European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00137.18X.0507.000
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei aufgetragen.
Die Rekurskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.
Begründung:
Der 55‑jährige Ehegatte der Klägerin war am 13. 6. 2017 auf seinem landwirtschaftlichen Anwesen ab etwa 12:30 Uhr bei einer Temperatur von ca 30° C mit Mäharbeiten beschäftigt. Gegen 13:40 Uhr brach er zusammen und stürzte etwa 30 Meter über eine steil abfallende Wiese auf einen Feldweg. Trotz sofortiger erster Hilfe durch seinen Sohn und rascher notärztlicher Versorgung verstarb der Ehegatte der Klägerin. Neben einem Herzinfarkt kommen als Todesursache ein akuter Lungeninfarkt, ein Schlaganfall oder auch eine Hirnblutung in Frage. Sekundär könnten auch weitere innere Verletzungen durch den Absturz zum Tod geführt haben. Eine Obduktion wurde nicht vorgenommen. Es gibt keine Hinweise, dass der Ehegatte der Klägerin im Herzbereich vorbelastet war. Selbst unter den Belastungen, denen er im Unfallszeitpunkt ausgesetzt war, sind Reaktionen wie Schlaganfall, Gehirnschlag, Herzinfarkt oder Lungeninfarkt keine typischen Folgen dieser Belastung. Eine genaue Aussage über die tatsächliche Ursache des Todes des Ehegatten der Klägerin kann nicht getroffen werden.
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 12. 10. 2017 lautet:
„B E S C H E I D
Das Ereignis vom 13. 6. 2017 wird als Arbeitsunfall anerkannt.
Der Teilersatz der Bestattungskosten und die Gewährung einer Witwenrente werden abgelehnt.
Rechtsgrundlage der Entscheidung: [§§ 148c, 149n, 149o BSVG]
BEGRÜNDUNG
Ihr Gatte, Herr …, ist am 13. 6. 2017 verstorben. Das Feststellungsverfahren hat ergeben, dass der Tod nicht Folge des Arbeitsunfalls war.
Ihr Gatte verstarb an einem Herzinfarkt.
Die Gewährung des Teilersatzes der Bestattungskosten und der Witwenrente waren daher abzulehnen.“
Mit ihrer fristgerecht gegen diesen Bescheid eingebrachten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung einer Witwenrente gemäß § 149o BSVG im gesetzlichen Ausmaß ab 13. 6. 2017 sowie den Teilersatz der Bestattungskosten gemäß § 149n BSVG. Die Beklagte habe im angefochtenen Bescheid das Ereignis vom 13. 6. 2017 als Arbeitsunfall anerkannt, der Tod des Ehegatten der Klägerin sei Folge dieses Arbeitsunfalls gewesen.
Die Beklagte stellte außer Streit, dass das Ereignis vom 13. 6. 2017 als Arbeitsunfall anerkannt worden sei. Der Ehegatte der Klägerin sei jedoch aufgrund eines Herzinfarkts verstorben, der nicht Folge dieses Arbeitsunfalls gewesen sei, weshalb der Klägerin die von ihr begehrten Leistungen nicht gebührten.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stehe nicht fest, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein durch Arbeit und Hitze ausgelöster Herzinfarkt, Gehirnschlag oder Lungeninfarkt zum Tod des Ehegatten der Klägerin geführt habe, sodass der Tod des Ehegatten der Klägerin nicht auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge. Es hob das angefochtene Urteil des Erstgerichts auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an dieses zurück. Die Beklagte habe das Ereignis vom 13. 6. 2017 im angefochtenen Bescheid als Arbeitsunfall anerkannt. Sie sei daran gemäß § 71 Abs 2 ASGG gebunden. Es bedürfe daher keiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Arbeitsunfall Ursache des Todes des Ehegatten der Klägerin gewesen sei. Das Verfahren erweise sich jedoch zur Klärung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen als ergänzungsbedürftig.
Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage, ob die Bindungswirkung des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG auch dann eintrete, wenn im Spruch des Bescheids das Vorliegen eines Arbeitsunfalls anerkannt, in seiner Begründung jedoch die sich daraus ergebende Leistungsverpflichtung abgelehnt werde, Rechtsprechung fehle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der von der Klägerin beantwortete Rekurs der Beklagten, mit dem die Beklagte die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, er ist auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
Die Rekurswerberin führt aus, dass § 71 Abs 2 ASGG bezwecke, den Versicherten davor zu schützen, im Gerichtsverfahren insbesondere im Hinblick auf die ihm im angefochtenen Bescheid zuerkannten Leistungen schlechter gestellt zu werden als im Verwaltungsverfahren. Der Klägerin wurden im angefochtenen Bescheid keine Leistungen zuerkannt, sodass sie durch das Urteil des Erstgerichts nicht schlechter gestellt sei als durch den angefochtenen Bescheid. Aus dem Bescheid ergebe sich, dass der verstorbene Gatte der Klägerin zwar einen Arbeitsunfall erlitt, dass aber sein Tod nicht Folge dieses Arbeitsunfalls gewesen sei. Denn als Unfall sei der Sturz des Ehegatten der Klägerin 30 m über eine steil abfallende Wiese auf einen Feldweg anzusehen. Eine auf diesen Sturz zurückzuführende Körperschädigung sei jedoch nicht festgestellt. Die Auslegung des § 71 Abs 2 ASGG durch das Berufungsgericht habe eine vom Gesetzgeber nicht intendierte Besserstellung der Klägerin im gerichtlichen Verfahren gegenüber dem Verwaltungsverfahren zur Folge.
1. Zentral stellt sich im vorliegenden Fall die Frage der Auslegung des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG. § 71 Abs 2 ASGG lautet seit der ASGG‑Novelle 1994, BGBl 1994/624 (Hervorhebung durch den Senat): „(2) Nach der Einbringung der Klage in einer Sozialrechtssache nach § 65 Abs 1 Z 1, 6 oder 8 ist die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen; der Versicherungsträger hat gegenüber dem Kläger – trotz des Außerkrafttretens des Bescheides – seine als unwiderruflich anerkannt anzusehende Leistungsverpflichtung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig weiter zu erfüllen. Als unwiderruflich anerkannt sind auch das Vorliegen eines Arbeits(Dienst)unfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.“
2.1 Voranzustellen ist zunächst, dass nach der Rechtsprechung nur eine in den Spruch eines Bescheids aufgenommene Feststellung Bindungswirkung im Sinn der in § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG normierten Anerkenntnisfiktion haben kann (RS0036948 ua). Der bloß in der Begründung eines ablehnenden Bescheids vom Versicherungsträger geäußerten Ansicht kommt keine derartige Bindungswirkung für das gerichtliche Verfahren zu (10 ObS 319/01m SSV‑NF 15/129 = RS0089217 [T2]).
2.2 Der Spruch des angefochtenen Bescheids enthält in seinem ersten Satz entgegen § 182 Z 3 BSVG (iVm § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG in seiner am 31. 12. 2013 geltenden Fassung, BGBl I 2010/111) keine Feststellung, dass der Tod des Gatten Folge eines Arbeitsunfalls war, sondern (lediglich) das Anerkenntnis der Beklagten, dass „das Ereignis“ vom 13. 6. 2017 ein Arbeitsunfall war. Allerdings lehnt die Beklagte im zweiten Satz des Bescheidspruchs die Gewährung des Teilersatzes der Bestattungskosten und einer Witwenrente ab. Diese Leistungen haben zur Voraussetzung, dass der Tod des Ehegatten der Klägerin Folge eines Arbeitsunfalls war.
2.3 Für die Interpretation eines Bescheids ist sein objektiver Erklärungsinhalt nach seinem Wortlaut maßgeblich (10 ObS 3/17i SSV‑NF 31/22 = RS0114922 [T2] mwH; VwGH Ra 2015/12/0080, Rz 22 mwH). Aus der Begründung des Bescheids wird unzweifelhaft deutlich, dass die Beklagte – in Übereinstimmung mit dem zweiten Satz des Spruchs des Bescheids – davon ausgeht, dass der Tod des Ehegatten der Klägerin nicht Folge des Arbeitsunfalls vom 13. 6. 2017 war, sondern ein Herzinfarkt Ursache des Todes gewesen sei.
3.1 Folgt man dem Wortlaut des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG – und dem ganz ähnlichen Wortlaut der korrespondierenden Bestimmung des § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG – so wäre für die Bejahung der Anerkenntnisfiktion dieser Bestimmung maßgeblich, ob der Spruch eines Bescheids – wie im vorliegenden Fall – die Feststellung enthält, dass „ein Arbeitsunfall (oder eine Berufskrankheit) vorliegt“.
3.2 Die Formulierung des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG steht allerdings in Widerspruch zu § 367 Abs 1 Z 2 ASVG (auch in dessen – insofern unveränderter – am 31. 12. 2013 geltenden Fassung) sowie zu § 65 Abs 2 Satz 2 und § 82 Abs 5 ASGG, wonach der Versicherungsträger – und entsprechend auch das Arbeits‑ und Sozialgericht – die Feststellung zu treffen hat, dass „eine Gesundheitsstörung (oder wie hier: ein Todesfall, vgl 10 ObS 123/12d SSV‑NF 27/33; 10 ObS 82/13a SSV‑NF 27/49) Folge eines Arbeitsunfalls (bzw einer Berufskrankheit) ist“.
4.1 § 71 ASGG regelt die Wirkungen einer Klage auf den im Verfahren vor dem Versicherungsträger ergangenen Bescheid, der mit der Klage bekämpft wird. Das System der sukzessiven Kompetenz erfordert, dass mit der rechtzeitigen Erhebung der Klage bei Gericht (oder einem Sozialversicherungsträger, § 84 ASGG) der mit der Klage bekämpfte Bescheid im Umfang der Anfechtung außer Kraft tritt (§ 71 Abs 1 ASGG; RS0085713). Im Interesse der Rechtssicherheit ist davon auszugehen, dass der Bescheid möglichst weit durch die Klage betroffen ist und außer Kraft tritt (RS0084896; RS0086568 [T2, T3]).
4.2 Im System der sukzessiven Kompetenz ist das Verfahren vor dem Arbeits‑ und Sozialgericht kein kontrollierendes Verwaltungsverfahren. Vielmehr hat das Gericht den geltend gemachten Anspruch selbständig und unabhängig vom Verfahren des Versicherungsträgers zu beurteilen (Neumayr in ZellKomm³ § 65 Rz 3 mwH). Konsequenterweise wäre es in diesem System möglich, dass das Gericht der klagenden Partei auch eine schlechtere Leistung zuerkennt als der Versicherungsträger mit dem angefochtenen Bescheid zuerkannt hat.
4.3 Auch der Oberste Gerichtshof vertrat zu § 71 Abs 2 ASGG in der Stammfassung BGBl 1985/104 die Rechtsansicht, dass dem Gesetz ein Verbot der reformatio in peius nicht entnommen werden könne. Der Ansicht Kudernas (Vorläufige Leistungen des Versicherungsträgers nach dem ASGG, in FS Schnorr [1988] 381 [385]), im Wege eines dem Versicherten gegenüber abgegebenen und von diesem angenommenen Anerkenntnisses des bescheidmäßigen Anspruches ein Verbot der reformatio in peius abzuleiten, folgte der Oberste Gerichtshof nicht (10 ObS 155/87, SSV‑NF 2/42; krit R. Müller, 'Reformatio in peius' im Leistungsstreitverfahren? DRdA 1991, 189; umfassend dazu Fink, Die sukzessive Zuständigkeit in Sozialrechtssachen [1995] 494 ff).
5.1 Der Gesetzgeber griff die im Schrifttum geäußerte Kritik auf. In der Stammfassung (BGBl 1985/104) trug § 71 Abs 2 ASGG dem Versicherungsträger (wie bereits zuvor § 384 Abs 2 ASVG in der StF BGBl 1955/189) lediglich auf, dem Kläger diejenige Leistung, die Gegenstand der Klage war, bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig insoweit zu gewähren, als dies dem außer Kraft getretenen Bescheid entsprach. Mit der ASGG‑Novelle 1994 positivierte der Gesetzgeber den Lösungsansatz Kudernas mit der Fiktion des „unwiderruflichen Anerkenntnisses“ im neu gefassten § 71 Abs 2 ASGG (Fink, Sukzessive Kompetenz 499).
5.2 Die Gesetzesmaterialien führen umfangreich zu dieser Novellierung aus (ErläutRV 1654 BlgNR 18. GP 25):
„1. Derzeit wird im Rahmen der Rechtsprechung auch die Rechtsansicht vertreten, dass infolge des Außerkrafttretens des Bescheides nach dem § 71 Abs 1 ASGG ein gerichtliches Urteil für den Versicherten auch weniger günstig sein darf als der außer Kraft getretene Bescheid (Zulässigkeit der 'reformatio in peius'); mit anderen Worten: das gerichtliche Urteil könnte dem Versicherten – im Gegensatz zum außer Kraft getretenen Bescheid – überhaupt nichts oder weniger zusprechen (SSV 25/164).
Handelt es sich um einen Leistungsbescheid, so könnte der Versicherte ein solches, für ihn nachteiliges Urteil nur dadurch vermeiden, dass er seine Klage zurückzieht; in diesem Fall muss nämlich der beklagte Versicherungsträger binnen vier Wochen einen 'Wiederholungsbescheid' erlassen, mit dem dem Versicherten wiederum jene Leistung zuzusprechen ist, die ihm der außer Kraft getretene Bescheid zugesprochen hatte (§ 72 Z 2 lit c ASGG).
Gegen diese Konstruktion spricht schon der Umstand, dass sie dem Versicherten die Möglichkeit nimmt, im Instanzenzug seinen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, will er nicht das Risiko eingehen, im Falle seines Unterliegens nicht einmal das zu erhalten, was ihm mit dem außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannt worden ist.
Abgesehen davon kann gegen eine Zulässigkeit der reformatio in peius ins Treffen geführt werden, dass der Versicherte mit der Erhebung der Klage ausschließlich eine Verbesserung seiner Rechtslage im Vergleich zu jener anstrebt, die mit dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid eingetreten ist.
Schließlich kann in einer Zulässigkeit der reformatio in peius ein Widerspruch zum geltenden § 71 Abs 2 ASGG gesehen werden, wonach der Versicherungsträger dem Kläger die mit dem außer Kraft getretenen Bescheid zuerkannte Leistung bis zur rechtskräftigen Beendigung des sozialgerichtlichen Verfahrens 'vorläufig' (weiter‑)zugewähren hat.
Es wird daher – insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit vorgeschlagen, dass ein Bescheid, mit dem einem Versicherten eine Leistung zuerkannt wird, die Wirkung eines dem Versicherten gegenüber abgegebenen und von diesem insoweit angenommenen Anerkenntnisses des Versicherungsträgers haben soll, sodass diesem die rechtswirksame Bestreitung des von ihm im Bescheid zuerkannten Anspruchs im Prozess (jedenfalls) verwehrt wäre; das Gericht soll daher dem Kläger 'zumindest' die im Bescheid zuerkannte Leistung zuzusprechen haben (Abs 2 erster Satz erster Halbsatz; vgl. auch Kuderna, Kommentar zum Arbeits‑ und Sozialgerichtsgesetz, Anm 4 zum § 71 ASGG, S 382 f).
Vergleichbares soll auch bezüglich der Feststellung eines Unfallversicherungsträgers gelten, wonach ein Arbeits(Dienst)unfall oder eine Berufskrankheit vorliegt (Abs 2 zweiter Satz).
2. Die im Abs 2 erster Satz erster Halbsatz enthaltene Wendung '… als … unwiderruflich anerkannt anzusehen' wird durch den Abs 3 eingeschränkt.
Bezüglich der Feststellung, dass ein Arbeits(Dienst)unfall oder eine Berufskrankheit (Abs 2 zweiter Satz) vorliegt, kommt eine 'Änderung der Verhältnisse' nicht in Betracht, weshalb aus Gründen der Rechtssicherheit der Abs 2 zweiter Satz auch im Fall des Abs 3 (weiter‑)gelten soll (der Abs 3 zitiert nur den Abs 2 erster Satz).
3. Die Wirkung des Anerkenntnisses erstreckt sich freilich nur soweit, als nach dem außer Kraft getretenen Bescheid eine Leistungsverpflichtung bzw ein Arbeits(Dienst)unfall oder eine Berufskrankheit gegeben ist. …“
6.1 Im Schrifttum wird die Bestimmung des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG idF der ASGG‑Nov 1994 wegen des schon dargestellten Widerspruchs zu den § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG, §§ 65 Abs 2 Satz 2 und 82 Abs 5 ASGG als problematisch angesehen (Neumayr in ZellKomm³ § 71 ASGG Rz 4 aE; ihm folgend Kohlegger, Zu den Besonderheiten von Bescheidklage und Verfahren, in Wachter/Burger, Aktuelle Entwicklungen im Arbeits‑ und Sozialrecht 2013, 315 f).
6.2 Kuderna (ASGG2 § 71 Anm 6b) beruft sich auf den seiner Ansicht nach eindeutigen Wortlaut des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG und führt aus, dass im Bescheid nicht notwendig auch die Feststellung enthalten sein müsse, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit sei. Es müsse im Entscheidungstenor lediglich das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ausgesprochen sein.
6.3 Fink (Sukzessive Kompetenz 508) vertritt hingegen, dass eine Harmonisierung all dieser Bestimmungen geboten sei. Es sei daher davon auszugehen, dass als unwiderruflich anerkannt im Sinn des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG nicht das „Vorliegen eines Arbeitsunfalls“ gelte, sondern die Feststellung, dass eine (tatsächlich vorliegende) Gesundheitsschädigung Folge eines solchen Unfalls (oder einer Berufskrankheit) sei, sofern im Spruch des außer Kraft getretenen Bescheids eine solche Feststellung enthalten gewesen sei.
7. Der Oberste Gerichtshof setzte sich mit der mit § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG korrespondierenden Regelung über die Folgen der Rücknahme der Klage, § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG idF der ASGG‑Nov 1994, ausführlich in der Entscheidung 10 ObS 10/11k, SSV‑NF 25/18 (s auch 10 ObS 88/11f) auseinander. Nach § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG hat der Versicherungsträger im Fall der Zurücknahme der Klage durch den Versicherten in Rechtsstreitigkeiten, in denen das Vorliegen eines Arbeits‑(Dienst‑)unfalls strittig ist, einen Bescheid zu erlassen, der dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht. Der Oberste Gerichtshof führte in der Entscheidung 10 ObS 10/11k dazu aus, dass von § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG jene Bescheide erfasst sind, in denen die Zuerkennung von Leistungen abgelehnt und zugleich die (spruchmäßige) Feststellung getroffen wurde, dass eine (tatsächlich eingetretene) Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls ist. In diesen Fällen tritt mit der Erhebung der Klage auch diese Feststellung im angefochtenen Bescheid außer Kraft, weshalb im Fall der Klagerücknahme ein „Wiederholungs‑Feststellungsbescheid“ zu erlassen ist (Pkt 3.3). Im Wiederholungsbescheid hat der Versicherungsträger gemäß § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG neuerlich (nur) die Feststellung zu treffen, dass die festgestellten Gesundheitsstörungen Folge eines Arbeitsunfalls sind (Pkt 4.1). Nur in den Spruch des angefochtenen Bescheids aufgenommene Feststellungen können nach dessen Außerkraftsetzen durch die Erhebung der Klage gemäß § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG als fingierte Anerkenntnisse „weiterbestehen“ (Pkt 2.1).
8. Daran ist auch im vorliegenden Fall festzuhalten. Für den in Satz 1 des Bescheidspruchs enthaltenen Ausspruch, dass „das Ereignis vom 13. 6. 2017“ „als Arbeitsunfall anerkannt“ werde, fehlt es wie ausgeführt an einer gesetzlichen Grundlage in den für den beklagten Versicherungsträger maßgeblichen Verfahrensbestimmungen (§ 182 Z 3 BSVG iVm § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG [aF]). Die §§ 71 und 72 ASGG sind für die Gerichte maßgeblich, nicht aber für das Leistungsverfahren vor den Versicherungsträgern. Sowohl im gerichtlichen Verfahren (§ 82 Abs 5, § 65 Abs 2 Satz 2 ASGG), als auch im Leistungsverfahren (§ 367 Abs 1 Satz 2 ASVG, hier iVm § 182 Z 3 BSVG) ist jedoch, wie dies der Oberste Gerichtshof auch in 10 ObS 10/11k für den vom Versicherungsträger zu erlassenden Wiederholungsbescheid ausgeführt hat, die Feststellung zu treffen, dass eine Gesundheitsstörung (bzw– wie hier – der Tod) Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist (RS0084069; RS0084077). Nur eine solche Feststellung in einem Bescheid eines Versicherungsträgers kann daher – wie Fink (Sukzessive Kompetenz 508) zutreffend ausgeführt hat – von der in § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG normierten Anerkenntnisfiktion umfasst sein. Dies steht auch im Einklang mit dem sich aus § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG, §§ 82 Abs 5 und 65 Abs 2 Satz 2 ASGG ergebenden Umkehrschluss, dass eine Gesundheitsstörung nicht Folge eines Arbeitsunfalls oder Berufskrankheit sein kann: In einem solchen Fall liegt zwar ein Arbeitsunfall (eine Berufskrankheit) vor, der aber keine Gesundheitsstörung zur Folge hat.
9. Ergebnis: Als unwiderruflich anerkannt im Sinn des § 71 Abs 2 Satz 2 ASGG gilt (nur) die im Spruch eines Bescheids des zuständigen Unfallversicherungsträgers gemäß § 367 Abs 1 Satz 2 ASVG (hier: iVm § 182 Z 3 BSVG) enthaltene Feststellung, dass eine bestimmte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist.
10. Ausgehend davon erweist sich das Berufungsverfahren als ergänzungsbedürftig. Denn es bleibt strittig, ob der Tod des Ehegatten der Klägerin Folge des Arbeitsunfalls vom 13. 6. 2017 war. Die Klägerin hat in ihrer Berufung auch den Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung geltend gemacht. Damit hat sich das Berufungsgericht – ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht – bisher nicht auseinandergesetzt. Dem Rekurs war daher Folge zu geben und die Rechtssache an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt stützt sich auf §§ 50, 52 ZPO iVm § 2 ASGG.
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