OGH 7Ob146/20a

OGH7Ob146/20a16.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I***** L*****, vertreten durch Dr. Friedrich Helml, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei M***** Aktiengesellschaft, *****, vertreten durch  Christandl Rechtsanwalt GmbH in Graz, wegen 7.132,08 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 4. Mai 2020, GZ 5 R 22/20x‑15, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 29. Oktober 2018, GZ 206 C 95/18v‑10, abgeändert wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00146.20A.0916.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

I. Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass hinsichtlich des Zuspruchs der Hauptforderung das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird, sodass es als Teilurteil lautet:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen Betrag von 7.132,08 EUR binnen 14 Tagen zu zahlen.

2. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.“

II. Im Übrigen, sohin im Umfang des Zinsenbegehrens, werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben.

Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin schloss mit der Beklagten einen Vertrag über eine „Pensionsversicherung mit Prämienrückgewähr mit Gewinnbeteiligung“ mit Versicherungsbeginn 1. 10. 2008 und einer Vertragsdauer von 17 Jahren. Im Antragsformular der Beklagten fand sich unter der Überschrift „8. Rücktritts‑ und Kündigungsrechte des Versicherungsnehmers“ folgender Text:

Sie können unter folgenden Voraussetzungen zurücktreten bzw diesen kündigen:

[...]

Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG

Sie können binnen zweier Wochen nach Zustandekommen des Vertrages von diesem zurücktreten.

[...]“

Die der Klägerin von der Beklagten übermittelte Polizze enthielt folgende Belehrung:

„Rücktrittsrechte des Versicherungsnehmers

[...]

Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG:

Sie sind berechtigt, binnen 30 Tagen nach Verständigung vom Zustandekommen des Vertrages von diesem zurückzutreten.

[...]“

Mit Schreiben vom 10. 1. 2018 erklärte die Klägerin den Rücktritt vom Versicherungsvertrag mit der Begründung, dass die Rücktrittsbelehrung im Versicherungsvertrag nicht ordnungsgemäß bzw unvollständig und mangelhaft sei. Die Klägerin hat bisher Prämien in Höhe von 7.132,08 EUR bezahlt.

Die Klägerin begehrte die Rückzahlung der geleisteten Prämien in Höhe von 7.132,08 EUR zuzüglich gestaffelter Zinsen. Aus der fehlerhaften Belehrung nach § 165a VersVG folge ein unbefristetes Rücktrittsrecht.

Die Beklagte wandte – soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse – ein, die Klägerin sei über ihr Rücktrittsrecht gemäß § 165a VersVG adäquat und vollständig belehrt worden. Sie sei schriftlich darüber informiert worden, dass sie binnen 30 Tagen nach Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurücktreten könne. Allfällige fehlerhafte Belehrungen seien geheilt und saniert, weil die Klägerin zumindest seit 2016 Kenntnis vom Themenfeld einer vermeintlich problematischen Rücktrittserklärung gehabt habe. Das Zinsenbegehren sei verjährt.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. § 165a Abs 1 VersVG in der anzuwendenden Fassung habe ein Rücktrittsrecht von 30 Tagen ab Zustandekommen des Vertrags vorgesehen. Aufgrund der fehlerhaften Belehrung über Beginn und Dauer des Rücktrittsrechts zum relevanten Zeitpunkt der Antragstellung stehe der Klägerin dieses unbefristet zu; der Rücktritt sei mit 10. 1. 2018 rechtswirksam erfolgt. Die Klägerin habe daher einen bereicherungsrechtlichen Anspruch auf Rückzahlung aller Leistungen (Prämienzahlungen und Kosten samt gesetzlicher Zinsen). Die Verjährung – auch für die Vergütungszinsen – beginne erst ab dem Zeitpunkt des Rücktritts zu laufen.

Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil im klagsabweisenden Sinn ab. Zwar sei eine richtige Belehrung der Klägerin vor Abgabe ihrer Vertragserklärung „im Antragsformular“ nicht erfolgt. Anlässlich der späteren Übermittlung der Polizze sei die Klägerin sodann aber korrekt über das Rücktrittsrecht gemäß § 165a VersVG informiert worden. Somit habe jedenfalls mit dem Zeitpunkt des Zugangs der Polizze an die Klägerin die Rücktrittsfrist zu laufen begonnen. Der verspätet erklärte Rücktritt sei unwirksam.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dazu vorliege, welche Folgen es habe, wenn die korrekte Information des Versicherungsnehmers über das Rücktrittsrecht nicht schon vor dessen Antragstellung, sondern erst mit dem Zugang der Polizze erfolge.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Klägerin mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.

1.1 Die Klägerin brachte selbst vor, dass der Lebensversicherungsvertrag mit Beginn 1. 10. 2008 abgeschlossen worden sei. Im Zusammenhang mit dem weiteren unstrittigen Sachverhalt, wonach die Klägerin den Antrag am 22. 9. 2008 unterfertigte, ihre Prämienzahlungen mit Beginn des Versicherungsverhältnisses vornahm und die Übermittlung der Polizze an die Klägerin feststeht, stellt die Vorgangsweise des Berufungsgerichts, den Zugang der Polizze zeitnah zum Zeitpunkt des Versicherungsbeginns als unstrittig anzunehmen, den von der Klägerin geltend gemachten Nichtigkeitsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs jedenfalls nicht dar.

1.2 Bei den Ausführungen, dass die Rücktrittsfrist mit dem Zugang der in der Polizze enthaltenen – richtigen – Belehrung begonnen habe, handelt es sich um die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts auf Grundlage des festgestellten Sachverhalts und um keine Überschreitung des Rechtsmittelantrags.

2.1.1 Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF BGBl I 2006/95) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach dem Zustandekommen des Vertrages von diesem zurückzutreten. ...“

2.1.2 Der bei Vertragsabschluss geltende § 9a Abs 1 VAG (idF BGBl I 2007/56) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Versicherungsvertrages über ein im Inland gelegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

...

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.

...“

3.1 Die Belehrung im Antragsformular enthielt eine unrichtige Rücktrittsfrist von 14 Tagen. Die der Klägerin übermittelte Polizze wich insoweit vom Antrag ab, als sie die richtige Frist von 30 Tagen vorsah.

3.2 Der Senat hat von den Entscheidungen des EuGH 19. 12. 2013, C‑209/12, Endress, und 10. 4. 2008, C‑412/06 Hamilton, ausgehend ausgesprochen, dass aufgrund einer fehlerhaften Belehrung über die Dauer der Rücktrittsfrist bei richtlinienkonformer Auslegung des § 165a Abs 2 VersVG dem Versicherungsnehmer ein unbefristetes Rücktrittsrecht zusteht (7 Ob 107/15h = RS0130376; 7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y).

Sowohl aus der Struktur als auch aus dem Wortlaut der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen folgt, dass damit sichergestellt werden soll, dass der Versicherungsnehmer insbesondere über sein Rücktrittsrecht genau belehrt wird. Wenn ein Versicherungsnehmer daher nicht oder zumindest nicht ausreichend belehrt worden ist, steht dies dem Beginn des Fristenlaufs entgegen und führt damit zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht (7 Ob 107/15h, 7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y).

3.3 Auch wenn die später in der Polizze erfolgte Belehrung die richtige Rücktrittsfrist vorsah, so unterblieb doch eine Klarstellung, dass die erst kurz davor erfolgte Belehrung im Antragsformular unrichtig und gegenstandslos sei. Die Klägerin wurde damit über ihre Rücktrittsmöglichkeit insofern fehlerhaft und irreführend belehrt, als ihr im engen zeitlichen Konnex zwei unterschiedliche Fristen für den Rücktritt genannt wurden (vgl auch 7 Ob 20/20x). Dies war geeignet, sie zwischen dem 15. und dem 30. Tag nach Vertragsabschluss zur irrigen Auffassung zu verleiten, dass das Rücktrittsrecht bereits abgelaufen sei und sie damit vom eigentlich noch zulässigen Rücktritt abzuhalten. Damit wurde der Klägerin die Möglichkeit genommen, ihr Rücktrittsrecht unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG hat daher im vorliegenden Fall mangels korrekter Belehrung nicht mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem die Klägerin davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Vertrag geschlossen wurde. Die hier vorliegende irreführende Belehrung steht dem Beginn des Fristenlaufs entgegen und führt zu einem unbefristeten Rücktrittsrecht.

3.4 Der Oberste Gerichtshof hat ausgehend von der Entscheidung des EuGH 19. 12. 2019, C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, Rust‑Hackner, (ua) auch bereits dazu Stellung genommen, dass die Rücktrittsfrist dann nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherungsnehmer auf anderem Weg – also nicht durch Belehrung seitens des Versicherers – von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis erlangt (7 Ob 15/20m). Vorbringen dahingehend, dass die Beklagte ihrer im August 2017 der Klägerin/ihrem Rechtsvertreter übermittelten E‑Mail als Anhang Kopien des Antrags und der Polizze angeschlossen habe, wurde im erstgerichtlichen Verfahren von der Beklagten ebenso wenig behauptet, wie der Umstand, dass dieser Zugang die Rücktrittsfrist (nachträglich) ausgelöst haben soll. Ein weiteres Eingehen darauf ist hier entbehrlich.

4. Der Rücktritt führt zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrags (7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y, 7 Ob 19/20z). Die Bestimmung des § 1435 ABGB räumt einen Rückforderungsanspruch ein, wenn der zunächst vorhandene rechtliche Grund – wie etwa bei einem Rücktritt – wegfällt. Der Wegfall des Vertrags beseitigt bei beiden Parteien den Rechtsgrund für das Behalten der empfangenen Leistungen (7 Ob 15/20m mwN).

Das bedeutet, dass die Klägerin aufgrund der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung nach wirksamem Rücktritt Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Prämien hat.

5.1 Der Oberste Gerichtshof hat auch bereits mehrfach (7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y) ausgesprochen: Im Grundsatz steht das Unionsrecht einer Verjährung des Anspruchs auf die Vergütungszinsen binnen drei Jahren nicht entgegen, wenn dies die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich anerkannten Rücktrittsrechts selbst nicht beeinträchtigt. Der EuGH hob deutlich hervor, dass das Rücktrittsrecht nicht dazu dient, dass der Versicherungsnehmer eine höhere Rendite erhalten oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen spekulieren kann. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine solche Verjährung des Anspruchs auf Vergütungszinsen geeignet ist, die Wirksamkeit des dem Versicherungsnehmer unionsrechtlich zuerkannten Rücktrittsrechts selbst zu beeinträchtigen, zumal Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietenden Versicherern große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können. Wenn unter diesen Umständen die Tatsache, dass die für mehr als drei Jahre fälligen Zinsen verjährt sind, dazu führen sollte, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht nicht ausübt, obwohl der Vertrag seinen Bedürfnissen nicht entspricht, wäre eine solche Verjährung geeignet, das Rücktrittsrecht zu beeinträchtigen. Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.

5.2 Diese Aspekte waren bislang nicht Gegenstand des Verfahrens und wurden nicht mit den Parteien erörtert. Es ist daher den Parteien Gelegenheit zu geben, Vorbringen zu erstatten, und es ist im Weiteren zu klären und festzustellen, ob der Vertrag im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses den Bedürfnissen der Klägerin entsprach, und ob und inwiefern sie durch die Verjährung binnen drei Jahren gehindert worden ist, ihr Rücktrittsrecht geltend zu machen. Nur wenn der Vertrag im konkreten Einzelfall nicht den Bedürfnissen der Klägerin entsprach und sie durch die Verjährung am Rücktritt gehindert wurde, wird die dreijährige Verjährungsfrist nicht anzuwenden sein.

5.3 Im Umfang des Zinsenbegehrens waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Dabei wird zu beachten sein, dass die grundsätzlich anzuwendende dreijährige Verjährungsfrist im Zeitpunkt der objektiven Möglichkeit der Rechtsausübung, das heißt mit der Zahlung der Prämie beginnt. Mehr als drei Jahre rückständige Vergütungszinsen berechnet von dem Tag der Klagseinbringung sind daher verjährt (7 Ob 10/20a, 7 Ob 11/20y). Werden fällige Zinsen eingeklagt, können mangels gesonderter Vereinbarung Zinseszinsen nicht vor dem Tage der Klagsbehändigung gefordert werden (§ 1000 Abs 2 ABGB; RS0083307).

6. Insgesamt ist daher der Revision Folge zu geben und im Umfang der Hauptforderung das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Hinsichtlich des Zinsenbegehrens ist mit der erwähnten Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und der Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht vorzugehen.

7. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf die §§ 52 Abs 2, 392 Abs 2 ZPO.

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