des am 1. 4. 2011 in Kraft getretenen Haager Übereinkommens vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ, BGBl III 2011/49), welches das nationale Recht insoweit verdrängt (vgl Nademleinsky/Neumayr aaO Rz 08.40; Rauscher aaO Art 20 Brüssel II‑VO Rn 18). Danach sind in dringenden Fällen die Behörden jedes Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind oder ihm gehörendes Vermögen befindet, zuständig, die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen. Die vorläufige Einräumung der Obsorge kommt grundsätzlich als einstweilige Maßnahme iSd Art 20 Brüssel IIa‑VO in Betracht (1 Ob 254/11a; Simotta aaO Rz 29).

3.2 Das Zuständigkeitssystem der Brüssel IIa‑VO wird durch deren Art 20 jedoch nicht verdrängt. Es kann daher auch jenes Gericht, bei dem die Hauptsache nach den Art 8 ff Brüssel IIa‑VO anhängig ist oder anhängig gemacht werden kann, Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes erlassen (Simotta aaO Art 20 EuEheKindVO Rz 12 und 15 ff; Rauscher aaO Art 20 Brüssel IIa‑VO Rz 17 und 25). Art 20 Brüssel IIa‑VO erfasst hingegen nur Maßnahmen von Gerichten, die hinsichtlich der elterlichen Verantwortung nicht nach einem der erwähnten Zuständigkeitstatbestände zuständig sind (EuGH 15. 7. 2010, C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rz 63 f).

4. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 2. 4. 2009, C‑523/07, Rz 47 = iFamZ 2009/135 = EF‑Z 2009/153, 236 [Nademleinsky] = LMK 2009, 282910 [Rauscher]; EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 39 ff; EuGH 15. 7. 2010, C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rz 77 = iFamZ 2010/213 = NJW 2010, 2861) müssen für die Anwendbarkeit des Art 20 Brüssel IIa‑VO drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein: Die betreffende Maßnahme muss dringend sein, sie muss in Bezug auf Personen getroffen werden, die sich in dem betreffenden Mitgliedstaat befinden, und sie muss vorübergehender Art sein.

Die im Revisionsrekurs primär angesprochene Rechtsfrage zielt auf einen Teilaspekt des zweiten dieser Kriterien ab. Sie wird im Schrifttum dahin beantwortet, dass sich die betroffenen Personen im Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme im Gerichtsstaat befinden müssen (Simotta aaO Rz 39; Spellenberg in Staudinger, BGB13 [2005] Art 20 EheGVO Rz 43; vgl auch Rauscher aaO Rz 22). Diese Voraussetzung läge hier vor.

5. Aus mehreren Gründen kommt die Anwendbarkeit des Art 20 Brüssel IIa‑VO ohne vorherige Prüfung der Zuständigkeit nach den Art 8 ff Brüssel IIa‑VO aber dennoch nicht in Betracht:

5.1 Die Mutter hat den Provisorialantrag beim Erstgericht gleichzeitig mit dem Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge auf sie eingebracht und sich dabei auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Österreich gestützt. Sie hat damit das Erstgericht mit ihren Anträgen gemäß Art 8 Brüssel IIa‑VO als Hauptsachegericht befasst, welches ‑ wie in Punkt 3.2 erörtert ‑ auch zur Erlassung einstweiliger Maßnahmen berufen ist. Das Erstgericht hat seine Zuständigkeit in der Hauptsache bisher nicht abgelehnt.

Zu dem vom Europäischen Gerichtshof betonten Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (Erwägungsgrund 21 der Verordnung) gehört es, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag hinsichtlich der elterlichen Verantwortung anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit anhand der Art 8 ff Brüssel IIa‑VO prüft und dass aus der Entscheidung dieses Gerichts klar hervorgeht, ob es sich den in dieser Verordnung vorgesehenen unmittelbar anwendbaren Zuständigkeitsvorschriften hat unterwerfen wollen oder nach diesen entschieden hat (EuGH 15. 7. 2010, C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rz 73). Ehe sich das Gericht auf Art 20 Brüssel IIa‑VO stützt, hat es daher zu prüfen, ob eine eigene Zuständigkeit nach den Art 8 ff besteht (vgl Rauscher aaO Art 20 Brüssel IIa‑VO Rz 16).

5.2 Läge ein Entführungsfall vor, wie dies hier der Vater behauptet, wäre die Zuständigkeit nach der speziellen Regelung des Art 10 Brüssel IIa‑VO zu prüfen (Punkt 2.2). Einstweilige Maßnahmen und Schutzmaßnahmen iSd Art 20 Brüssel IIa‑VO könnten zwar im Verbringungsmitgliedstaat erlassen werden, soweit sie aufgrund der bloßen Anwesenheit des Kindes notwendig sind, nicht jedoch durch Zuerkennung der einstweiligen Obsorge an den entführenden Elternteil (vgl 1 Ob 254/11a; EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 49; Kaller‑Pröll aaO Art 10 EuEheKindVO Rz 12). Art 20 Brüssel IIa‑VO kann nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Elternteil, der das Kind rechtswidrig verbracht hat oder es rechtswidrig zurückhält, als Mittel dafür diente, die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene tatsächliche Situation länger andauern zu lassen oder die Folgen dieses Handelns zu legitimieren (1 Ob 254/11a; EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 57).

5.3 Zur Voraussetzung der Dringlichkeit vertritt der Europäische Gerichtshof die Auffassung, dass sich dieser Begriff sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit bezieht, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist (EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 42; EuGH 15. 7. 2010, C‑256/09, Purrucker/Vallés Peréz, Rz 94; Simotta aaO Art 20 EuEheKindVO Rz 35). Wären ‑ wie dies das Rekursgericht unterstellte ‑ luxemburgische Gerichte in der Hauptsache zuständig, müsste für die Bejahung der Dringlichkeit daher auch geklärt werden, aus welchen Gründen die Mutter die Antragstellung in Luxemburg unterließ. Ist aber das österreichische Gericht Hauptsachegericht käme es auf die Voraussetzung der Dringlichkeit iSd Art 20 Brüssel IIa‑VO überhaupt nicht an (Simotta aaO Art 20 EuEheKindVO Rz 15). Bei Prüfung dieser Voraussetzung stellt sich somit jedenfalls die Vorfrage nach dem (potentiellen) Hauptsachegericht.

5.4 Mit der Begründung, Art 20 Brüssel IIa‑VO stelle eine Ausnahme von der durch die Verordnung geschaffenen Zuständigkeitsregelung dar, legt der Europäische Gerichtshof diese Bestimmung restriktiv aus (EuGH 23. 12. 2009, C‑403/09 PPU, Detiček/Sgueglia, Rz 38). In diesem Sinne betonte er in der soeben zitierten Rechtssache (Rz 50 ff), dass sich nicht nur das Kind, sondern auch beide Elternteile im Gerichtsstaat „befinden“ müssten, weil die einstweilige Maßnahme auch „in Bezug“ auf diese Personen erlassen wird (von diesem Verständnis ausgehend auch Simotta aaO Rz 40; ferner K. Binder, EuGH zur Reichweite einer Schutzmaßnahme iSv Art 20 Brüssel IIa‑VO, iFamZ 2010, 171 [173]; krit Miklau, Jahrbuch Zivilverfahrensrecht 2011, 165 [167]; Martiny, Kindesentführung, vorläufige Sorgerechtsregelung und einstweilige Maßnahmen nach der Brüssel IIa‑VO, FPR 2010, 493 [497]; vgl auch Rauscher aaO Rz 22). Der Gerichtshof erachtete diese Voraussetzung im damaligen Anlassfall als nicht gegeben, weil der Vater in einem anderen Mitgliedstaat wohnte und nichts darauf hindeutete, dass er sich in dem Mitgliedstaat aufhielt, dessen Gericht die Zuständigkeit nach Art 20 Brüssel IIa‑VO in Anspruch nahm (Rz 52).

6. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Prüfung der vom Rekursgericht offen gelassenen Frage, ob die internationale Zuständigkeit der österreichischen oder luxemburgischen Gerichte nach den Art 8 ff Brüssel IIa‑VO zu bejahen ist, als unerlässlich. Der Vater hat dazu in seinem Rekurs Tatsachenbehauptungen aufgestellt, die ‑ wie das Rekursgericht grundsätzlich zutreffend erkannte ‑ als zulässige Neuerungen zu berücksichtigen sind (§ 49 Abs 1 AußStrG).

Dies führt zur Aufhebung der Entscheidung des Rekursgerichts, das im fortgesetzten Rekursverfahren die versäumte Zuständigkeitsprüfung nachzuholen haben wird. Dabei wird auch zu beachten sein, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“, der in der Verordnung nicht definiert wird, entsprechend den Zielen und Zwecken der Brüssel IIa‑VO autonom auszulegen ist (vgl 5 Ob 194/10f = iFamZ 2011/88 [Fucik]; 6 Ob 26/12k; EuGH 2. 4. 2009, C‑523/07, Rz 44 = iFamZ 2009/135 = EF‑Z 2009/153, 236 [Nademleinsky] = LMK 2009, 282910 [Rauscher]; EuGH 22. 12. 2010, C‑497/10 PPU, Mercredi/Chaffe, Rz 56 = iFamZ 2011/87 [Fucik]). Falls allerdings die Anwendung der danach maßgeblichen Kriterien zu dem Ergebnis führen sollte, dass der gewöhnliche Aufenthalt nicht festgestellt werden kann, käme allenfalls auch die Bestimmung der Zuständigkeit anhand des Kriteriums der „Anwesenheit des Kindes“ nach Art 13 Brüssel IIa‑VO in Betracht (EuGH 2. 4. 2009, C‑523/07, Rz 43; EuGH 22. 12. 2010, C‑497/10 PPU, Mercredi/Chaffe, Rz 57; Pesendorfer aaO Art 13 EuEheKindVO Rz 5 ff; Rauscher aaO Art 13 Brüssel IIa‑VO Rz 9 f).

Schließlich wird das Rekursgericht dem Vater auch Gelegenheit zur Stellungnahme zu der mit der Revisionsrekursbeantwortung der Mutter vorgelegten Entscheidung des Bezirksgerichts Luxemburg vom 22. 9. 2011 („Einstweilige Verfügung im Scheidungsverfahren“) zu geben haben. Vor Klärung des genauen Verfahrensgegenstands, der maßgeblichen Verfahrensdaten und der Rechtskraft dieser Entscheidung ‑ all das geht aus der vorgelegten Urkunde nicht klar hervor ‑ ist ihre mögliche Bedeutung für die hier vorzunehmende Zuständigkeitsprüfung nicht beurteilbar.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 107 Abs 3 AußStrG, der den Kostenersatz in Verfahren über die Obsorge ausdrücklich ausschließt.

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