European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0060NC00029.19W.1127.000
Spruch:
Der Vizepräsident des Oberlandesgerichts Innsbruck Dr. W***** und die Richterinnen des Oberlandesgerichts Innsbruck Dr. B***** sowie Dr. E***** sind im Verfahren AZ 8 Nc 17/19y des Oberlandesgerichts Innsbruck über die Befangenheitsanzeigen sämtlicher Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck und der übrigen Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck nicht befangen.
Begründung:
Der Kläger nimmt beim Landesgericht Innsbruck die Beklagte im Rahmen einer „Sammelklage österreichischer Prägung“ im Zusammenhang mit behaupteten Abgasmanipulationen an von der Beklagten in Verkehr gebrachten Kraftfahrzeugen in Anspruch. Insgesamt traten 741 Personen in diesem Zusammenhang ihre Ansprüche an den Kläger ab, darunter auch der Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck Mag. R*****; diese abgetretenen Ansprüche sind Gegenstand des Verfahrens.
Mit Beschluss vom 30. 8. 2019 unterbrach das Landesgericht Innsbruck das Verfahren bis zur Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Zuständigkeitsstreit zu AZ 4 Ob 119/19g, wogegen der Kläger Rekurs an das Oberlandesgericht Innsbruck erhob. Dieses Rekursverfahren ist zu AZ 3 R 67/19f des Oberlandesgerichts Innsbruck anhängig.
Am 28. 10. 2019 legte der Präsident des Oberlandesgerichts Innsbruck den Akt dem Obersten Gerichtshof gemäß § 23 JN mit der Mitteilung vor, dass der Vizepräsident, sämtliche Senatspräsidenten und sämtliche Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck ihre Befangenheit angezeigt hätten; damit könne ein vorschriftsmäßig besetzter Ablehnungssenat – auch bei Änderung der Geschäftsverteilung – nicht zusammentreten. Das Verfahren zur Entscheidung über diese Befangenheitsanzeigen ist zu AZ 8 Nc 17/19y des Oberlandesgerichts Innsbruck anhängig.
Rechtliche Beurteilung
1. Ein Richter ist nach § 19 Z 2 JN befangen, wenn bei objektiver Betrachtung ein zureichender Grund vorliegt, seine Unbefangenheit in Zweifel zu ziehen, wenn also eine Hemmung zu unparteiischer Entscheidung durch sachfremde psychologische Motive gegeben ist. Für die Annahme des Vorliegens einer Befangenheit genügt nach ständiger Rechtsprechung, dass bei objektiver Betrachtungsweise auch nur der äußere Anschein der Voreingenommenheit des zur Entscheidung berufenen Richters entstehen könnte (RS0046052 [T2, T10]; RS0045949 [T2, T6]), selbst wenn dieser tatsächlich unbefangen sein sollte (RS0045949 [T5]). Dabei ist im Interesse des Ansehens der Justiz ein strenger Maßstab anzulegen (RS0045949). In Betracht kommen insbesondere persönliche Beziehungen zu einer Prozesspartei (2 Nc 32/18f; 2 Nc 15/18f; 2 Nc 36/19w).
Ebenso entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass im Allgemeinen ein Befangenheitsgrund anzunehmen ist, wenn ein Richter selbst seine Befangenheit anzeigt (RS0046053).
2. Diese Grundsätze hat die Rechtsprechung jedoch schon mehrfach präzisiert:
2.1. In der Entscheidung 8 Nc 34/16a (ecolex 2017/184 [Schett]) hat der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass letzterer Rechtssatz in seiner Allgemeinheit zu relativieren ist. Äußere der Richter lediglich Bedenken wegen des möglichen Anscheins einer Voreingenommenheit, so handle es sich nur um eine eigene rechtliche Beurteilung zu den bekannt gegebenen Gründen. Aber auch dann, wenn der betroffene Richter seine subjektive Voreingenommenheit, also Zweifel daran äußert, eine von unsachlichen Motiven unbeeinflusste Entscheidung treffen zu können, führe dies nicht gleichermaßen automatisch zur Feststellung der Befangenheit. Zwar sei die Bekanntgabe einer subjektiven Befangenheit ein gewichtiges Indiz in diese Richtung. Der Befangenheitssenat habe aber dennoch eine Prüfung dahin vorzunehmen, ob die in der Befangenheitsanzeige geltend gemachten Umstände ihrer Natur nach überhaupt geeignet sind, Befangenheit zu begründen, bzw ob eine betroffene Partei bei objektivem Verständnis der Meinung sein kann, dass sich die Befangenheitsanzeige und die darin angeführten Umstände nachteilig auf die Entscheidungsfindung auswirken können.
2.2. In der Entscheidung 2 Nc 36/19w hielt der Oberste Gerichtshof fest, dass allein der Umstand, dass ein Richter Kunde eines in einem Massengeschäft tätigen Unternehmens ist und denselben Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterliegt wie alle anderen Kunden auch, ohne dass spezifische zusätzliche Umstände vorliegen, keinen Grund für den Anschein einer Befangenheit bilde, auch wenn dieses Unternehmen eine Verfahrenspartei sei. Dem schließt sich der erkennende Senat mit der Maßgabe an, dass dabei allerdings danach zu differenzieren ist, ob der Richter lediglich abstrakt von der zu treffenden Entscheidung betroffen ist – etwa weil er allenfalls geringere Mahnkosten bezahlen muss (6 Ob 233/15f) oder die Rechnung weiterhin per Post erhält (4 Ob 141/11f) – oder ob er sich (wie im Fall der Entscheidung 8 Nc 34/16a) in einer bestehenden Auseinandersetzung auf eine von ihm maßgeblich beeinflusste Entscheidung berufen kann (so auch Schett, ecolex 2017/184 [Entscheidungsanmerkung]) oder sonst Nahebeziehungen zu dem Unternehmen bestehen (vgl 1 N 506/01).
2.3. Schließlich hielt der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 4 Ob 186/11y fest, dass bei Selbstmeldung des Richters eine Befangenheit nicht gegeben sei, wenn etwa die Anzeige einer Befangenheit missbräuchlich erfolge oder wenn die angegebenen Umstände ihrer Natur nach nicht geeignet seien, eine Befangenheit zu begründen. Missbrauch könnte dabei etwa dann vorliegen, wenn Hinweise dafür bestehen, dass sich der Richter die Arbeit der Entscheidung ersparen möchte (so auch Schett, ecolex 2017/184 [Entscheidungsanmerkung]; allgemein Ballon in Fasching/Konecny I³ [2013] § 19 JN Rz 8 mit weiteren Nachweisen aus der Literatur; Mayr in Rechberger/Klicka, ZPO5 [2019] § 19 JN Rz 5).
3. Im vorliegenden Fall haben sich die im Spruch genannten Richterinnen des Oberlandesgerichts Innsbruck für befangen erklärt und dies mit einem „kollegialen Verhältnis“ zu Mag. R***** begründet; man sei per Du. Der Vizepräsident des Oberlandesgerichts Innsbruck führte aus, er sei mit Mag. R***** „kollegial bekannt“ und übe die Dienstaufsicht aus, im Übrigen sei man gemeinsam im Außensenat des Oberlandesgerichts Innsbruck tätig. Anders als andere Senatspräsidenten und Richter des Oberlandesgerichts Innsbruck gaben die Genannten keine „freundschaftliche Verbundenheit“ bzw ein „kollegial-freundschaftliches Verhältnis“ mit Mag. R***** an; auch „gemeinsame Ausflüge“ (Dr. U*****, Dr. M*****) bzw „außergerichtliche Aktivitäten“ (Dr. G*****) wurden von ihnen nicht erwähnt.
3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vermag das Bestehen eines kollegialen Verhältnisses der Richter des zur Entscheidung berufenen Gerichtshofs zu einem abgelehnten Richterkollegen allein dessen Befangenheit nicht zu begründen, weil der Gesetzgeber selbst in § 23 JN die Entscheidungspflicht des Gerichtshofs, welchem der abgelehnte Richter angehört, normiert und damit das Vorliegen eines kollegialen Verhältnisses nicht als entscheidungshindernd ansieht (8 Ob 3/95; 8 Nd 1/95; RS0108696).
3.2. Im Zusammenhang mit der Anzeige einer Befangenheit infolge eines kollegialen Verhältnisses durch den Richter selbst betonte die Entscheidung 7 Ob 121/98i, dass diese Rechtsprechung nur Fälle erfasse, in denen sich die abgelehnten Richter selbst nicht für befangen erachtet hatten. Begründen jedoch Richter ihre Befangenheitserklärung mit dem kollegialen Verhältnis zum beklagten Kollegen, so stelle sich die Sachlage anders dar, weil im Allgemeinen ein Befangenheitsgrund anzunehmen sei, wenn ein Richter selbst seine Befangenheit anzeigt (vgl auch RS0046129, wonach insbesondere bei größeren Gerichten der Umstand, dass ein nicht demselben Senat angehörender Kollege durch ein anhängiges Verfahren involviert sein könnte, für sich allein nicht ausreicht, die Befangenheit aller anderen Mitglieder dieses Gerichts auch dann anzunehmen, wenn sie darlegen, mangels weiterer als beruflicher Kontakte mit diesem Kollegen nicht befangen zu sein).
Dem vermag sich der erkennende Senat in dieser Allgemeinheit im Hinblick auf die unter 2. dargestellten, in der jüngeren Rechtsprechung herausgearbeiteten Ausnahmefälle nicht anzuschließen. Vielmehr hat auch bei Bekanntgabe einer subjektiven Befangenheit der Befangenheitssenat eine Prüfung dahin vorzunehmen, ob die in der Befangenheitsanzeige geltend gemachten Umstände ihrer Natur nach überhaupt geeignet sind, Befangenheit zu begründen (8 Nc 34/16a):
3.2.1. Sowohl der Vizepräsident als auch die beiden Richterinnen haben ihre Befangenheitserklärung auf rein dienstliche Umstände gestützt; der Gesetzgeber selbst sieht aber das Vorliegen eines kollegialen Verhältnisses nicht als entscheidungshindernd an (§ 23 JN; RS0108696).
3.2.2. Bei dem dem gegenständlichen Verfahren über die Befangenheitsanzeigen zugrunde liegenden Verfahren des Landesgerichts Innsbruck handelt es sich um ein Verfahren, in dem die Ansprüche von 741 (!) Personen zu prüfen sind, die sich gegenüber der Beklagten letztlich auf denselben Klagsgrund (Abgasmanipulationen) berufen. Es handelt sich deshalb im Sinn der Ausführungen zu 2.2. um ein Massenverfahren.
3.2.3. Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung 8 Nc 34/16a darauf hingewiesen, dass einem Richter – selbst wenn er seine Befangenheit angezeigt hat – zugesonnen werden muss und ihm auch von der Allgemeinheit zugesonnen wird, dass er in einem Massenverfahren in der Lage ist, trotzdem eine objektive und von unsachlichen Überlegungen freie Entscheidung zu treffen. In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte ein Richter des Obersten Gerichtshofs seine subjektive Befangenheit mit der Begründung angezeigt, er stehe mit seiner Bank in einer außergerichtlichen Auseinandersetzung hinsichtlich ihm verrechneter Bearbeitungsgebühren, sollte aber in dem beim Obersten Gerichtshof behängenden Fall über die Gültigkeit einer Klausel betreffend Bearbeitungsgebühren in Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer anderen Bank entscheiden. Dem gegenüber geht es im vorliegenden Fall nicht einmal um (allfällige) eigene Interessen jener, die ihre Befangenheit aus kollegialen Gründen angezeigt haben, sondern lediglich um die Interessen eines Kollegen.
3.2.4. Die Überlegung, dass Richter in einem Massenverfahren in der Lage sein müssen, trotz einer gewissen (allfälligen) persönlichen Betroffenheit eine objektive und von unsachlichen Überlegungen freie Entscheidung zu treffen, hat gerade für Mitglieder höherer Instanzgerichte zu gelten, könnte es doch sonst – bei unreflektierter Annahme einer Befangenheit – allzu leicht zu einer Selbstausschaltung des betreffenden Gerichtshofs, im Extremfall (konkret beim Obersten Gerichtshof) zu einer Selbstlähmung der Gerichtsbarkeit kommen. Dieser erhöhte Verantwortungsmaßstab trifft aber jedenfalls auch die Mitglieder der vier Oberlandesgerichte.
3.2.5. Schließlich ist auch noch der Umstand zu bedenken, dass eine unreflektierte Annahme einer Befangenheit sämtlicher Mitglieder eines Gerichts(‑hofs) in einem Massenverfahren zu einer ungerechtfertigten Belastungsverschiebung zu einem anderen Gericht(‑shof) führen würde. Eine solche Vorgehensweise könnte allzu leicht als missbräuchlich verstanden werden (2.3.).
4. Da es aufgrund der derzeit gegebenen Verfahrenskonstellation ausreicht, die Unbefangenheit von (lediglich) drei Richtern des Oberlandesgerichts Innsbruck festzustellen, um diesem die Möglichkeit zu geben, über die von den nach der Geschäftsverteilung an sich zur Erledigung des Rekurses des Klägers zuständigen Senatspräsidenten und Richtern geltend gemachten Befangenheiten zu entscheiden, bedurfte es einer Auseinandersetzung des Obersten Gerichtshofs mit jenen Befangenheitsanzeigen nicht, die „kollegial freundschaftliche Verhältnisse“ geltend machten. Lediglich der Vollständigkeit halber sei aber in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung 9 Nc 39/12b verwiesen, wonach regelmäßig allein in einem – oft aufgrund der gemeinsamen Aus‑ oder Fortbildung –freundschaftlich‑kollegialen Kontakt zwischen Richtern und Rechtsanwälten kein Befangenheitsgrund zu sehen ist, außer der Richter erkläre sich selbst für befangen. Dieser Grundsatz wird – mit den hier vorgegebenen Modifikationen – wohl auch im Verhältnis zwischen Richterkollegen desselben Gerichtshofs zu beachten sein.
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