OGH 9ObA87/20i

OGH9ObA87/20i24.2.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei J***** H*****, vertreten durch Celar Senoner Weber-Wilfert, Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei M***** GmbH & Co KG, *****, vertreten durch Korn Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 106.894,58 EUR brutto sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Teilzwischenurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 30. Juli 2020, GZ 8 Ra 33/20m‑39, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Teilurteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 15. Oktober 2019, GZ 13 Cga 82/18x‑35, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00087.20I.0224.000

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Das Berufungsurteil wird dahin abgeändert, dass das Teilurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war von 18. 1. 1992 bis 28. 2. 2018 als Expeditarbeiter der Beklagten beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde infolge Pensionierung des Klägers am 1. 5. 2018 beendet. Bis 30. 4. 2003 war er zu den im Ersturteil näher festgestellten Zeiten jeweils befristet, tageweise beschäftigt und von der Beklagten als „fallweise beschäftigte Person“ gemäß § 471b ASVG (in der bis 31. 12. 2018 geltenden Fassung) bei der Sozialversicherung angemeldet.

[2] Mit 2. 5. 2003 wurde der Kläger von der Beklagten mit einem unbefristeten Dienstvertrag „fix angestellt“. Ab diesem Zeitpunkt leistete die Beklagte für den Kläger Beiträge an die Mitarbeitervorsorgekasse. Dies war dem Kläger auch bekannt.

[3] Im Jahr 2012 machten mehrere Expeditmitarbeiter der Beklagten, die ebenso wie der Kläger bereits vor 2003 in einem Beschäftigungsverhältnis zur Beklagten gestanden waren, anlässlich der Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse Ansprüche auf Abfertigung geltend. Die Beklagte stand auf dem Standpunkt, diesen Mitarbeitern stünde keine Abfertigung „alt“ zu, weil sie vor 2003 in keinem durchgehenden Beschäftigungsverhältnis gestanden seien. In der Folge suchten die Beklagte und der Betriebsrat nach einer Gesamtlösung für alle von dieser Frage betroffenen Mitarbeiter. Diese wurde letztlich darin gefunden, dass Mitarbeiter, die bereits vor 2003 bei der Beklagten beschäftigt waren, 60 % des zum damaligen Zeitpunkt zustehenden Betrags der Abfertigung „alt“ erhalten sollten. Als Berechnungsgrundlage wurde der jeweilige Verdienst im Jahr 2011 herangezogen, weil dieser höher war als jener aus dem Jahr 2012. Der Betriebsrat war der Meinung, dies wäre für alle Mitarbeiter eine faire Lösung, weil so alle Stammaushelfer der Beklagten im Expedit einen Teil der Abfertigung bekommen würden, also auch jene, die unter Umständen gar keine Abfertigung bekämen, weil sie vor 2003 in keinem durchgehenden Arbeitsverhältnis bei der Beklagten gestanden seien. Diese Vereinbarung wurde inhaltsgleich für alle betroffenen Mitarbeiter ausgehandelt. Bis Ende April/Anfang Mai 2013 wurde weder von Seiten der Beklagten noch von Seiten des Betriebsrats Druck auf die betroffenen Mitarbeiter ausgeübt, diese Vereinbarung zu unterschreiben. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger die Vereinbarung bereits unterschrieben und den daraus resultierenden Vergleichsbetrag von 9.119,32 EUR brutto auf sein Konto überwiesen erhalten.

[4] Die zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung lautet auszugsweise wie folgt:

1. Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren – für strittige gesetzliche Abfertigungsansprüche für den Zeitraum vom 18. 01. 1992 bis 30. 04. 2003 – die Bezahlung einer Vergleichssumme in Höhe von € 9.119,32 brutto.

2. ...

3. Mit dieser Vereinbarung sind sämtliche wechselseitige Ansprüche und Verbindlichkeiten (insbesondere Ansprüche auf „Abfertigung alt“) für den in Punkt 1. angeführten Zeitraum einvernehmlich bereinigt und verglichen.“

[5] Der Kläger begehrt von der Beklagten insgesamt 106.894,58 EUR brutto sA, darin enthalten der revisionsverfangene Abfertigungsbetrag von restlich (Jahresentgelt unter Abzug der Vergleichszahlung und der ausgezahlten Vorsorgebeträge der Mitarbeitervorsorgekasse) 56.604,64 EUR. Dazu brachte der Kläger vor, dass er von 18. 1. 1992 bis zu seiner Pensionierung am 28. 2. 2018 durchgehend bei der Beklagten als Expeditarbeiter beschäftigt gewesen sei. Er habe daher Anspruch auf eine Abfertigung „alt“ in Höhe eines Jahresentgelts. Der Vergleich vom 21. 2. 2013 sei rechtsunwirksam, weil er unter unzulässigem Druck zustande gekommen sei. Dem Kläger sei schon aufgrund seiner sprachlichen Schwierigkeiten nicht klar gewesen, was er überhaupt unterzeichne. Selbst im Fall seiner Wirksamkeit beziehe sich der Vergleich ausschließlich auf Abfertigungsansprüche für den Zeitraum bis 30. 4. 2003. Ein formaler Übertritt in das Abfertigungssystem „neu“ sei nicht erfolgt. Weiters stellte der Kläger ein (nicht revisionsgegenständliches) Feststellungsbegehren.

[6] Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte zum Abfertigungsbegehren ein, dass der Kläger erst ab 2. 5. 2003 in einem durchgehenden unbefristeten Arbeitsverhältnis gestanden sei. Zuvor seien mit dem Kläger unregelmäßig jeweils tageweise zulässige befristete Arbeitsverhältnisse als fallweiser Beschäftigter iSd § 471b ASVG abgeschlossen worden. Seit 2. 5. 2003 befinde sich der Kläger im System der Abfertigung „neu“. Die entsprechenden Beiträge zur Mitarbeitervorsorgekasse seien von der Beklagten auch geleistet worden. Mit Zahlung des Vergleichsbetrags von 9.119,32 EUR laut der am 21. 2. 2013 zwischen den Parteien abgeschlossenen Vereinbarung seien sämtliche wechselseitigen Ansprüche und Verbindlichkeiten, insbesondere auf Abfertigung „alt“ endgültig bereinigt und verglichen worden. Auf den Kläger sei kein Druck ausgeübt worden, die mit dem Betriebsrat ausgehandelte Vereinbarung abzuschließen. Dem Kläger sei auch bewusst gewesen, welche Vereinbarung er abschließe.

[7] Das Erstgericht wies mit Teilurteil das Abfertigungsbegehren im Umfang von 56.604,64 EUR brutto sA ab. Die Entscheidungen über die übrigen Ansprüche behielt es sich vor. Die mit 21. 2. 2013 datierte Vereinbarung zwischen den Parteien sei wirksam zustande gekommen. Dem Kläger habe es weder an einem Erklärungswillen gemangelt noch sei auf ihn ein unzulässiger Druck ausgeübt worden. Mit der angesprochenen Vereinbarung sei ungeachtet des darin angeführten Zeitraums 18. 1. 1992 bis 30. 4. 2003 der Erklärungswille beider Parteien auf eine endgültige (General‑)Bereinigung sämtlicher Ansprüche auf Abfertigung „alt“ und nicht lediglich auf Teile davon gerichtet gewesen. Ein Vergleich über strittige Abfertigungsansprüche sei auch im aufrechten Arbeitsverhältnis zulässig.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und erkannte mit Teilzwischenurteil das Klagebegehren von 56.604,64 EUR brutto sA als dem Grunde nach zu Recht bestehend an. Der Vergleich über die im Jahr 2013 zwischen den Parteien strittigen und zweifelhaften Abfertigungsansprüche sei zwar zulässig gewesen und ohne Druck rechtswirksam zustande gekommen. Allerdings sei mangels festgestellter gegenteiliger Parteiabsicht der Vergleich nach seinem Wortlaut so auszulegen, dass damit nur Abfertigungsansprüche für den Zeitraum von 18. 1. 1992 bis 30. 4. 2003 abschließend bereinigt werden sollten. Abfertigungsansprüche für die Zeit nach 30. 4. 2003 seien zum Vergleichszeitpunkt zwischen den Parteien gar nicht strittig gewesen. Ein Übertritt in das System des BMVG sei mit Abschluss des unbefristeten Arbeitsverhältnisses nicht vereinbart worden. Die einzelnen Arbeitseinsätze des Klägers zwischen 18. 1. 1992 und 30. 4. 2003 seien als befristete Arbeitsverträge zu qualifizieren. Da der Kläger in dieser Zeit aber regelmäßig für die Beklagte tätig gewesen sei, sei das Arbeitsverhältnis insgesamt als durchgehendes, von 18. 1. 1992 bis 28. 2. 2018 bestehendes Arbeitsverhältnis zu werten. Der Anspruch des Klägers auf Abfertigung bestehe daher dem Grunde nach zu Recht. Feststellungen zur Höhe des Anspruchs fehlten derzeit noch.

[9] Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Berufungsentscheidung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils abzuändern.

[10] Der Kläger beantragt in seiner vom Senat freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision der Beklagten mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt.

[12] 1. Ein Vergleich (§ 1380 ABGB) ist die unter beiderseitigem Nachgeben einverständliche neue Festlegung strittiger oder zweifelhafter Rechte (RS0032681). Ein Recht ist dann strittig oder zweifelhaft, wenn die Parteien sich nicht darüber einigen können oder sich nicht im Klaren sind, ob oder in welchem Umfang es entstanden ist oder noch besteht (RS0032654 [T2]). Der Zweck eines Vergleichs liegt vor allem in der Bereinigung einer zweifelhaften Rechtslage und damit in der Vermeidung oder Beilegung von Rechtsstreitigkeiten (Nunner-Krautgasser, Ghahramani-Hofer in Reissner/Neumayr, ZellHB AV‑Klauseln2 Besonderer Teil, 78. Klausel 78.05).

[13] 2. Ein Arbeitnehmer kann sich auch über unverzichtbare Ansprüche wirksam vergleichen, wenn dadurch strittige oder zweifelhafte Ansprüche bereinigt werden (RS0029958 [T7]).

[14] 3. Ein Vergleich ist nach den §§ 914 f ABGB im Sinne der Vertrauenstheorie zu verstehen und so auszulegen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RS0014696 [T1]). Demnach ist bei der Auslegung von Vereinbarungen nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern ausgehend vom Wortlaut die Absicht der Parteien zu erforschen (RS0017915). Erst wenn eine Willensübereinstimmung der Parteien nicht feststellbar ist, kommt die Auslegung nach dem objektiven Erklärungswert, nach der redlichen Verkehrssitte in Betracht (RS0017811).

[15] 4. Im vorliegenden Fall wurde zwar ein übereinstimmender Parteiwille, der zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses (21. 2. 2013) auf eine generelle Bereinigung sämtlicher (die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses betreffender) Abfertigungsansprüche „alt“ gerichtet gewesen wäre, nicht festgestellt. Allerdings kann die Vereinbarung nach der Parteienabsicht und dem Vergleichszweck objektiv nur so verstanden werden, dass sich die Parteien damit nicht nur über Abfertigungsansprüche „alt“, die ausschließlich den Zeitraum vom 18. 1. 1992 bis 30. 4. 2003 betrafen, geeinigt haben, sondern die Vereinbarung sämtliche (die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses betreffende) Abfertigungsansprüche „alt“ betroffen hat. Zum Vergleichszeitpunkt war zwischen dem Kläger (und anderen Expeditmitarbeitern) und der Beklagten die Rechtsfrage strittig, ob die Beschäftigung des Klägers (und anderer Mitarbeiter) vor Abschluss des jeweils unbefristeten Arbeitsvertrags (unter Einbeziehung in die Mitarbeitervorsorgekasse) mit einem – von der Beendigungsart abhängigen – Anspruch auf Abfertigung „alt“ zu qualifizieren war oder es sich – so die damalige Rechtsauffassung der Beklagten – bei den tageweisen Beschäftigungen um zulässige, jeweils befristete Arbeitsverhältnisse ohne Anspruch auf Abfertigung gehandelt hat. Zwischen der Beklagten und deren Betriebsrat wurde eine – auch aus Sicht des Betriebsrats – faire Gesamtlösung dieser strittigen Frage ausgearbeitet, wodurch sämtliche Stammaushelfer der Beklagten im Expedit einen Teil der Abfertigung bekamen, also auch jene, die unter Umständen gar keine Abfertigung bekommen hätten, weil sie vor 2003 in keinem durchgehenden Arbeitsverhältnis bei der Beklagten gestanden seien. Dieser Vergleich verhalf auch dem Kläger bereits zum Vergleichszeitpunkt zu einem bestimmten Abfertigungsbetrag. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger nämlich unabhängig von der Frage der strittigen Qualifikation seiner fallweisen Beschäftigung vor dem 30. 4. 2003 noch gar keinen gesetzlichen Abfertigungsanspruch, weil sein – nach dem Standpunkt des Klägers seit 1992 durchgehendes – Arbeitsverhältnis bei der Beklagten zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses noch aufrecht war. Berücksichtigt man weiters, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses wusste, dass sein unbefristetes Arbeitsverhältnis seit 1. 5. 2003 dem BMVG unterlag, lag der objektiv erkennbare Zweck des Vergleichs darin, sämtliche Abfertigungsansprüche „alt“ endgültig zu bereinigen und damit künftige Streitigkeiten, die ihre Ursache in der Frage der rechtlichen Qualifikation des Beschäftigungsverhältnisses vor dem 30. 4. 2003 haben, zu vermeiden, nicht aber darin, dem Kläger eine – so die Revisionsbeantwortung – „Zwischenabfertigung“ zu zahlen.

[16] 5.  Zusammengefasst steht dem klagsgegenständlichen Abfertigungsanspruch des Klägers die Bereinigungswirkung des rechtswirksam abgeschlossenen Vergleichs vom 21. 2. 2013 entgegen.

[17] Der Revision der Beklagten war daher Folge zu geben. Das angefochtene Teilzwischenurteil des Berufungsgerichts war im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Teilurteils des Erstgerichts abzuändern.

[18] Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 392 Abs 2 iVm § 52 Abs 2 ZPO.

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