OGH 2Ob111/20t

OGH2Ob111/20t25.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Parzmayr und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M* A*, vertreten durch Dr. Dieter Brandstätter, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. T* S*, 2. F* Gesellschaft mbH & Co KG, *, und 3. W* Versicherung AG *, sämtliche vertreten durch Dr. Christian Fuchshuber, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 9.228,16 EUR sA, über die Revisionen der klagenden Partei und der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 31. Oktober 2019, GZ 2 R 57/19z‑14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 14. März 2019, GZ 26 C 1115/18z‑10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131459

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

I. Die Revision der beklagten Parteien wird zurückgewiesen.

II. Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

„1. Die Klagsforderung besteht mit 9.228,16 EUR zu Recht.

2. Die eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagten Parteien sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 9.228,16 EUR samt 4 % Zinsen seit 29. 10. 2018 binnen 14 Tagen zu bezahlen.“

III. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 9.072,09 EUR (darin enthalten 933,47 EUR USt und 3.471,25 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 19. 9. 2018 ereignete sich bei Dunkelheit im Ortsgebiet von Götzens in der Kirchstraße auf Höhe der Hausnummern 4 bis 6 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter seines PKW Audi und der Erstbeklagte als Lenker eines von der zweitbeklagten Partei gehaltenen und bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten LKW‑Sattelzugs beteiligt waren.

[2] Die Fahrbahn verläuft in Fahrtrichtung der Unfallfahrzeuge bei den auf der rechten Seite befindlichen Häusern Kirchstraße 2, 4 und 6 in einer leichten Linksbiegung. Sie ist etwa 5,9 m breit und wird durch eine Leitlinie in zwei gleich breite Fahrstreifen geteilt. Die Sichtweite beträgt zumindest 135 m. Beidseits der Fahrbahn sind Gehsteige mit erhöhten Randsteinen vorhanden. Auf Höhe des Hauses Kirchstraße 4 befindet sich ein ungeregelter Schutzweg. Der Kläger entschloss sich beim Haus Kirchstraße 2 vor Erreichen des Schutzwegs zum Überholen des vor ihm fahrenden „langsamen“ Sattelschleppers und wechselte auf die Gegenfahrbahn. Die Fahrgeschwindigkeit des Sattelzugs konnte nicht festgestellt werden. Da eine unbekannte Person aus einem Gasthaus im Haus Kirchstraße 6 zügig auf den Gehsteig trat und dem Gehsteigrand näher kam, bremste der Erstbeklagte und lenkte bei Annäherung an die Linksbiegung ein wenig nach links. Dadurch geriet der Sattelauflieger während des Überholvorgangs des Klägers um „mehr als 0,5 bis 1 m“ über die Leitlinie. Der Kläger reagierte, indem er nach links lenkte, hupte und aus etwa 50 bis 55 km/h bis zum Stillstand bremste. Die Leichtmetallfelgen des Klagsfahrzeugs schrammten dabei links an den Randsteinen des Gehsteigs entlang und die linke Seite des Sattelaufliegers streifte das Klagsfahrzeug rechts. Der Erstbeklagte hatte den überholenden PKW vor dem Hupen nicht bemerkt. Ab dem Hupen konnte er keine unfallverhindernde Reaktion mehr setzen. Am Klagsfahrzeug entstand ein Schaden, der einen Reparaturaufwand von 9.178,16 EUR erfordert. Der Kläger hatte unfallkausale Nebenspesen von 50 EUR zu tragen. Am Auflieger des Sattelzugs entstand ein Schaden mit einem Reparaturaufwand von netto 1.725,59 EUR.

[3] Der Kläger begehrte den Ersatz des Fahrzeugschadens und der unfallkausalen Nebenspesen. Er brachte vor, das Alleinverschulden am Verkehrsunfall treffe den Erstbeklagten, der ohne Anzeige dieses Fahrmanövers und ohne auf das erkennbar in Überholposition befindliche Klagsfahrzeug zu achten, grundlos in den von ihm befahrenen Fahrstreifen gelenkt habe.

[4] Die beklagten Parteienwendeten die Reparaturkosten des Beklagtenfahrzeugs als Gegenforderung ein und brachten vor, das Alleinverschulden am Verkehrsunfall treffe den Kläger. Dieser habe verbotenerweise auf dem Schutzweg überholt. Der Erstbeklagte habe hingegen leicht nach links ausweichen müssen, um eine aus dem Gasthaus kommende und am Gehsteigrand stehende Person nicht zu gefährden.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger habe sich fahrlässig in den Überholvorgang eingelassen. Hingegen sei das Verhalten des Erstbeklagten nicht zu beanstanden, der wegen der aus dem Gasthaus kommenden Person aus Vorsicht nach links gelenkt habe.

[6] Das Berufungsgerichtänderte das erstinstanzliche Urteil dahin ab, dass es die Klagsforderung mit 4.614,08 EUR und die Gegenforderung mit 862,80 EUR als zu Recht bestehend erkannte und dem Klagebegehren im Umfang von 3.751,28 EUR sA stattgab. Das Mehrbegehren von 5.476,88 EUR sA wies es ab. Es sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[7] Das Berufungsgericht erachtete eine Verschuldensteilung von 1 : 1 für gerechtfertigt. Der Kläger habe gegen das Überholverbot auf und unmittelbar vor Schutzwegen gemäß § 16 Abs 1 lit d StVO verstoßen. Der Erstbeklagte habe gegen das Rechtsfahrgebot des § 7 StVO verstoßen und entgegen § 11 Abs 1 StVO den Fahrstreifen teilweise gewechselt, ohne sich davon zu überzeugen, dass dies ohne Gefährdung anderer geschehen habe können. Anzeichen dafür, dass der Fußgänger deutlich alkoholisiert gewesen wäre oder sich angeschickt habe, die Fahrbahn zu betreten, seien nicht festgestellt worden. Dass jedoch ein Mensch zügig aus einem Haus auf einen Gehsteig trete und auch bis zu dessen Rand komme, sei für sich alleine keine rechtfertigende Situation, um vom Rechtsfahrgebot abzuweichen und über die Leitlinie zu geraten ohne sich zu vergewissern, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung Dritter geschehen könne.

[8] Auf Antrag der Streitteile ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision nachträglich zu. Es hielt die Rechtsfrage für erheblich, ob vom Schutzzweck des § 16 Abs 1 lit d StVO auch Reaktionen von im Bereich des Schutzwegs überholten Fahrzeuglenkern erfasst seien, die wegen eines die Fahrbahn überqueren wollenden Fußgängers teilweise fahrstreifenwechselnd nach links auslenkten. Ebenso sei die Rechtsfrage erheblich, ob einem Lenker das Ausscheren vorgeworfen werden könne, wenn bei sehr kurzer Beobachtungsmöglichkeit weder konkrete Anzeichen für noch gegen die Gefahr des Betretens der Fahrbahn durch einen auf dem Gehsteig befindlichen Fußgänger bestünden.

[9] Gegen den klagsabweisenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Abänderungsantrag, dem Klagebegehren zur Gänze stattzugeben; hilfsweise werden Aufhebungsanträge gestellt.

[10] Gegen den klagsstattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Parteien mit dem Abänderungsantrag, das Klagebegehren zur Gänze abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Streitteile beantragen in ihren jeweiligen Revisionsbeantwortungen, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

[12] Die Revision des Klägers ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Judikatur des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist. Sie ist auch berechtigt.

[13] Die Revision der beklagten Parteien ist – entgegen dem, den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts – nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

[14] I. Zur Revision der beklagten Parteien:

[15] Weder in der Zulassungsbegründung noch in der Revision der beklagten Parteien wird eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt:

[16] 1. Die Pflicht, sich von der Gefahrlosigkeit des beabsichtigten Fahrstreifenwechsels zu überzeugen, besteht unabhängig davon, ob sich die bei Bedachtnahme auf alle gegebenen Möglichkeiten in Betracht kommenden Verkehrsteilnehmer ihrerseits richtig verhalten oder nicht (RS0073714; vgl RS0125787 [Überholverbot]). Ein Kraftfahrer muss seine Geschwindigkeit vermindern und allenfalls anhalten, wenn ihn das Vorhandensein von Straßenbenützern daran hindert, den äußersten rechten Fahrbahnrand zu benützen (2 Ob 39/81 ZVR 1982/80).

[17] 2. Von jedem Kraftfahrer muss verlangt werden, dass er auch in (vermeintlich) gefährlichen Situationen in der Lage bleibt, maßhaltende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen, und zu überstürztem, allenfalls (sonst allgemein) gröblich verkehrswidrigem Verhalten ohne Schuldvorwurf erst dann Zuflucht nehmen darf, wenn die (vermeintliche) Gefahr für ihn plötzlich und überraschend auftritt und wenn mit dem Gelingen des Abwehrmanövers gerechnet werden muss (2 Ob 2153/96y = RS0105075; vgl RS0023292).Der Lenker eines Fahrzeugs, das auf die andere Fahrbahnseite geraten ist, hat zu beweisen, dass er unverschuldet daran gehindert war, dem Rechtsfahrgebot zu entsprechen; allfällige Unklarheiten gehen zu seinen Lasten (2 Ob 2423/96d; RS0027449 [T2]).

[18] 3. Im vorliegenden Fall steht weder fest, in welchem Abstand zur Fahrbahn sich der Fußgänger befand, noch dass er sich anschickte, diese trotz des herannahenden Beklagtenfahrzeugs zu überqueren oder dass er sich nach dem „zügigen“ Betreten des Gehsteigs sonst in bedenklicher Weise verhielt. Die Ansicht des Berufungsgerichts, das festgestellte Betreten des Gehsteigs durch den Fußgänger habe das Überfahren der Leitline durch den Erstbeklagten, ohne sich davon zu überzeugen, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung Dritter möglich sei, nicht rechtfertigen können, sodass den Erstbeklagten ein Verschulden am Zustandekommen des Verkehrsunfalls treffe, hält sich im Rahmen der erörterten Rechtsprechungsgrundsätze.

[19] 4. Da es somit der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO insoweit nicht bedarf, ist die Revision der beklagten Parteien zurückzuweisen.

[20] II. Zur Revision des Klägers:

[21] Der Kläger macht geltend, das Berufungsgericht sei von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Schutzzweck des § 16 Abs 1 lit d StVO abgewichen. Danach liege der Zweck dieses Überholverbots darin, die Gefährdung von Fußgängern beim Überqueren der Fahrbahn auf dem Schutzweg zu verhindern. Es diene jedoch nicht dem Schutz des überholten Fahrzeugs. Dem Kläger sei daher ein Verstoß gegen diese Bestimmung nicht vorzuwerfen.

[22] Hiezu wurde erwogen:

[23] 1. Schutzzweck des§ 16 Abs 1 lit d StVO:

[24] 1.1 Gemäß § 16 Abs 1 lit d StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs auf und unmittelbar vor Schutzwegen und Radfahrerüberfahrten nicht überholen, sofern der Verkehr in einem solchen Bereich nicht durch Arm- oder Lichtzeichen geregelt wird.

[25] 1.2 Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs liegt der Zweck des Überholverbots nach § 16 Abs 1 lit d StVO darin, eine Gefährdung der Fußgänger zu verhindern, die auf dem Schutzweg die Fahrbahn überqueren. Überholte, nach links abbiegende Fahrzeuge werden vom Schutzzweck der Bestimmung hingegen nicht erfasst (8 Ob 241/78 ZVR 1980/90; RS0074153; vgl Dittrich, Die Regierungsvorlage einer 3. Straßenverkehrsordnungs-Novelle, ZVR 1968, 281 [282]). Daraus ist abzuleiten, dass das Überholverbot des § 16 Abs 1 lit d StVO auch nicht dem Schutz eines während des Überholvorgangs den Fahrstreifen wechselnden Verkehrsteilnehmers dient.

[26] 2. Den Kläger trifft am Zustandekommen des Unfalls kein Mitverschulden:

[27] Eine Gefahr, die § 16 Abs 1 lit d StVO verhindern soll, hat sich nicht verwirklicht. Mangels „Mitverschuldenszusammenhangs“ (RS0132048) bleibt daher ein Verstoß des Klägers gegen § 16 Abs 1 lit d StVO bei der Verschuldensbeurteilung jedenfalls außer Betracht. Auch ein Verstoß gegen eines der in § 16 Abs 1 lit a bis c StVO normierten Überholverbote ist aufgrund der Feststellungen nicht erwiesen.

[28] 3. Die Revision des Klägers hat somit Erfolg. Die Entscheidung ist dahin abzuändern, dass die Klagsforderung als zu Recht bestehend, die Gegenforderung als nicht zu Recht bestehend erkannt und dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben wird.

[29] III. Kosten:

[30] Die Kostenentscheidung des erstinstanzlichen Verfahrens gründet sich auf § 41 Abs 1 ZPO, jene des Rechtsmittelverfahrens auf §§ 41 Abs 1 iVm 50 Abs 1 ZPO. Der Kläger hat auch auf die Unzulässigkeit der Revision der beklagten Parteien hingewiesen. Das Revisionsinteresse der beklagten Parteien beträgt jedoch lediglich 4.614,08 EUR.

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