European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E124696
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Die am * 2008 geborene N* ist das Kind des Antragsgegners und der Antragstellerin, deren Ehe am * 2011 gemäß § 55a EheG geschieden wurde. Im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarten die Eltern gemeinsame Obsorge mit hauptsächlichem Aufenthalt des Kindes bei der Antragstellerin; dem Antragsgegner stand ein Kontaktrecht zu.
Rechtliche Beurteilung
1. Die Antragstellerin verließ, nachdem der Antragsgegner am 1. 6. 2015 einen Antrag auf Übertragung der Alleinobsorge an ihn gestellt hatte, im August 2015 mit dem Kind Österreich und zog nach Polen, wo das Kind in weiterer Folge etwa acht Monate lang lebte. Mit (im Instanzenzug bestätigten) Beschluss vom 16. 12. 2015 übertrug das Pflegschaftsgericht dem Vater, der bereits die Rückführung des Kindes nach dem Haager Übereinkommen vom 25. 10. 1980 über die zivilrechtlichen Ansprüche internationaler Kindesentführung (HKÜ) beantragt hatte, die Alleinobsorge. Wie das Rekursgericht im Obsorgeverfahren zutreffend ausführte, bestand für diese Entscheidung im Hinblick auf Art 10 Brüssel IIa-VO internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte, hatte die Antragstellerin doch widerrechtlich in die (gemeinsame) Obsorge des Antragsgegners eingegriffen (6 Ob 170/16t EF‑Z 2017/33 [Nademleinsky] = iFamZ 2017/35 [Fucik]). Unabhängig von der Frage, ob die Rückholung des Kindes durch den Antragsgegner von Polen nach Österreich am 12. 4. 2016 ein widerrechtliches Verbringen iSd Art 10 Brüssel IIa-VO war, weil derartige Formen des Selbstvollzugs der Sorgerechtsübertragung nicht hinnehmbar sind (so ausdrücklich Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR4 IV [2015] Art 28 Brüssel IIa-VO Rz 8), war aber jedenfalls ab 1. 6. 2017 (wieder) internationale Zuständigkeit des österreichischen Pflegschaftsgerichts gegeben, hatte die Antragstellerin doch ihren ursprünglichen Antrag auf Rückführung des Kindes nach dem HKÜ am 1. 6. 2016 zurückgezogen und hielt sich das Kind zu diesem Zeitpunkt (wieder) bereits seit einem Jahr in Österreich auf (siehe Art 10 lit b ii Brüssel IIa-VO), wo es noch heute beim Antragsgegner lebt.
2. Für die Entscheidung des polnischen Amtsgerichts Czestochowa vom 18. 1. 2018, mit der festgestellt wurde, dass sich der Wohnort des Kindes „jedes Mal“ (gemeint: ständig) bei der Antragstellerin befindet, und deren Vollstreckbarerklärung die Antragstellerin begehrt, war somit internationale Zuständigkeit polnischer Gerichte nicht gegeben (dies gilt auch für die im außerordentlichen Revisionsrekurs behauptete Übertragung der Obsorge an die Mutter am 29. 8. 2017 durch das polnische Amtsgericht). Nach Art 24 Brüssel IIa-VO darf die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats bei Anerkennung bzw Vollstreckbarerklärung (Rassi in Fasching/Konecny² V/2 [2010] Art 24 EuEheKindVO Rz 1; ebenso Garber in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 24 Brüssel IIa-VO Rz 2) dessen Entscheidung allerdings nicht überprüft werden.
3.1. Nach Art 28 Abs 1 Brüssel IIa-VO werden in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ergangene Entscheidungen über die elterliche Verantwortung für ein Kind, die in diesem Mitgliedstaat vollstreckbar sind und die zugestellt worden sind, in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt, wenn sie dort auf Antrag einer berechtigten Partei für vollstreckbar erklärt wurden. Die Entscheidung muss dabei der verpflichteten Partei der zu vollstreckenden Entscheidung, also demjenigen, gegen den sich die Vollstreckung richten soll, vor Vollstreckbarentscheidung zugestellt worden sein (Rassi aaO Art 28 Rz 21; Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR4 IV [2015] Art 28 Brüssel IIa-VO Rz 19; vgl auch EuGH 14. 3. 1996, C-275/94 [Roger van der Linden/Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik] EU:C:1996:101 [ErwG 15]). Da mit der Entscheidung des Amtsgerichts Czestochowa in die Obsorgerechte des Antragsgegners eingegriffen wurde und das Kind tatsächlich auch bei ihm lebt, ist der Antragsgegner jedenfalls als jene Person anzusehen, gegen den sich die Vollstreckung richten soll; die Entscheidung war ihm somit zuzustellen.
3.2. Das Vorliegen der Voraussetzung einer Zustellung ergibt sich im Einzelfall aus Punkt 9.2. der nach Art 37 Abs 1 lit b Brüssel IIa-VO zwingend vorzulegenden Bescheinigung nach Art 39 Brüssel IIa-VO (Anhang II; Rassi aaO Rz 21). Sie lag hier – worauf das Rekursgericht seine Antragsabweisung stützte – zwar nicht bereits bei Antragstellung vor (Punkt 9.2. der von der Antragstellerin vorgelegten Bescheinigung des Amtsgerichts Czestochowa vom 9. 5. 2018 lautet: Ist die Entscheidung der Partei, gegen die vollstreckt werden soll, zugestellt worden: „nein“; auch im außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragstellerin wird nichts Gegenteiliges behauptet). Allerdings entspricht es herrschender Auffassung, dass der Nachweis der Zustellung im Vollstreckbarerklärungsverfahren auch noch nach Ausstellung der Bestätigung bzw nach Antragstellung erbracht, also nachgeholt werden kann (Rassi aaO Rz 23 mit zahlreichen Nachweisen aus der Literatur; Rauscher aaO Rz 20), worauf die Antragstellerin im Revisionsrekursverfahren ausdrücklich hinweist. Tatsächlich hat das Erstgericht dem Antragsgegner – entgegen Art 31 Abs 1 Brüssel IIa-VO – den Antrag der Antragstellerin auf Vollstreckbarerklärung der Entscheidung des Amtsgerichts Czestochowa samt dieser Entscheidung (sämtliche Unterlagen in die deutsche Sprache übersetzt) zur Äußerung binnen 14 Tagen zugestellt (ON 55).
3.3. Voraussetzung dafür, dass eine zulässige Nachholung des Zustellerfordernisses gemäß Art 28 Abs 1 Brüssel IIa-VO angenommen werden kann, ist, dass „der Schuldner über eine angemessene Frist verfügt, um dem Urteil freiwillig nachzukommen“ (EuGH 14. 3. 1996, C-275/94 [Roger van der Linden/Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik] EU:C:1996:101; Rassi aaO Rz 23; Höllwerth in Burgstaller/Neumayr/Geroldinger/ Schmaranzer, Internationales Zivilverfahrensrecht Kap 41 [2016] Art 28 EuFamVO Rz 14); es reicht somit nicht aus, wenn der Titel zusammen mit dem die Vollstreckbarkeit anordnenden Beschluss zugestellt wird (Rassi aaO Rz 23). Im vorliegenden Fall erfolgte die Zustellung der Entscheidung des Amtsgerichts Czestochowa im Hinblick auf § 26 Abs 2 ZustG am 2. 8. 2018; das Erstgericht entschied am 28. 8. 2018, dem Antragsgegner zugestellt am 6. 9. 2018. Da ein Zeitraum von rund einem Monat für eine Rückführung des Kindes nach Polen als ausreichend und angemessen angesehen werden kann, kann die Abweisung des Antrags auf Vollstreckbarerklärung nicht auf die mangelnde Zustellung der polnischen Entscheidung gestützt werden; darauf hat sich der Antragsgegner auch weder im Verfahren erster Instanz noch im Rekursverfahren berufen.
4. Art 28 Brüssel IIa-VO verlangt zwar die (bloß) abstrakte Vollstreckbarkeit der Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat (dazu Rassi aaO Rz 15 mit zahlreichen Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung), allerdings muss der vollstreckbar zu machende Titel grundsätzlich einen vollstreckungsfähigen Inhalt haben. Dies trifft auf Leistungs-, Unterlassungs- oder Duldungsbefehle zu (Rassi aaO Rz 12; Hausmann, Internationales und Europäisches Familienrecht² [2018] N 134), was im Bereich von Obsorge- oder Kontaktrechtsentscheidungen etwa für Kontaktrechtsregelungen, Herausgabeanordnungen, Verpflichtungen, ein eigenmächtiges Verbringen des Kindes zu unterlassen, zutrifft (Rassi aaO; Hausmann aaO), nicht aber für rechtsgestaltende oder feststellende Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, also etwa eine Obsorgeübertragung (Rassi aaO) oder – wie im vorliegenden Fall – die Bestimmung des Aufenthalts des Kindes bei dem einen oder dem anderen Elternteil. Derartige Entscheidungen sind einer Vollstreckung und damit einer Vollstreckbarerklärung nicht zugänglich (Rassi aaO; Hausmann aaO; vgl auch BGH XII ZB 186/03 [ErwG 42] NJW 2005, 3424).
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