European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131119
Spruch:
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
I. Die Urteile der Vorinstanzen werden im Umfang der Abweisung eines Teilbetrags von 2.194,98 EUR samt 4 % Zinsen seit 9. 8. 2019 als Teilurteil bestätigt. Betreffend dieses Teilbegehrens wird die Kostenentscheidung der Endentscheidung vorbehalten.
II. Im übrigen Umfang einschließlich der Entscheidung über die Prozesskosten werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. In diesem Umfang wird dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen. Insoweit sind die Kosten des Revisionsverfahrens weitere Verfahrenskosten.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin hat bei der Beklagten einen fondsgebundenen Lebensversicherungsvertrag mit dem Versicherungsbeginn 1. 9. 2008 auf unbestimmte Zeit abgeschlossen und ihre Rechte daraus zur Kreditbesicherung an eine Bank abgetreten.
[2] Im Antrag wurde die Klägerin unter dem Titel „Erklärungen und Hinweise“ – oberhalb der geleisteten Unterschrift – (ua) folgendermaßen informiert:
„Rücktrittsrecht
Der Antragsteller kann innerhalb von 31 Tagen nach Zugang der Polizze schriftlich vom Vertrag zurücktreten. Es genügt, wenn die Rücktrittserklärung innerhalb des genannten Zeitraumes abgesendet wird.
Die einzelnen gesetzlichen Rücktrittsregelungen sind in den §§ 3 und 3a Konsumentenschutzgesetz sowie in den §§ 5b und 165a VersVG enthalten. Den Gesetzeswortlaut entnehmen Sie bitte der Homepage *. Wir senden Ihnen diese auf Wunsch auch kostenlos zu.“
[3] Die Klägerin hat für die Jahre 2008 bis 2019 die Jahresprämien von jeweils 5.022,58 EUR, insgesamt demnach 60.270,96 EUR, an die Beklagte bezahlt. Darin sind an Versicherungssteuer 2.194,98 EUR und an Risikokosten 105,66 EUR enthalten. Die Klägerin hat durch ihren Vertreter mit Schreiben vom 20. 12. 2018 den Rücktritt vom Versicherungsvertrag erklärt, weil eine der höchstgerichtlichen Judikatur entsprechende Rücktrittsbelehrung unterblieben sei. Die Bank hat der Klägerin die abgetretenen Ansprüche zwecks klagsweiser Geltendmachung des Vertragsrücktritts zum Inkasso (rück‑)abgetreten.
[4] Die Klägerin begehrte mit ihrer am 9. 8. 2019 eingebrachten Klage von der Beklagten wegen unrichtiger bzw unterbliebener Belehrung über ihre Rücktrittsrechte nach § 165a VersVG (aF) bzw § 5b VersVG (aF) infolge Rücktritts vom Versicherungsvertrag die Rückzahlung der geleisteten Prämien samt kapitalisierter Zinsen von zusammen 68.268,58 EUR sA sowie die Feststellung des erfolgten Vertragsrücktritts.
[5] Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren und wandte – soweit für das Revisionsverfahren wesentlich – ein, dass die Klägerin zutreffend belehrt worden sei und allfällige Belehrungsfehler die Ausübung eines Rücktrittsrechts nicht erschwert hätten, weshalb die Rücktrittsfrist längst abgelaufen sei. Selbst im Fall eines berechtigten Rücktritts müsse die Klägerin die Versicherungssteuer und die Risikokosten in Abzug bringen.
[6] Das Erstgericht wies alle Klagebegehren ab. Es führte rechtlich – zusammengefasst – aus, das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (aF) habe bereits mit dessen Kenntnisnahme seitens der Klägerin durch Zusendung der Polizze im Jahr 2009 zu laufen begonnen und sei daher längst verfristet. Die Geltendmachung des Rücktritts nach § 5b VersVG (aF) sei eine unzulässige Klagsänderung und auch materiell nicht berechtigt, weil die Klägerin im Antrag auf dieses Rücktrittsrecht hingewiesen worden und die Abrufbarkeit der Rücktrittsbelehrung auf einer Website ausreichend sei.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung derKlägerin nicht Folge. Es vertrat die Rechtsansicht, dass hinsichtlich § 165a VersVG (aF) die unrichtige Frist von 31 Tagen und das Schriftformerfordernis keine Fehler darstellten, die den Spätrücktritt rechtfertigten. Bei ausreichender Belehrung über ein grundloses Rücktrittsrecht sei eine zusätzliche Belehrung über ein weiteres, an bestimmte Gründe gebundenes Rücktrittsrecht, wie jenes nach § 5b VersVG (aF), dessen Geltendmachung im Rahmen einer Klagsänderung zulässig gewesen sei, nicht erforderlich. Die Begehren der Klägerin müssten daher erfolglos bleiben.
[8] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es liege noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung darüber vor, ob die Belehrung über ein ohne jeden Grund zustehendes und damit uneingeschränktes Rücktrittsrecht auch noch eine zusätzliche Belehrung über das weitere, allerdings an bestimmte Gründe gebundene und damit vergleichsweise eingeschränkte Rücktrittsrecht nach § 5b Abs 2 VersVG (aF) erfordere, um die Frist für das Erlöschen des Rücktrittsrechts nach § 5b Abs 5 VersVG (aF) auszulösen, oder ob unter Berücksichtigung jener Grundwertungen, nach denen ein Belehrungsfehler nach § 165a VersVG (aF) irrelevant sein könne, eine solche Belehrung auch für den Fristenlauf nach § 5b Abs 5 VersVG (aF) genüge.
[9] Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde. Hilfsweise stellt die Klägerin auch einen Aufhebungsantrag.
[10] Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und teilweise auch berechtigt.
[12] 1. Die Vorinstanzen sind übereinstimmend zum Ergebnis gelangt, dass der Klägerin kein Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG aF zusteht. Diese selbständige – im Übrigen zutreffende (7 Ob 16/20h; 7 Ob 20/20x [jeweils zur Frist von 31 Tagen]; RS0132997 [zum Schriftformerfordernis]) – rechtliche Beurteilung wird in der Revision nicht mehr angegriffen und ist daher der weiteren rechtlichen Beurteilung zugrundezulegen. Zu klären ist demnach nur mehr, ob der Klägerin (noch) das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF) zustehen könnte:
[13] 2.1. § 165a Abs 1 Satz 1 VersVG (aF) lautete in der für den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Fassung (BGBl I 2006/95):
„Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten.“
[14] 2.2. § 5b VersVG (aF) lautete in der für den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Fassung (BGBl I 2004/131):
„(1) Gibt der Versicherungsnehmer seine schriftliche Vertragserklärung dem Versicherer oder seinem Beauftragten persönlich ab, so hat dieser ihm unverzüglich eine Kopie dieser Vertragserklärung auszuhändigen.
(2) Der Versicherungsnehmer kann binnen zweier Wochen vom Vertrag zurücktreten, sofern er
1. entgegen Abs. 1 keine Kopie seiner Vertragserklärung erhalten hat,
2. die Versicherungsbedingungen einschließlich der Bestimmungen über die Festsetzung der Prämie, soweit diese nicht im Antrag bestimmt ist, und über vorgesehene Änderungen der Prämie nicht vor Abgabe seiner Vertragserklärung erhalten hat oder
3. die in den §§ 9a und 18b VAG und, sofern die Vermittlung durch einen Versicherungsvermittler in der Form „Versicherungsagent“ erfolgte, die in den §§ 137f Abs. 7 bis 8 und 137g GewO 1994 unter Beachtung des § 137h GewO 1994 vorgesehenen Mitteilungen nicht erhalten hat.
(3) Dem Versicherer obliegt der Beweis, daß die in Abs. 2 Z 1 und 2 angeführten Urkunden rechtzeitig ausgefolgt und die in Abs. 2 Z 3 angeführten Mitteilungspflichten rechtzeitig erfüllt worden sind.
(4) Die Frist zum Rücktritt nach Abs. 2 beginnt erst zu laufen, wenn die in Abs. 2 Z 3 angeführten Mitteilungspflichten erfüllt worden sind, dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Versicherungsbedingungen ausgefolgt worden sind und er über sein Rücktrittsrecht belehrt worden ist.
(5) Der Rücktritt bedarf zu seiner Rechtswirksamkeit der Schriftform; es genügt, wenn die Erklärung innerhalb der Frist abgesendet wird. Das Rücktrittsrecht erlischt spätestens einen Monat nach Zugang des Versicherungsscheins einschließlich einer Belehrung über das Rücktrittsrecht. Hat der Versicherer vorläufige Deckung gewährt, so gebührt ihm hiefür die ihrer Dauer entsprechende Prämie.
(6) Das Rücktrittsrecht gilt nicht, wenn die Vertragslaufzeit weniger als sechs Monate beträgt.“
[15] 2.3. Der Vergleich dieser Bestimmungen zeigt, dass nur das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF), nicht aber jenes nach § 165a Abs 1 VersVG (aF) an bestimmte inhaltliche Voraussetzungen geknüpft ist. Außerdem unterscheiden sich die genannten Rücktrittsrechte durch eine unterschiedliche Dauer der Rücktrittsfrist und einen unterschiedlichen Fristbeginn. Nach § 165a Abs 1 VersVG (aF) beginnt die Rücktrittsfrist mit der Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags und dauert 30 Tage. Nach § 5b Abs 4 VersVG (aF) beginnt die Rücktrittsfrist von zwei Wochen erst zu laufen, wenn näher bezeichnete Mitteilungspflichten erfüllt worden sind, dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Versicherungsbedingungen ausgefolgt worden sind und er über sein Rücktrittsrecht belehrt worden ist. Nach § 5b Abs 5 VersVG (aF) erlischt das Rücktrittsrecht spätestens einen Monat nach Zugang des Versicherungsscheins einschließlich einer Belehrung über das Rücktrittsrecht.
[16] 2.4. Aus dem wiedergegebenen Regelungszusammenhang folgt, dass das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF) – namentlich im Fall einer unterbliebenen Belehrung darüber – auch erst nach Ablauf der Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG (aF) enden kann. Die Belehrung nach § 165a Abs 1 VersVG (aF) kann daher jene nach § 5b VersVG (aF) nicht ersetzen und es sind beide Rücktrittsrechte gesondert zu beurteilen.
[17] 3. Das Rücktrittsrecht nach § 5b Abs 5 VersVG (aF) wäre spätestens einen Monat nach Zugang des Versicherungsscheins einschließlich einer Belehrung über das Rücktrittsrecht erloschen. Allerdings geben dieim Antrag unter dem Titel „Erklärungen und Hinweise“ enthaltenen Informationen das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF) nicht inhaltlich wieder, sondern bezeichnen nur die Gesetzesstelle und – ungenau – eine Internet-Fundstelle (Homepage). Solche Informationen sind qualitativ keine Belehrung des Versicherungsnehmers, sondern die bloße Aufforderung, sich selbst die einschlägigen Informationen zu beschaffen. Gleiches gilt für das Anbot auf Zustellung der Bestimmungen. Daraus folgt, dass besagter Hinweis keine gesetzmäßige Belehrung über das Rücktrittsrecht § 5b VersVG (aF) darstellte und daher das darauf gestützte Rücktrittsrecht noch nicht verfristet wäre. Die unterbliebene Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF) ist allerdings dann unschädlich, wenn der Versicherer ohnehin allen Informationspflichten nach § 5b Abs 2 VersVG (aF) entsprochen hat und dem Versicherungsnehmer deshalb kein Rücktrittsrecht zustünde. Für die Erfüllung seiner Informationspflichten trifft den Versicherer nach § 5b Abs 3 VersVG (aF) die Beweispflicht.
[18] 4. Die Vorinstanzen haben sich infolge abweichender Rechtsansicht mit den materiellen Voraussetzungen des Rücktrittsrechts nach § 5b Abs 2 VersVG (aF), also mit der Frage, ob die Beklagte ihren Informationspflichten nach § 5b Abs 2 VersVG (aF) entsprochen hat, nicht befasst und das Erstgericht hat dazu keine Feststellungen getroffen. Dies wird im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein.
[19] 5. Im Ergebnis folgt daher:
[20] 5.1. Die Rücktrittsrechte nach § 5b VersVG (aF) und § 165a VersVG beruhen auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und die jeweils maßgebliche Rücktrittsfrist knüpft an unterschiedliche Voraussetzungen und Zeitpunkte an. Beide Rücktrittsrechte sind daher gesondert zu beurteilen und die Belehrung über das Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG ersetzt nicht jene über das Rücktrittsrecht nach § 5b VersVG (aF).
[21] 5.2. Der bloße Hinweis auf eine Gesetzesstelle, der Verweis auf eine Homepage mit weitergehenden Informationen oder das Anbot auf Zustellung der Bestimmungen sind keine gesetzmäßige Rücktrittsbelehrung.
[22] 5.3. Sollte die Beklagte ihren Informationspflichten nach § 5b Abs 2 VersVG (aF) tatsächlich entsprochen haben, so ist die unterbliebene Belehrung über ein – in diesem Fall ohnehin nicht zustehendes – Rücktrittsrecht unschädlich, andernfalls wäre der Rücktritt der Klägerin berechtigt.
[23] 5.4. Sollte der Rücktritt der Klägerin berechtigt sein, führt dieser zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (vgl 7 Ob 19/20z; 7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 15/20m). Das bedeutet, dass die Klägerin grundsätzlich Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien hat (7 Ob 8/20g; 7 Ob 200/20t).
[24] 5.5. Soweit im Klagebegehren kapitalisierte Zinsen enthalten sind, gilt für diese grundsätzlich die 3‑jährige Verjährungsfrist. Bereits in mehreren Entscheidungen hat der erkennende Fachsenat diese Rechtsprechung auch für den Fall der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach einem (Spät‑)Rücktritt des Versicherungsnehmers von einem Lebensversicherungsvertrag ausdrücklich aufrechterhalten (7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 88/20x). Zinsen für länger zurückliegende Zeiträume könnte die Klägerin nur dann verlangen, wenn sie zu behaupten und zu beweisen vermag, dass das gewählte Produkt nicht ihren Bedürfnissen bei Vertragsabschluss entsprach und die kurze Verjährungsfrist der wirksamen Geltendmachung des Rücktritts entgegenstünde (dazu näher etwa7 Ob 10/20a; 7 Ob 11/20y; 7 Ob 88/20x). Diese zu § 165a VersVG (aF) entwickelten Grundsätze des Effektivitätsprinzips gelten gleichermaßen für den Rücktritt nach § 5b VersVG (aF).
[25] 5.6. Der Fachsenat hat bereits ausgesprochen und ausführlich begründet, dass im Fall eines (Spät‑)Rücktritts von einer fondsgebundenen Lebensversicherung das Verlustrisiko nicht dem vom Vertrag berechtigt zurückgetretenen Versicherungsnehmer zuzuweisen ist (7 Ob 117/20m). Die dafür maßgeblichen Erwägungen müssen auch für die Verwaltungskosten der Beklagten gelten, die sich in deren Vermögen realisiert haben und denen auf Seiten des Versicherungsnehmers keine zuordenbare Bereicherung gegenübersteht.
[26] 5.7. Die Versicherungssteuer kann die Klägerin auf bereicherungsrechtlicher Grundlage nicht vom Versicherer zurückfordern (7 Ob 105/20x), weshalb insoweit die klagsabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen als Teilurteil zu bestätigen waren. Der von der Beklagten begehrte Abzug der Risikokosten wird erforderlichenfalls als Einwand einer Gegenforderung zu werten (7 Ob 117/20m) und letztlich wird auch das Feststellungsbegehren neuerlich zu beurteilen sein.
[27] 5.8.Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO.
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