OGH 6Ob170/16t

OGH6Ob170/16t29.11.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Aliya N*, geboren am * 2010, vertreten durch den Vater N* G*, und die Mutter S* A*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter, vertreten durch Dr. Konstantin Pochmarski, Rechtsanwalt in Graz, als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 1. August 2016, GZ 2 R 185/16i‑146, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 14. Juni 2016, GZ 262 Ps 161/14m‑137, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E116930

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

1. Der außerordentliche Revisionsrekurs meint zunächst, es fehle an der internationalen Zuständigkeit des Pflegschaftsgerichts, weil Aliya zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung (vorläufige Übertragung der alleinigen Obsorge an den Vater gemäß § 107 Abs 2 AußStrG) keinen gewöhnlichen Aufenthalt beziehungsweise schlichten Aufenthalt mehr in Österreich gehabt habe. Die Vorinstanzen gingen tatsächlich übereinstimmend davon aus, dass die Mutter mit Aliya Österreich zwischenzeitig verlassen hat, wobei dem Akteninhalt Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, dass sich die beiden in Indien aufhalten könnten.

1.1. Diese Argumentation scheitert jedoch zum einen an Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO, wonach für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das gegenständliche Obsorgeverfahren, in dessen Rahmen die angefochtene vorläufige Entscheidung ergangen ist, ist aber jedenfalls seit 11. 12. 2015 anhängig im Sinn des Art 16 Brüssel IIa-VO, als der Vater den Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge an ihn stellte, und wurde auch noch nicht beendet. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich Aliya und ihre Mutter aber unbestrittenermaßen in Österreich auf. Dabei bleibt das angerufene Gericht auch dann zuständig, wenn das Kind während des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt verlegt (Pesendorfer in Fasching/Konecny² V/2 [2010] Art 8 EuEheKindVO Rz 4; ausführlich Rauscher in Rauscher, EuZPR/EuIPR [2010] Art 8 Brüssel IIa-VO Rz 9).

1.2. Zum anderen ist maßgeblich, dass die Eltern Aliyas in ihrem Scheidungsfolgenvergleich das Weiterbestehen der Alleinobsorge beider (gemeinsame Obsorge) und deren hauptsächliche Betreuung im Haushalt der Mutter vereinbart hatten. Nach Art 10 Brüssel IIa-VO bleiben aber bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, grundsätzlich – das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Übergang der internationalen Zuständigkeit nach Art 10 lit a und b Brüssel IIa-VO behauptet der außerordentliche Revisionsrekurs gar nicht – zuständig.

Nach § 162 Abs 2 ABGB idF KindNamRÄG 2013 hat bei gemeinsamer Obsorge zwar jener Elternteil, in dessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut wird, das alleinige Recht, den Wohnort des Kindes zu bestimmen. Der Justizausschuss (JAB 2087 BlgNR 24. GP , 3 zu § 162 ABGB) stellte aber ausdrücklich klar, dass sich dieser Domizilelternteil im Hinblick auf das Einvernehmlichkeitsgebot des § 137 Abs 2 ABGB um eine Zustimmung des anderen Elternteils zu bemühen und bei Ablehnung nach § 189 Abs 1 letzter Satz und Abs 5 ABGB dessen Äußerung zu berücksichtigen habe, wenn dies dem Wohl des Kindes besser entspreche. „Verletz[e] der Domizilelternteil diese [...] Pflichten, so greif[e] er dadurch widerrechtlich in die Obsorge des anderen Elternteils ein. Hierdurch [werde ...] insbesondere der Tatbestand des widerrechtlichen Verbringens [...] eines Kindes iS des Haager Kindesentführungsübereinkommens [HKÜ] erfüllt.“ Diesen Überlegungen des Justizausschusses hat sich der Oberste Gerichtshof – wenn auch nicht unmittelbar vor dem Hintergrund des HKÜ – bereits ausdrücklich angeschlossen (9 Ob 8/14p EF-Z 2014/104 [Nademleinsky]; 2 Ob 153/14k EF‑Z 2015/11 [Beck]). Auch in der Literatur wird überwiegend die Auffassung des Justizausschusses geteilt, dass jedenfalls die Unterlassung der Verständigung nach § 189 Abs 5 iVm § 189 Abs 1 Z 1 ABGB des ebenfalls mit der Obsorge betrauten anderen Elternteils einen „Sorgerechtsbruch“ im Sinn des HKÜ darstellt (Fucik/Miklau, Aufenthaltsbestimmung, Wohnortwechsel und HKÜ, iFamZ 2013, 31 [33]; Fucik in Deixler-Hübner/Fucik/Huber, Das neue Kindschaftsrecht [2013] 66; Fucik/Miklau, Aufenthaltsbestimmung, Wohnortwechsel und Rückstellung nach dem HKÜ, in Barth/Deixler-Hübner/Jelinek, Handbuch des neuen Kindschafts- und Namensrechts [2013] 165 [174]; Beck, Kindschaftsrecht² [2013] 783; Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB4 ErgBd 1a [2013] § 162 Rz 14; Nademleinsky,EF-Z 2014, 169 [Entscheidungsanmerkung]; vgl auch Kathrein, Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz 2013, ÖJZ 2013, 197 [210]).

Dagegen berufen sich B. Beclin (Die wichtigsten materiell‑rechtlichen Änderungen des KindNamRÄG 2013, Zak 2013, 4 [7]; Neuerungen im Obsorge- und Kontaktrecht, iFamZ 2013, 6 [9]; Zusammenspiel von Obsorge, Betreuung und Informationspflicht nach dem KindNamRÄG 2013, in Gitschthaler,KindNamRÄG 2013 [2013] 195 [209]) und G. Hopf (in KBB4 [2014] § 162 ABGB Rz 6) auf den Wortlaut des § 162 Abs 2 ABGB und meinen, § 189 ABGB stehe systematisch im Abschnitt über „sonstige Rechte und Pflichten“ und könne damit gar kein Obsorgerecht enthalten, weshalb der Wegzug ins Ausland ohne Verständigung zwar ein Verstoß gegen § 189 ABGB, aber nicht widerrechtlich im Sinn des HKÜ sei (vgl auch Fötschl,Ein Beitrag zur Systematik der Sorgerechte nach HKÜ bei Verbringung von Kindern aus und nach Österreich, EF‑Z 2014, 100 [103] mit Überlegungen eher de lege ferenda; ohne eigene Stellungnahme Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 [2015] § 162 Rz 6). Gegen diese Auffassung sprechen aber nicht nur der eindeutig dokumentierte Wille des historischen Gesetzgebers, sondern auch der Umstand, dass die Bedeutung des Domizilelternteils durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (G 152/2015 EF-Z 2016/8 [Khakzadeh-Leiler]) und des Obersten Gerichtshofs (6 Ob 149/16d) in seiner Bedeutung maßgeblich eingeschränkt wurde.

Der hauptsächlich betreuende Elternteil begeht bei gemeinsamer ausgeübter Obsorge somit dann keinen „Sorgerechtsbruch“ im Sinn des HKÜ, wenn er vor dem Verbringen des Kindes ins Ausland mit dem anderen Elternteil das Einvernehmen herstellte oder diesen zwar über seine Absichten informiert hatte, der andere Elternteil aber darauf nicht reagierte (Antragstellung) bzw wenn eine Kontaktaufnahme unmöglich oder untunlich war oder wenn im Falle eines Antrags des anderen Elternteils (§ 107 Abs 3 AußStrG) das Gericht den Umzug genehmigte; ansonsten ist die Verbringung ins Ausland widerrechtlich im Sinn des HKÜ (Gitschthaler in Schwimann/Kodek, ABGB4 ErgBd 1a [2013] § 162 Rz 14). Dass die Mutter vor dem Verlassen Österreichs mit Aliya derartige Bemühungen oder Maßnahmen gesetzt hätte, ist weder aktenkundig noch wird dies im außerordentlichen Revisionsrekurs behauptet (insoweit vergleichbar auch 9 Ob 8/14p).

2. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Mutter, die im gesamten Provisorialverfahren rechtsfreundlich vertreten war, liegt nicht vor. Dass dem Verfahrenshelfer die ergänzende gutachterliche Stellungnahme erst mit dem erstinstanzlichen Beschluss zugestellt wurde, schadet nicht. Die Mutter beziehungsweise deren Verfahrenshelfer konnten sich im Rekurs dazu äußern (vgl RIS-Justiz RS0006048 [T10]).

3. Auch die Überlegungen des außerordentlichen Revisionsrekurses, „die vorläufige Obsorgeübertragung [dürfe] nur als ultima ratio zur Anwendung kommen [...], vorläufige Regelungen dürf[t]en nur dann getroffen werden, wenn ein dringendes Regelungsbedürfnis besteht“, gehen ins Leere. Der Oberste Gerichtshof hat in einem durchaus vergleichbaren Fall (9 Ob 8/14p) bereits klargestellt, dass § 107 Abs 2 AußStrG idF des KindNamRÄG 2013 eine vorläufige Obsorgeentscheidung nun nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, erlaubt; auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls komme es insofern nicht mehr an.

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