European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E129617
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird in seinem Ausspruch über die Unzulässigkeit der Verabreichung der Medikamente Temesta und Psychopax dahingehend abgeändert, dass es zu lautet hat:
„Der Antrag des Vereins, dass die Verabreichung der Einmalmedikationen Temesta am 15. 11. 2019 und Psychopax am 31. 10. 2019 als freiheitsbeschränkende Maßnahmen festgestellt und für unzulässig erklärt werden, wird abgewiesen.“
Begründung:
Die Bewohnerin wohnt in einem Pflegeheim, einer Einrichtung im Sinn des § 2 Abs 1 HeimAufG. Sie leidet an einer Anpassungsstörung, mittelgradiger seniler Demenz und Unruhezuständen im Rahmen einer fortgeschrittenen Demenz.
Am 31. 10. 2019 fuhr die Bewohnerin den ganzen Nachmittag rastlos im Wohnbereich umher, Mimik und Körperhaltung waren stark angespannt, auf Ansprache bohrte sie der Pflegekraftdie Faust in den Bauch, begann mit der Zeitung auf diese einzuschlagen und sie zu beschimpfen. Sie konnte nur durch kurzfristiges Festhalten ihrer Arme gestoppt werden. Sie war getrieben und leidend. Um 16:30 Uhr erhielt sie als Einmalmedikation zehn Tropfen Psychopax. Ab ca 17:00 Uhr war sie nicht mehr so getrieben und ruhiger.
Am 4. 11. 2019 war die Bewohnerin bereits am Abend sehr aktiv, fuhr mit ihrem Rollstuhl im Wohnraum umher. Sie erhielt „Nacht med“ und wurde zu Bett gebracht. Am 5.11.2019, ab 4:00 Uhr saß die Bewohnerin mehrmals quer im Bett, versuchte aufzustehen, alarmierte den Sensor und wurde um 4:30 Uhr in den Rollwagen mobilisiert. Ab Dienstübergabe war sie sehr getrieben und versuchte mehrmals den Wohnbereich zu verlassen. Um 7:25 Uhr erhielt sie eine halbe Tablette Temesta 2,5 mg exp verabreicht. Daraufhin wurde sie müde und schlief von 8:45 Uhr bis 16:00 Uhr.
Die Behandlung organisch bedingter psychomotorischer Unruhezustände erfolgt lege artis mit hochpotenten Neuroleptika (zB Risperidon). Bei Auftreten von starker Erregung und Unruhe auch mit Benzodiazepinen.
Mit Benzodiazepinen – wie Temesta und Psychopax – werden Angstzustände, Spannungszustände und Unruhezustände behandelt. Der Fokus liegt nicht auf der Einschränkung der Bewegung, sondern der Behandlung der psychomotorischen Unruhe. Die medikamentöse Behandlung eines Erregungszustands bezweckt die Lösung der Anspannung, die Verbesserung der Zugänglichkeit sowie die Linderung des Leidensdrucks des Patienten und führt in der Folge auch dazu, dass ein „Bewegungsdrang“, der ungerichtet, basierend auf verzerrter Realitätsverarbeitung und nicht im Sinne einer freien Willensbildung zum Ortswechsel entsteht – mitunter unterbleibt. Der therapeutische Zweck der Gabe von Benzodiazepinen dient der Verbesserung krankheitsimmanenter Erregungs‑ und Unruhezuständen. Das Medikament wurde der Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt.
Die Gabe von 10 Tropfen Psychopax am 31. 10. 2019 erfolgte mit dem Ziel der Linderung des Anspannungs‑ und Erregungszustands und war zur Abwehr der Gefahr von Selbst‑ oder Fremdgefährdung sowohl in Dauer und Intensität wie auch im Verhältnis angemessen. Die Einzelfallmedikation 1/2 Temesta exp 2,5 mg am 5. 11. 2019 erfolgte lege artis zur Behandlung eines Erregungs‑ und Unruhezustands im Rahmen eines deliranten Zustandsbildes bei schwerer Demenz. Die konkrete Wirkung war eine Linderung der Anspannung und eine Beruhigung der Bewohnerin. Zu den Gaben von Psychopax und Temesta gab es keine anderen Maßnahmen, die nicht oder weniger in die Freiheitsrechte der Bewohnerin eingegriffen hätten.
Der Verein beantragte – soweit im Revisionsrekursverfahren noch von Relevanz – gemäß § 19a HeimAufG die Überprüfung der Freiheitsbeschränkungen der Bewohnerin durch die Einzelfallmedikationen 10 Tropfen Psychopax am 31. 10. 2019 und 1/2 Temesta exp 2,5 mg am 5. 11. 2019. Die Verabreichung ruhigstellender Arzneimittel stelle eine Freiheitsbeschränkung dar, die nicht gemeldet worden sei.
Der Einrichtungsleiter führte aus, dass die beiden Einmalmedikationen anlassbezogen, richtig und notwendig gewesen seien.
Das Erstgericht stellte fest, dass die Verabreichung der bezeichneten Medikamente eine Freiheitsbeschränkung darstelle. Auch eine therapeutisch indizierte medikamentöse Behandlung sei als Freiheitsbeschränkung zu beurteilen, wenn sie primär der Unterbindung von Unruhezuständen und der Beruhigung, also zur „Ruhigstellung“ (gegen Aggression, Enthemmung, Agitiertheit, Unruhe, Wandertrieb, etc) der Bewohnerin diene. Es genüge für das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung, wenn es sich bei der Unterbindung des Bewegungsdrangs bzw der Ruhigstellung um eines von mehreren Therapiezielen handle, wenn das Medikament auch dann eingesetzt werde, um dem aus der psychischen Erkrankung resultierenden Bewegungsüberschuss zu begegnen. Die medikamentösen Freiheitsbeschränkungen seien bereits formell für unzulässig zu erklären, weil keine rechtzeitige Verständigung gemäß § 7 Abs 2 HeimAufG erfolgt sei.
Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Eine Freiheitsbeschränkung sei eine medikamentöse Maßnahme, die die Unterbindung oder das Dämpfen des Bewegungsdrangs des Bewohners bezwecke. Für das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung genüge es, wenn das Medikament – zumindest auch – dazu eingesetzt werde, dem aus der psychischen Erkrankung resultierenden Bewegungsüberschuss zu begegnen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Verein begehrt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.
1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes dann vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Androhung unterbunden wird (vgl RS0075871 [T6, T19]).
2. Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel liegt dann vor, wenn die Behandlung unmittelbar, also primär, die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele, namentlich bei der Behandlung der Grunderkrankung, ergeben können (RS0121227; vgl 7 Ob 205/16x). Die Beurteilung, ob unter diesem Gesichtspunkt eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, erfordert Feststellungen darüber, 1. welchen therapeutischen Zweck die Anwendung jedes einzelnen der zu überprüfenden Medikamente verfolgt, 2. ob die Medikamente (insbesondere in der dem Bewohner verabreichten Dosierung und Kombination) dieser Zweckbestimmung entsprechend eingesetzt wurden und werden und 3. welche konkrete Wirkung für den Bewohner mit dem Einsatz der Medikamente verbunden war und ist (RS0123875).
3. Die Frage, ob eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel auch dann vorliegt, wenn über den therapeutischen Zweck hinaus auch eine Bewegungsdämpfung intendiert wird, stellt sich hier nicht.
3.1 Tatsächlich steht nämlich nicht fest, dass die in Frage stehenden Medikamente auch mit dem Zweck verabreicht wurden, den Bewegungsdrang der Bewohnerin zu unterbinden. Aus dem Gesamtzusammenhang der erstgerichtlichen Feststellungen ergibt sich vielmehr, dass die bei der Bewohnerin im Rahmen eines deliranten Zustandsbildes bei schwerer Depression bestehenden Erregungs‑ und Unruhezustände einen Leidensdruck aufbauten. Die medikamentöse Behandlung bezweckte die Lösung der Anspannung, die Verbesserung der Zugänglichkeit sowie die Linderung des Leidensdrucks; der Fokus lag gerade nicht auf der Einschränkung der Bewegung, sondern der Behandlung einer psychomotorischen Unruhe, die Ausfluss der Grunderkrankung ist. Aus diesen Feststellungen folgt, dass die mit den beiden Medikamenten verbundene Sedierung nicht Ziel und Zweck der Medikation der Bewohnerin war, sondern lediglich eine Nebenwirkung (3 Ob 176/10v).
4. Damit lag im Sinn der bestehenden oberstgerichtlichen Judikatur keine Freiheitsbeschränkung nach § 3 Abs 1 HeimAufG vor, sodass dem Revisionsrekurs des Einrichtungsleiters Folge zu geben war.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)