European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E126537
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1.1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen.
1.2. Bei der Anordnung von Maßnahmen iSd § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (4 Ob 83/18m mwN; RIS‑Justiz RS0048736 [T3]). Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes erforderlich ist (§ 182 ABGB).
1.3. Nach § 107 Abs 2 AußStrG (idF KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15) kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch vorläufig einräumen oder entziehen.
1.4. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG (idgF) schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen, etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens, notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind in dem Sinn reduziert, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (9 Ob 61/16k; RS0129538).
2.1. Die Entscheidung, ob und welche vorläufige Maßnahme zur Förderung des Kindeswohls erforderlich ist und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, ist grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Daher kommt ihr keine erhebliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu, sofern dabei ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde und keine leitenden Rechtsprechungsgrundsätze verletzt wurden (1 Ob 57/19t; 3 Ob 9/18x; RS0130780 [T3]; RS0115719 [T5]; RS0007101 [T12, T13, T17, T18]).
2.2. Eine solche Fehlbeurteilung, die vom Obersten Gerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit oder der Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden müsste, liegt hier nicht vor.
2.3. Der Mutter wurde als vorläufige Maßnahme iSd § 107 Abs 2 AußStrG die Obsorge ganz entzogen, weil nach dem als bescheinigt angenommenen Sachverhalt dem Kind im Fall seiner Rückkehr in deren Haushalt körperliche und seelische Gewalt drohe. Schon im Rekursverfahren erklärte die Mutter, den vorläufigen Entzug der Obsorge in den Teilbereichen Erziehung und Betreuung sowie im Teilbereich Bestimmung des Aufenthaltsorts in Wien zu akzeptieren. Auch in ihrem Revisionsrekurs wendet sie sich ausschließlich dagegen, dass ihr die Obsorge nicht nur in den genannten Teilbereichen, sondern zur Gänze entzogen wurde. Die von den Vorinstanzen konstatierte Gefährdung durch Misshandlung und Quälen des Kindes sei durch den Betreuungs- und Aufenthaltswechsel weggefallen. Der Entzug der Obsorge in den anderen, von der festgestellten Kindeswohlgefährdung nicht betroffenen Bereichen samt dem Verlust der damit verbundenen Bestimmungs-, Informations- und Kontrollrechte sei daher überschießend.
2.4. Bei der Anordnung von Maßnahmen iSd § 181 Abs 1 ABGB ist zwar der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. § 107 Abs 2 AußStrG (idgF) erlaubt eine vorläufige Obsorgeentscheidung aber nach Maßgabe des Kindeswohls unter anderem zur Schaffung von Rechtsklarheit (1 Ob 57/19t). Entgegen der Ansicht der Revisionsrekurswerberin, die vor allem mit der fehlenden Kindeswohlgefährdung in Bezug auf die von den Tatbeständen der körperlichen Gewalt und des psychischen Quälens nicht betroffenen Teilbereiche der Obsorge argumentiert, kommt es daher auf eine solche akute Gefährdung des Kindeswohls nicht an. Erforderlich und hinreichend ist vielmehr die Förderung des Kindeswohls (vgl 1 Ob 57/19t [Kindeswohlförderung statt Gefahrenabwehr]). Das Rekursgericht vertrat die Auffassung, hier sei es dem Kindeswohl förderlicher, die gesamte Obsorge in einer Hand vereint zu lassen, weil die mit den anderen Teilbereichen der Obsorge verbundenen Vertretungshandlungen ein erhebliches Konfliktpotenzial zwischen den Eltern in sich trügen und die Austragung derartiger Konflikte dem Kindeswohl widerspreche. Diese Rechtsansicht ist hier angesichts der aus dem bescheinigten Sachverhalt abzuleitenden besonders starken psychischen Belastung des Kindes auch in Fällen einer nur mittelbaren Konfrontation mit der Mutter nicht korrekturbedürftig. Aus dem Blickwinkel des Kindeswohls steht dieser Beurteilung auch der von der Revisionsrekurswerberin als unverhältnismäßig gerügte Verlust von Auskunfts- und Kontrollrechten in anderen wichtigen Angelegenheiten nicht entgegen; schließlich bleibt deren Informations- und Auskunftsrecht nach § 189 ABGB idF KindNamRÄG 2013 (vgl 3 Ob 130/17i) grundsätzlich aufrecht.
3. Mangels einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG ist der Revisionsrekurs daher unzulässig und zurückzuweisen.
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