European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0020OB00091.20A.1014.000
Spruch:
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben, und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Mutter der Streitteile starb am 11. Februar 2017. Sie hinterließ neben ihrem Ehemann den Beklagten und zwei weitere gemeinsame Kinder sowie die vor der Ehe geborene Klägerin. Auch ihr inzwischen ebenfalls verstorbener Ehemann hatte zwei voreheliche Kinder. Die Ehegatten hatten sich in einem wechselseitigen Testament als Erben eingesetzt und verfügt, dass der Beklagte nach dem Zweitversterbenden erben sollte; die beiden anderen gemeinsamen Kinder hatten sie auf den Pflichtteil gesetzt. Die vor der Ehe geborenen Kinder, also auch die Klägerin, hatten auf den Pflichtteil gegenüber dem jeweiligen Elternteil verzichtet. Nach dem Tod der Eltern ist der Beklagte Erbe (auch) nach der Mutter. Die Klägerin macht gegen ihn den Pflichtteil geltend. Im Revisionsverfahren ist ausschließlich strittig, ob sie bei Abgabe ihres Pflichtteilsverzichts geschäftsfähig war.
[2] Die Klägerin hatte eine von ihrer Mutter veranlasste Abtreibung nicht verkraftet und schon Ende 2005 begonnen, Kokain, Heroin, Substitol und andere Ersatzdrogen zu nehmen und zu spritzen; 2008 nahm sie Kokain, Heroin, Substitol, Benzodiazipine, Somnubene sowie Praxiten und das Neuroleptikum Dominal. Anfang 2008 bat die Mutter die Klägerin, auf ihren Pflichtteil zu verzichten. Der Beklagte solle erben; sie wolle nicht, dass „alle“ auf ihn „losgingen“, wenn ihr und ihrem Mann etwas „passieren“ sollte. Sie würde die Klägerin immer unterstützen. Wenn sie den Pflichtteilsverzicht unterschreibe, würde sie eine Geldhilfe von 30.000 bis 50.000 EUR bekommen, wenn sie sich eine Eigentumswohnung oder eine Liegenschaft kaufen würde.
[3] Am 18. April 2008 verzichtete die Klägerin notariell auf den Pflichtteil. Eine Gegenleistung wurde im Notariatsakt nicht vereinbart. Der Notar erklärte der Klägerin die Bedeutung eines Pflichtteilsverzichts und hatte den Eindruck, dass sie dies verstand.
[4] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass der Pflichtteilsverzicht unwirksam sei, sowie Zahlung des Pflichtteils in der unstrittigen Höhe von 78.858,94 EUR; hilfsweise begehrt sie 50.000 EUR als beim Pflichtteilsverzicht vereinbarte Abschlagszahlung. Aufgrund ihrer Drogensucht habe sie sich bei Abgabe des Pflichtteilsverzichts in einem die Geschäftsfähigkeit ausschließenden Zustand befunden. Sie habe daher Anspruch auf den Pflichtteil. Bei Wirksamkeit des Pflichtteilsverzichts habe der Beklagte als Erbe die von der Mutter zugesagte Abschlagszahlung zu leisten.
[5] Der Beklagte bestreitet, dass die Klägerin bei Abschluss des Pflichtteilsverzichtsvertrags geschäftsunfähig gewesen sei. Hilfsweise beantragt er unter Hinweis auf seine Minderjährigkeit und die Notwendigkeit einer Liegenschaftsveräußerung eine Stundung des Pflichtteilsanspruchs bis zum 21. Februar 2023.
[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt, wobei es die Entrichtung des Pflichtteils antragsgemäß stundete.
[7] Es nahm als erwiesen an, dass die Klägerin im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an einer psychischen Erkrankung im Sinn einer Polytoxikomanie gelitten habe. Sie habe den Inhalt des Vertrags zwar „kognitiv [...] erfassen“ können, sei aber „über einen längeren Zeitraum, insbesondere in den Jahren 2004 bis 2010,“ nicht ausreichend in der Lage gewesen, ihre Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils (unter Berücksichtigung der Erfassung in der Zukunft liegender Konsequenzen) zu regeln. In diesem Zeitraum seien das Planungsvermögen, Durchhaltevermögen und die Einsicht in die Konsequenzen ihres Verhaltens im Rahmen der Persönlichkeitsproblematik und aufgrund des Drogenkonsums „herabgesetzt“ gewesen. Daraus folge „rechtlich“, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sei, die Konsequenzen ihres Handelns einzusehen. Ihr Pflichtteilsverzicht sei daher unwirksam. Die Entrichtung des Pflichtteils sei zu stunden, damit der Beklagte nicht übereilt Liegenschaften veräußern müsse.
[8] Das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab und ließ die ordentliche Revision nicht zu. Die Entscheidung über das Eventualbegehren behielt es dem Erstgericht vor.
[9] Die Klägerin sei in der Lage gewesen, den Inhalt des Vertrags „kognitiv“ zu erfassen. Sie habe daher verstanden, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter nichts erben würde. Die Wissenskomponente der Geschäftsfähigkeit sei damit zu bejahen. Aber auch die Wollenskomponente sei nach den Feststellungen nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt gewesen, das die Geschäftsfähigkeit ausgeschlossen hätte. Bloße Willensschwäche genüge insofern nicht. Es stehe nur fest, dass die Klägerin von 2004 bis 2010 nicht „ausreichend“ in der Lage gewesen sei, ihre Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils unter Berücksichtigung der Erfassung in der Zukunft liegender Konsequenzen zu regeln. Nur ihre Fähigkeit, in der Zukunft liegende Ereignisse zu planen und zu verstehen, sei aufgrund des Drogenkonsums „herabgesetzt“ gewesen. In der Zukunft sei hier aber (anders als bei einem Dauerschuldverhältnis) nur der Umstand gelegen, dass die Klägerin nach dem Tod der Mutter keinen Anspruch gegen die Verlassenschaft haben würde. Genau das habe die Klägerin aber kognitiv erfasst. Leitete man aus der Feststellung zum Planungsvermögen Geschäftsunfähigkeit der Klägerin ab, wären alle in die Zukunft wirkenden Rechtsgeschäfte während einer Dauer von sechs Jahren unwirksam. Für eine so weitreichende Folge reiche eine bloße Herabsetzung der Planungsfähigkeit nicht aus. Abgesehen davon sei das Planungsvermögen erfahrungsgemäß bei vielen Menschen – nicht nur bei drogenabhängigen – „herabgesetzt“.
[10] In ihrer außerordentlichen Revision macht die Klägerin geltend, dass Geschäftsunfähigkeit schon dann vorliege, wenn die betroffene Person nicht in der Lage sei, die Tragweite eines Geschäfts zu verstehen. Dies treffe hier nach den Feststellungen zu. Bei einem unentgeltlichen Pflichtteilsverzicht äußere sich die Nachteiligkeit erst in der fernen Zukunft, zu der ein an Polytoxikomanie leidender Mensch keinen Bezug habe.
[11] Der Beklagte beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben. Der Klägerin sei es nicht gelungen, den ihr obliegenden Beweis zu erbringen, dass ihre Willensfreiheit durch ihre Erkrankung vollständig aufgehoben gewesen sei.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die außerordentliche Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, weil die angefochtene Entscheidung auf widersprüchlichen Feststellungen des Erstgerichts beruht. Sie ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
[13] 1. Da die Wirksamkeit eines im Jahr 2008 abgegebenen Pflichtteilsverzichts zu beurteilen ist, sind die Regelungen des 2. Erwachsenenschutz-Gesetzes nach § 1503 Abs 9 Z 1 und 4 ABGB noch nicht anzuwenden. Dies gilt insbesondere für die neu gefassten §§ 24 und 865 ABGB. Maßgebend ist daher die Rechtslage vor Inkrafttreten des 2. Erwachsenenschutz-Gesetzes:
[14] 1.1. Nach der Rechtsprechung zu § 865 ABGB aF war nur derjenige im konkreten Fall geschäftsfähig, der die Tragweite und Auswirkungen seines Handelns abschätzen und dieser Einsicht gemäß disponieren konnte (RS0009075 [T8]; 6 Ob 44/13h; 2 Ob 38/17b). Partielle Geschäftsunfähigkeit war daher anzunehmen, wenn eine psychisch beeinträchtigte Person nicht in der Lage war, die Tragweite und die Auswirkungen eines konkreten Rechtsgeschäfts abzuschätzen oder dieser Einsicht gemäß zu disponieren. Dies war nach – wenngleich älteren – Entscheidungen anzunehmen, wenn ein Zustand vorlag, der die Bestellung eines Sachwalters gerechtfertigt hätte, weil die betroffene Person nicht in der Lage war, eine bestimmte Angelegenheit ohne Gefahr eines Nachteils für sich zu besorgen (7 Ob 534/85; 3 Ob 535/89).
[15] 1.2. In 6 Ob 44/13h führte der Oberste Gerichtshof – in Abgrenzung zu allenfalls missverständlichen Formulierungen in älteren Entscheidungen – aus, dass partielle Geschäftsunfähigkeit nur dann vorliege, wenn der Betroffene unfähig sei, die Tragweite eines bestimmten Geschäfts einzusehen; die Freiheit zur Willensentschließung dürfe nicht bloß „tangiert“, sondern müsse tatsächlich „aufgehoben“ sein (RS0014626 [T2]). Dem ist die Rechtsprechung seither gefolgt (9 Ob 45/15f; 9 Ob 91/16x; 4 Ob 28/19z). Die Bezugnahme auf die Freiheit der „Willensentschließung“ macht dabei deutlich, dass ungeachtet der zunächst nur das kognitive Element erfassenden Formulierung („Tragweite einzusehen“) auch ein Ausschluss der Fähigkeit, entsprechend dieser Einsicht zu disponieren, zu Geschäftsunfähigkeit führt.
[16] 2. Auf dieser Grundlage kann die Wirksamkeit des hier strittigen Pflichtteilsverzichts nicht abschließend beurteilt werden.
[17] 2.1. Das Erstgericht hat einerseits festgestellt, dass die Klägerin aufgrund ihrer Krankheit nicht ausreichend in der Lage war, ihre Angelegenheiten unter Berücksichtigung der in der Zukunft liegenden Konsequenzen ohne Gefahr eines Nachteils zu regeln; weiters ging es – wenngleich disloziert in der rechtlichen Beurteilung – davon aus, dass die Klägerin die Konsequenzen ihres Handelns nicht einsehen konnte. Auch die letztgenannte Formulierung ist dem Tatsachenbereich zuzuordnen, sie spricht ebenso wie die Bezugnahme auf die Voraussetzungen einer Sachwalterbestellung für Geschäftsunfähigkeit. Andererseits soll die Klägerin in der Lage gewesen sein, den Inhalt des Vertrags „kognitiv“ zu erfassen, und das Erstgericht nahm (nur) als erwiesen an, dass ihr Planungs- und Durchhaltevermögen und die Einsicht in die Konsequenzen ihres Verhaltens „herabgesetzt“ (also wohl nicht ausgeschlossen) gewesen seien. Die Feststellungen sind daher widersprüchlich.
[18] 2.2. Ein grundlegender Mangel der Feststellungen liegt zudem in ihrem weitgehend allgemeinen Charakter. Es kommt nicht darauf an, ob die Klägerin „ihre Angelegenheiten“ ohne Gefahr für sich besorgen konnte und wie ihr Planungs- und Durchhaltevermögen „über einen längeren Zeitraum“ beschaffen war. Entscheidend ist, wie sich ihre Krankheit auf die Einsichts- und Dispositionsfähigkeit im konkreten Fall ausgewirkt hat, ob sie also die Konsequenzen des gegen eine vage Zusicherung abgegebenen Pflichtteilsverzichts einschätzen und dieser Einsicht gemäß handeln konnte. Dabei wird insbesondere zu beachten sein, dass der Pflichtteilsverzicht für die Klägerin keine unmittelbar spürbaren Auswirkungen hatte und der Umfang des ihr dadurch entgehenden Pflichtteils der Natur der Sache nach unsicher sein musste. Ein krankheitsbedingter Ausschluss der Fähigkeit zu zukunftsbezogener Planung wäre daher von besonderer Bedeutung.
[19] 3. Diese Erwägungen führen zur Aufhebung in die erste Instanz. Das Erstgericht wird widerspruchfreie Feststellungen – gegebenenfalls auch Negativfeststellungen – zur oben (Punkt 2.2.) dargestellten Frage zu treffen haben. Ob dafür eine Ergänzung des Verfahrens erforderlich ist, bleibt der Beurteilung der Vorinstanzen überlassen. Die Beweislast für die Geschäftsunfähigkeit liegt bei der Klägerin (RS0014645 [T1]).
[20] 4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 Abs 1 Satz 3 ZPO.
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