OGH 1Ob20/21d

OGH1Ob20/21d2.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache des H*****, geboren am ***** 1966, *****, vertreten durch Mag. August Schulz, Rechtsanwalt in Wien,

über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 14. Dezember 2020, GZ 45 R 21/20a‑81, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 6. August 2019, GZ 16 P 203/19v‑2, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0010OB00020.21D.0302.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs

wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos behoben. Das Verfahren wird eingestellt.

 

Begründung:

[1] Das Erstgericht beauftragte den Erwachsenenschutzverein gemäß § 117a AußStrG mit der Abklärung iSd § 4a Erwachsenenschutzvereinsgesetz („ErwSchVG“) und begründete dies mit dem (knappen) Verweis auf den – nicht näher dargelegten – „Inhalt dreier Verfahrenshilfeanträge“, die der Betroffene beim Bezirksgericht für Handelssachen eingebracht hatte. Es handelte sich dabei um die erste Verfahrenshandlung des Pflegschaftsgerichts im Erwachsenenschutzverfahren.

[2] Dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs des Betroffenen gab das Rekursgericht nicht Folge.

[3] Es ergänzte den vom Erstgericht zugrundegelegten Sachverhalt insoweit, als es zum „Inhalt“ der vom Beklagten beim Bezirksgericht für Handelssachen Wien eingebrachten Verfahrenshilfeanträge feststellte, dass er die Verfahrenshilfe für die Beantragung (1) einer einstweiligen Verfügung gegen die „Post“ wegen „Unterlassung der Vorschreibung des Schreibgeräts zur Unterfertigung bei der Abholung von Schriftstücken sowie wegen Unterlassung der Verpflichtung zur Vorlage eines Ausweises bei der Abholung von Schriftstücken sowie wegen Unterlassung der Verweigerung der Ausgabe von Schriftstücken“ sowie (2) einer weiteren einstweiligen Verfügung „gegen einen Mitarbeiter des Verwaltungsgerichtshofs wegen Unterlassung der rechtsgrundlosen Erteilung eines Hausverbots“ und (3) zur Einleitung eines Exekutionsverfahrens aufgrund eines Bescheids der Datenschutzbehörde gegen eine Wirtschaftsprüfungs- & Steuerberatungsgesellschaft begehrte. Außerdem legte das Rekursgericht seiner Entscheidung zugrunde, dass der betroffene Antragsteller in vier Verfahren vor der Datenschutzbehörde, Partei in zwei Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie in mehreren Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist, er beim Verwaltungsgerichtshof Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Revision beantragt hat und mehrere Verfahren vor der Schlichtungsstelle sowie mietrechtliche Gerichtsverfahren führt und „während der letzten zwei bis drei Jahre eine ganze Reihe von Nc‑Verfahren anhängig gemacht hat“.

[4] Daraus schloss das Rekursgericht, dass beim Betroffenen „dem Anschein nach ein deutlich übersteigertes Bewusstsein, Recht zu haben und Recht bekommen zu wollen, vorliege, das ihn veranlasse, alle möglichen Verfahren anzustrengen, die Andere bei entsprechender Risikoabwägung nicht anhängig machen würden“. Vor allem die mietrechtlichen Gerichtsverfahren erschienen im Hinblick auf das damit verbundene Kostenersatzrisiko „problematisch“, weil beim Betroffenen „offenbar kein ausreichender finanzieller Spielraum vorliege, um dieses Risiko abzufangen“. Auch die Verfahrenshilfe schütze ihn nicht vor einer Kostenersatzpflicht gegenüber dem Prozessgegner.

[5] Die ordentliche „Revision“ (richtig: der ordentliche Revisionsrekurs) sei nicht zulässig, weil lediglich einzelfallbezogene Fragen zu beurteilen seien.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen ist entgegen diesem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch zulässig, weil den Vorinstanzen eine zu korrigierende Fehlbeurteilung unterlief; er ist auch berechtigt.

[7] 1. Wird kein formeller Beschluss auf Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens gefasst, dann ist der erste Beschluss des Gerichts, der seinen Willen, die Voraussetzungen der Bestellung eines Erwachsenenvertreters für die betroffene Person in dem dafür vorgesehenen Verfahren zu prüfen, unzweifelhaft erkennen lässt, als Beschluss auf Verfahrenseinleitung anzusehen (vgl RIS‑Justiz RS0008520; T4 zur Rechtslage nach dem 2. ErwSchG). Ein solcher Beschluss kann auch darin bestehen, dass das Gericht – wie hier – gemäß § 117a Abs 1 AußStrG den Erwachsenenschutzverein mit der Abklärung iSd § 4a ErwSchVG beauftragt (RS0008520 [T5]). Bei einem solchen verfahrenseinleitenden Beschluss handelt es sich um eine selbständig anfechtbare (verfahrensrechtliche) Entscheidung und nicht bloß um eine verfahrensleitende Verfügung gemäß § 45 AußStrG (vgl 4 Ob 215/18y mwN).

[8] 2. Wenngleich für die Einleitung des Erwachsenenschutzverfahrens keine konkreten Feststellungen zu psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen (§ 271 Z 1 ABGB idF des 2. ErwSchG: vergleichbaren Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit) des Betroffenen sowie zu seiner konkreten Gefährdung erforderlich sind (RS0126667), sondern die Möglichkeit ausreicht, dass es zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters kommen kann (vgl RS0008542; T3 zur Rechtslage nach dem 2. ErwSchG), so ist doch ein Mindestmaß an nachvollziehbarem Tatsachensubstrat notwendig, aus dem sich das Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters ergibt (RS0008542 [T1]; 7 Ob 62/16t; 8 Ob 92/19s). Diese Anhaltspunkte müssen begründet und konkret sein und sich sowohl auf die psychische Krankheit oder vergleichbare Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit als auch auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen beziehen (vgl RS0008526 [T1]). Es ist konkret festzustellen, in welchem Zusammenhang sich dieser in einer seinen Interessen objektiv zuwiderlaufenden Weise verhalten hat und/oder aufgrund welcher Umstände zu befürchten ist, er werde sich (auch) in Hinkunft Schaden zufügen (RS0008526 [T2, T4]). Dies gilt besonders nach der Rechtslage aufgrund des 2. ErwSchG, dessen erklärte Absicht es ist, dafür Sorge zu tragen, dass auch Personen mit eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit ihre Angelegenheiten möglichst selbständig besorgen können (1 Ob 195/19m). Schon die Verfahrenseinleitung erfordert also eine sorgfältige Abwägung zwischen der möglichen Schutzbedürftigkeit des Betroffenen und dem mit der Durchführung des Verfahrens verbundenen Eingriff in seine Persönlichkeitssphäre ( Schauer in Gitschtaler / Höllwerth ² § 117a AußStrG Rz 6).

[9] 3. Ein Interesse Dritter, der Allgemeinheit oder des Staats ist kein Grund zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters. Auch für einen sogenannten „Querulanten“ darf ein solcher nur bestellt werden, wenn er sich durch sein Verhalten – etwa eine kostenaufwendige, mutwillige oder offenbar aussichtslose Prozessführung – Schaden zufügen kann (vgl RS0072687 [T2]). Eine bloß potenzielle künftige Gefährdung reicht ebensowenig aus (RS0072687 [T3]) wie ein unschlüssiges, aber nicht absurdes Prozessvorbringen (RS0110325) oder ein solcher Verfahrenshilfsantrag, der wegen Aussichtslosigkeit gar nicht zu bewilligen ist und daher keine Kostenersatzpflicht auslösen kann. Als Indiz für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters erachtete der Oberste Gerichtshof etwa „Unbelehrbarkeit“ bzw fehlende Akzeptanz von Entscheidungen, das „Beharren auf eigenen Rechtspositionen“ sowie das ständige Wiederholen gleichartigen Vorbringens, wenn sich daraus die Möglichkeit einer Selbstschädigung (am Vermögen) ergibt (7 Ob 192/18p); ebenso eine „weit über das gewöhnliche Maß hinausgehende Uneinsichtigkeit“ (etwa) in Rechtsstreitigkeiten, sofern sich der Betroffene dadurch (Vermögens‑)Schäden zufügt (1 Ob 125/07z), oder wenn die Art und Weise einer gerichtlichen Rechtsverfolgung sonst die Gefahr nahelegt, dass sich die Partei dadurch Nachteile zufügt (vgl 3 Ob 230/14s).

[10] 4. Hier lässt weder der den Entscheidungen der Vorinstanzen zugrundegelegte Sachverhalt noch der (sonstige) Akteninhalt jenes Mindestmaß an Tatsachensubstrat erkennen, aus denen sich konkrete und begründete Anhaltspunkte für die Gefahr einer solchen Selbstschädigung ergeben. Warum dies durch die Beantragung von Verfahrenshilfe für die beabsichtigte Einleitung eines Exekutionsverfahrens indiziert sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Zur begehrten Verfahrenshilfe für die Beantragung einstweiliger Verfügungen gegen die „Post“ sowie einen „Mitarbeiter des Verwaltungsgerichtshofs“ (mit dem vom Rekursgericht festgestellten Inhalt) ist anzumerken, dass es sich beim Betroffenen um einen juristischen Laien handelt, sodass sich alleine aus dem von ihm formulierten (zugegebenermaßen fragwürdigen) Rechtsschutzbegehren – ohne Hinzutreten weiterer Umstände – noch keine begründeten und konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Erkrankung oder gleichwertigen Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit ergeben. Hinsichtlich der vom Betroffenen (sonst) geführten Gerichts‑ und Verwaltungsverfahren fehlt es an Feststellungen zu deren Inhalt sowie zum dortigen „Prozessverhalten“ des Betroffenen. Allein dass er Partei dieser Verfahren ist, lässt noch nicht begründet und konkret darauf schließen, dass die Voraussetzungen des § 271 Z 1 ABGB vorliegen könnten. Dafür müssten vielmehr weitere Umstände im Sinn der dargestellten Rechtsprechung hinzutreten, welche hier aber nicht feststehen.

[11] 5. Den (spärlichen) Feststellungen der Vorinstanzen kann auch nicht entnommen werden, ob der Betroffene in den von ihm geführten Gerichts- und Verwaltungsverfahren – aufgrund dort vertretener mutwilliger oder offenbar aussichtsloser Prozessstandpunkte – konkrete (Kosten‑)Nachteile befürchten muss. Soweit das Erwachsenenschutzverfahren aufgrund seiner Verfahrenshilfeanträge eingeleitet wurde, sind die Prozessaussichten gemäß § 61 Abs 1 Satz 1 ZPO bei der Entscheidung über diese Anträge ohnehin zu prüfen (vgl 3 Ob 94/07f). Dass die von ihm sonst geführten Gerichts‑ und Verwaltungsverfahren mangels jeglicher Erfolgsaussichten mit der immanenten Gefahr einer Selbstschädigung verbunden wären, kann den vom Rekursgericht zugrundegelegten Tatsachen nicht entnommen werden.

[12] 6. Da sich aus dem von den Vorinstanzen angenommenen Sachverhalt keine begründeten und konkreten Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Erwachsenenvertreters ableiten lassen, ist das Verfahren gemäß § 122 Abs 2 AußStrG einzustellen (vgl 4 Ob 215/18y).

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